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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Ein Pudding in Berlin -

Da haben die Berlinerinnen grad noch mal Schwein gehabt, dass die SPD ihren Michael Müller als Nachfolger von Klaus Wowereit bestimmt hat und nicht Raed Saleh, den im Westjordanland geborenen Deutschen palästinensischer Abstammung. Das hätte uns sonst einen rechten Salat gegeben, nachdem die Associated Press letzte Woche gemeldet hatte, dass junge Israeli einen Aufruf zum Exodus nach Berlin lanciert hätten.


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artikel/Aus neutraler Sicht/J_KW_43_200px.png» Angeblich kostet irgendeine Sorte Schokolade­pud­ding in Berlin fast fünf Mal weniger als in Tel Aviv. Das sind mir jetzt mal endlich handfeste und greifbare Migrationsmotive, vor denen jeglicher historischer und religiöser Hintergrund verblasst. Aber vermutlich nimmt dieser Hintergrund wieder Konturen an, sobald sich die jungen Jüdinnen und Juden aller Kontinente tatsächlich nach Berlin aufmachen als dem neuen Jerusalem, wo bekanntlich auch noch zwei, drei Überreste der Klagemauer herum stehen. Die Palästinenser sind eh schon da, wie Figura Saleh zeigt. Da können die dann verhandeln. Von Saleh ist allerdings keine Kriegsrhetorik zu erwarten wie von der Hamas oder von Avigdor Liebermann oder Benjamin Netanjahu; im Rahmen meiner Sofa-journalistischen Recherchen auf Wikipedia habe ich zum Beispiel einen Artikel aus seiner Tastatur im Spiegel gefunden, in welcher Saleh sich mit der Frage beschäftigt, wie man Antisemitismus am besten bekämpft, und das finde auch ich selber eine ur-palästinensische Fragestellung.

In Israel wird die Auswandererkampagne als Fahnenflucht gewertet, als Abfall vom echten Zionismus. Was mich angeht, so empfinde ich sie als Anzeichen einer Entkrampfung. Zum ersten Mal seit langer Zeit wird öffentlich bestätigt, dass eine Jüdin oder sogar ein Israeli auch anderswo leben kann als in Israel. Wahrscheinlich ist das tatsächlich antizionistisch. Und dass sich Jüdinnen und Juden plötzlich ein Leben im Land des Holocausts vorstellen können, das bedeutet auch dann noch einen Tabubruch, wenn die Aufforderung zur Auswanderung vor allem ironisch gemeint war. Für die Deutschen und namentlich für die Berlinerinnen ist dies an und für sich eine positive Nachricht, auch wenn der Tabubruch Deutschland ebenso betrifft wie Israel. Unweigerlich stellt man sich die Frage nach der Dauerhaftigkeit oder der Dauer von Tabus, namentlich wenn ihre Substanz aus sechs Millionen Toten besteht. Die Antwort entzieht sich meiner Zuständigkeit. Das einzige, was ich beisteuern kann, ist meine Beobachtung, dass auch die übelsten Gräuel im Lauf der Zeit, eben: verblassen, und damit verliert auch das Tabu seine Kraft, ganz abgesehen davon, dass man gar nicht darum herum kommt, sich mit den Tätern irgendwie zu arrangieren. Mit den Urenkeln sieht das dann nochmals anders aus.

Jedenfalls kostet der Pudding in Berlin so wenig wie kaum irgendwo sonst in der entwickelten Welt, und das ist vielleicht gut so und vielleicht auch nicht, jedenfalls wird Michael Müller aller Voraussicht nach im Dezember zum Puddingkönig gewählt, und ob Berlin dann weiterhin arm, aber sexy bleibt, das wird sich weisen.

Im Norden von Israel lebt mindestens eine Million Menschen, die sicher auch gerne einen Pudding in Berlin hätten, denen es aber vermutlich schon reichen würde, wenn sie zuhause ihrer Arbeit nachgehen könnten. Man kann sich das vermutlich nicht so richtig vorstellen: Der Libanon zählt eine Bevölkerung von etwas über 4 Millionen Personen, das macht also einen Flüchtling pro vier Einwohner. Auf Deutschland umgerechnet, wären das ungefähr 20 Millionen. Für den Libanon ist das eine derartige Last, dass die Leute dort nicht mal mehr dazu kommen, sich zu beklagen. Dort stellt jedenfalls niemand die Frage, ob es sich um Wirtschaftsflüchtlinge handle oder nicht. Die Grenzen dicht machen liegt ebenfalls nicht drin; die Armee kann sich grad knapp darum bemühen, dass wenigstens die eigentlichen Kampfhandlungen nicht ins Land hinüber schwappen. Noch nicht, auf jeden Fall, denn die sunnitisch-wahabitisch-salafistischen Kriegsverbände werden die schiitischen Bevölkerungsgruppen im Libanon kaum mit Wohlwollen betrachten.

