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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Jaron Lanier -

In der Rede von Jaron Lanier anlässlich der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gab es Passagen, die ich nicht richtig verstand. Was soll das zum Beispiel heißen: «Big Data schürt die algorithmische Konzentration von Reichtum»? Die Antwort ist einfach: nichts.


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artikel/Aus neutraler Sicht/J_KW_42_200px.png» Big Data, also die Beherrschung oder Verwaltung der immensen Datenströme, kann die Konzentration von Macht und Einfluss fördern, und zwar in wirklich ungeheuren Dimensionen, aber mit Reichtum selber hat dies nichts zu tun, und algorithmisch ist, soweit ich dies überblicken kann, bloß so ein Jargon-Beigabestück, das man von einem Informatiker halt einfach erwartet und das man ansonsten auch in einem Bericht über einen Kebap-Stand unterbringen könnte. Ich hätte ihn gerne algorithmisch gewickelt im Fladenbrot mit alles.

Davon abgesehen ist mir eine Passage ins Auge gestochen, welche sich mit grundlegenden mensch­lichen Eigenschaften oder Verhaltensmustern befasst und im Weiteren dann mit Medien. Ich zitiere: «Die dunkelste meiner digitalen Ängste betrifft das, was ich den „Rudelschalter“ nenne. (...) Nach dieser Theorie sind die Menschen Wölfe, wir gehören zu einer Spezies, die als Individuum oder als Rudel funktionieren kann. In uns ist ein Schalter. Wir neigen dazu uns immer wieder plötzlich in Rudel zu verwandeln, ohne dass wir es selbst bemerken.» Lanier spricht hier vor allem vom Internet und den sozialen Medien, aber diese bringen diese seltsame Eigenschaft ja bloß in voller Pracht zum Leuchten. Das Dilemma ist das andere, dass wir in der Regel noch als Oppo­nen­ten von Rudel­bil­dungen stets ebenfalls im Rudel heulen. Es versteht sich von selber, dass man in Europa und besonders in Deutschland nach den ausführlichen Studien zur Massenpsychologie des Faschismus sensibilisiert ist auf diese spezifische Ausgestaltung des Rudel-Themas oder der Rudelbildung; aber die Geistesgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg lehrt eindrücklich und eindeutig, dass auch die Kritiker sich wieder in Rudeln scharen, wobei ein spezifisches Merkmal die Ausbildung eines eigenen Jargons ist. Ein Informatiker zum Beispiel, der in seinem Vortrag nicht mindestens einmal den Begriff Algorithmus verwendet, ist schlicht undenkbar. Bei den Historikerinnen hat es sich vorübergehend eingebürgert, dass man anstelle von Mythen von Erzählungen oder Narrationen spricht. Und so weiter. Dieses Dilemma ist wirklich allgemein, und in seiner politischen Form ist es das Grunddilemma der Demokratie.

Lanier sagt, dass dieses Rudel-Phänomen uralt sei, was wir auch aus der Ethnologie usw. kennen in der Form von Clans und so weiter; dieses Stammesgefühl sei vielleicht die gefährlichste unserer Sünden, weil sie uns tief im Wesen zersetze. «Die Loyalität zum Rudel wird immer wieder mit Tugend verwechselt, obwohl – oder besonders wenn – Menschen sich selbst als Rebellen sehen. Es tritt immer Rudel gegen Rudel an.» Die bekanntesten und virulentesten Konflikte aus solchen Zugehörigkeiten heraus sind in letzter Zeit nationale und religiöse Auseinandersetzungen; aber im Internet kommen da natürlich sehr schöne neue Möglichkeiten herauf, die vorderhand nur epidemisch ausbrechen in der Form von Shitstorms und so weiter, aber wenn da einmal eine Möglichkeit entsteht, solche Viren kontrolliert einzusetzen, dann sind wir wirklich mit einer neuen Form der Rudel-Problematik konfrontiert.

Aber schließlich gibt es ja nicht nur die Medien, sondern gottseidank auch noch handfeste Interessen und tatsächliche Geld-Milliarden. Und abgesehen davon entsteht im Internet ja nichts Neues, sondern nur das den neuen Umständen angepasste alte Rudelbumsen. Äh, Rudelverhalten. Zum Teil geht es auch nur um den «Trend in den sozialen Netzwerken, die Leute in Gruppen zusammen zu treiben, um sie zu besseren Zielscheiben für das zu machen, was sich heute Werbung nennt», wie Lanier schreibt. Einfach die Kernfrage stellt sich immer akuter: Wie kann ich denn je zu einem selbständigen Individuum werden, wenn der Zwang zum Jaulen mit dem Rudel in mir selber so stark ist?

In der Praxis habe ich kaum Probleme damit, dass ich nicht zu jedem Punkt eine vollständig autonome Meinung habe, das erscheint mir nicht nur unmöglich, sondern auch nicht erstrebenswert. Der Begriff der Gemeinschaft oder der Gesellschaft ist konstituierend für den Menschen als solchen. Beim Rudel, von dem Lanier spricht, geht es aber um Abgrenzungen innerhalb der Gemeinschaft, die auf der Behauptung beruhen, dass das andere Rudel oder alle außerhalb des Rudels schlechter seien. Und das stört mich gewaltig, am meisten eben an mir selber. Als Gegen­stück zu diesem Modell habe ich nur eine Figur, nämlich jene des Dandy. Allerdings muss man, um ein Dandy zu sein, über ordentlich Geld verfügen, und damit ist die Relevanz dieses Entwurfs auch schon wieder stark eingeschränkt. – Daneben habe ich immer den Ansatz verfolgt, dass in absehbarer Zeit solche Rudelbildung überflüssig werden, übrigens nicht zuletzt dank dem Internet; umso erstaunter und auch erboster bin ich, dass alle Sorten der Vertretung von Partikular­interessen, wie das unter anderem auch genannt wird, heute so stolz daher kommen wie noch nie und erst noch dergleichen tun, als ob dies in einer Demokratie sogar etwas Positives wäre, weil dann ja die unsichtbare Hand des Demokratiemarktes unter den verschiedenen Partikular­egoismen schon das richtige Gleichgewicht herstellen würde. Das ist tatsächlich überaus ärgerlich.

Sei’s drum. Neben der Rudelbildung halten wir uns ja immer mal wieder an die zivilisierende Kraft der Herstellung der tatsächlichen Lebensgrundlagen, also an die industrielle Produktion unter den Bedingungen der Globalisierung und der Vollautomation, und hier stehen auch viel mehr Fragezeichen im Raum, als es Antworten gibt. Simpel ist nach wie vor der Bereich des Wirtschafts­wachstums in Entwicklungs- und Schwellenländern, hier gelten nach wie vor die alten Spielregeln. Aber in den entwickelten Gesellschaften und unter den Bedingungen der Staatsschulden- und Währungskrisen ist alles anders. Dass man in den USA überhaupt einen Rückgang der Arbeitslosigkeit und ein Wirtschaftswachstum feststellt, verblüfft mich ebenfalls. Vielleicht handelt es sich bloß um ein Zwischenhoch; andernfalls müsste man feststellen, dass dieses System eine Alternative zu den Jobs in Industrie und Dienstleistungen gefunden hat, möglicherweise durch die Schaffung neuer Sektoren und bezahlter Tätigkeiten, die der allgemeinen Aufmerksamkeit bisher entgangen sind. Letztlich kommt es ja für die Statistiken nur auf die Zahlen an, nicht etwa auf einen allfälligen produktiven oder sozialen Sinn der entsprechenden Tätigkeiten. In der Tat ist die Erfindung sinnloser Beschäftigungen nach wie vor der einzige Wachstumszweig, den ich mir mit meiner beschränkten Phantasie vorstellen kann, selbstverständlich mit Ausnahme gewisser klassischer Wachstumssektoren wie dem Gesundheitswesen oder zum Teil noch der Mikroelektronik oder im Werkstoffbereich, aber damit beschäftigt man kein stehendes Heer von Arbeitslosen. Dagegen habe ich eine mindestens ergänzende Antwort gefunden auf die Frage, weshalb es euch in Deutschland denn so gut gehe, mindestens verhältnismäßig; in der Regel hat man hierfür ja in erster Linie die Schröder-Agenda mit der Kürzung der Sozialversicherungs­leistungen verantwortlich gemacht. Wie weit dies eine Rolle gespielt hat, kann ich nicht beurteilen, aber für das Wachstum Deutschlands seid zu einem hübschen Teil ganz sicher ihr in den neuen Bundesländern verantwortlich, denn hier bestand ein Nachholbedarf, dessen Befriedigung vermutlich gerade in den letzten zehn Jahren auf seinen Höhepunkt kletterte, und zwar vermutlich dadurch, dass nach einer harzigen Anfangsphase nun auch eine steigende Kaufkraft entstand. Das scheint mir eine recht plausible Teil-Erklärung des deutschen Wirtschaftswunders zu sein, wie gesagt: ohne dass mir dafür konkrete und exakte Zahlen vorlägen.

Dagegen muss ich immer wieder grinsen, wenn irgendwelche Politiker oder Zentralbank­gou­ver­neure die Politik des Billiggeldes damit begründen, dass man der Realwirtschaft günstiges Geld zur Verfügung stellen wolle für Investitionen. Nur wo bleiben sie denn, diese Investitionen? Die sind eben nicht von billigem Geld abhängig, sondern von Absatz- und Marktprognosen. Und in ge­sät­tig­ten Märkten kann man noch so viel Geld zur Verfügung stellen, es macht dann letztlich doch nie­mand davon Gebrauch, weil die Märkte eben gesättigt sind. Ich gehe vorsichtshalber mal davon aus, dass auch die Politiker, mindestens die gewitzteren unter ihnen, und die Zentral­bank­gou­ver­neure die­sen eigenen Argumenten kein Quäntchen Glauben schenken. Das sind einfach irgendwelche Flos­keln, um das große Spiel eben um Währungsfragen und Staatsverschuldung mit halbwegs ver­nünf­tig tönenden Garnituren aus der Realökonomie zu verhüllen. Ansonsten: Blödsinn. Dabei wüsste man ja eigentlich ganz gerne, was jetzt tatsächlich hinter dieser Niedrigzinspolitik steckt. Aber vermutlich hetzen auch die Zentralbankgouverneure letztlich einfach nur noch den internationalen Finanzmärkten hinterher. Und wer und was die antreibt, bleibt auch ihnen verschlossen. Das tönt jetzt auf jeden Fall mindestens sehr poetisch und sehr menschlich.

In den letzten Wochen haben wir gesehen, wie die Türken den Islamischen Staat benutzen, um die Kurden militärisch zu schwächen. Ich war bisher davon ausgegangen, dass Erdogan einen Geheimpakt mit dem inhaftierten Kurdenführer Öcalan geschlossen habe, um die Rudelbildung rund um Türken einerseits, Kurden anderseits mittel- und langfristig einer ordentlichen Lösung zuzuführen. Wenn ich mir den Fall Kobani ansehe, kommen mir an dieser Version gewisse Zweifel. Im Gegensatz zu sehr vielen kompetenten Journalisten, die ihr Geld mit ominösen Kata­stro­phen­beschwörungen verdienen, halte ich Kobani nicht für einen derart wichtigen strategischen Posten, dass man daraus allzu viel Aufhebens machen sollte, aber was die Kurdenfrage angeht, so spricht das Verhalten des türkischen Militärs doch Bände. Abgesehen davon weiß ich gar nicht, wer in der Türkei jetzt tatsächlich an der Macht ist. Der Erdogan ist jetzt zwar Staatspräsident, aber meines Wissens wurde bisher noch keine Diktatur ausgerufen, sodass er sich eher auf ein informelles Beziehungsnetz als auf eine tatsächliche umfassende Befehlsgewalt abstützen dürfte. Was mich aber vor allem irritiert, ist die Tatsache, dass die Türkei bekanntlich ein Nato-Mitglied ist. Von Anders Fogh Rasmussen haben wir seit dem Geifern über die russische Einmischung in der Ukraine überhaupt nichts mehr gehört. Was denn nu? Wenn die Nato die russischen Geplänkel rund um Donezk für wichtiger hält als die Offensive des Islamischen Staates, dann steht das aber in krassem Gegensatz zum hysterischen Gekrächze der erwähnten Qualitäts­journalisten. Ich nehme ja schon an, dass die Türkei ein direktes Eingreifen in die Kriegshandlungen so lange wie möglich hinaus zögern will, vielleicht mit dem Hintergedanken, neben den Kurden auch dem ungeliebten syrischen Präsidenten Assad noch eins mehr auswischen zu können. Ob man es für gut hält oder nicht, begreiflich ist so etwas auf jeden Fall. Bezüglich der Kurden dürfte sich eine solche Haltung aber früher oder später rächen, zum einen wegen des Zorns, den die türkische Armee mit ihrer Passivität bei diesem Volk weckt und der mehr oder weniger auf direktem Weg wieder zurück in die Zeit vor Erdogan führen wird. Wenn es in Istanbul kracht, dann lacht man auch in Ankara nicht mehr. Zum anderen wird sich auch in der internationalen Gemeinschaft nach und nach der Verdacht regen, dass die Türkei ein ethnisches Problem wieder einmal durch eine militärische Aktion lösen wolle wie vor hundert Jahren. Dass sie dabei den schmutzigen Teil den mittelalterlichen Horden des Islamischen Staates überlässt, macht die Sache nicht wirklich appetitlicher.


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Albert Jörimann
14.10.2014

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