Es ist ein seltsamer Krieg, der sich da in Syrien und im Irak abspielt. Mit Religion hat er offensichtlich nichts zu tun, soviel steht unterdessen fest. Die wahrscheinlichste Variante ist die, dass eine Gruppe aus ehemaligen Armeeoffizieren und Kadern der Saddam-Hussein-Regierung versucht, einen neuen Staat zu bilden aus Syrien und den sunnitischen Gebieten des Irak mit den entsprechenden Verwaltungs- und Wirtschaftsinfrastrukturen. Irgendwann wird man mal einen Waffenstillstand schließen; bis dahin soll eine möglichst große Fläche unter Kontrolle gebracht werden, damit man aus einer ordentlichen Position heraus in die Verhandlungen gehen kann. Wie lange das dauert, hängt vor allem vom Widerstand der Kurden und der offiziellen syrischen Regierung ab. Die offizielle irakische Armee und Regierung dagegen hat man bisher in dieser Auseinandersetzung nicht als ernst zu nehmenden Faktor oder Vektor wahrgenommen.

Es gibt auch noch andere Szenarien, die wir je nach Zunahme ihrer Wahrscheinlichkeit erwägen werden; zwischendurch aber stellen wir uns immer wieder die Frage, ob die USA als selbst erklärte Weltpolizei all diese Entwicklungen wirklich gewollt hat, als der damalige Wilhelm Busch anhand getürkter Geheimdienstdokumente den zweiten Irakkrieg begonnen hat. Unsereins vermutet, dass eher nicht; unsereins vermutet, dass der Vater von Wilhelm Busch es zehn Jahre zuvor wohl nicht ganz grundlos unterlassen hat, Saddam Hussein schon bei dieser Gelegenheit aus dem Amt zu jagen. Aber all die Überlegungen sind schlicht und einfach nichts Wert beim gegenwärtigen Stand der Dinge.

Wenn ich übrigens sage, dass die ganze Geschichte nichts mit Religion zu tun habe, so ist dies nicht die ganze Wahrheit. Der Islam spielt selbstverständlich eine wichtige Rolle bei den Erhebungen gegen den Weltpolizisten. Die Proteste gegen den Vietnamkrieg vor fünfzig Jahren wurden zu einem schönen Teil getragen von sozialistischen und anarchistischen Visionen; heute bietet tatsächlich der Islam eine mächtige Ideologie gegen das Kreuzrittertum, was nicht zuletzt die Faszination erklärt, der ein Teil der empörten Jugend in den westlichen Nationen erliegt. Nach Occupy Wall Street ist jetzt halt der Jihad dran; aber das zugrunde liegende Missbehagen ist zu schönen Teilen dasselbe. Und es versteht sich, dass all die historischen und sachlichen bis hin zu den religiösen Argumenten rund um den Islam hier nicht den geringsten Einfluss auf die Attraktivität der Bewegung haben.

Mit einer gewissen Verblüffung blicken wir dagegen nach Brasilien, wo Aécio Neves im Moment tatsächlich die Nase vorn hat im Wahlkampf gegenüber der amtierenden Präsidentin Dilma Rousseff. Die Fehler von Rousseff und ihrer Arbeiterpartei sind unübersehbar, wobei es sich nicht um Fehler im engeren Sinne handelt, sondern bloß um das politische System in Brasilien; und selbstverständlich profitiert sie nicht mehr vom Schwung, der seinerzeit Präsident Lula ins Amt getragen hat und der zu Beginn von Lulas Amtszeit auch tatsächlich zu wichtigen Reformen geführt hat. Aber muss man deswegen gerade heraus Neves wählen, den Vertreter jener Partei, die mit für all die gewaltig viel größeren Schlamassel der Vorgänger der Arbeiterpartei steht? – Naja, vielleicht ist das Schwellenland Brasilien auch in Bezug auf die demokratische Organisation innerhalb von nur zehn Jahren so weit gediehen, dass es tatsächlich nicht mehr drauf an kommt, wer an der Regierung ist und einen schönen Teil der Steuergelder unter den eigenen Günstlingen verteilt. Wenn das so ist, dann hätte Brasilien tatsächlich einen Zustand erklommen, der mit jenem in den Vereinigten Staaten zu vergleichen ist. Dort stehen übrigens ebenfalls Wahlen an in diesem Herbst, und auch hier sind keinerlei Anzeichen zu erkennen, dass die Klüngel- und Klientelwirtschaft, die Herrschaft der Lobbyisten und der Interessenzirkel irgendwann einmal ein Ende finden würde. Das ist ja übrigens einer der größten Vorbehalte gegenüber der EU-Bürokratie in Brüssel und ein tatsächliches Argument zugunsten der Erhaltung einer gewissen Souveränität der Nationalstaaten gegenüber der Union. Man vermutet nach wie vor, dass man auch in größeren Maßstäben so etwas wie eine demokratische Ordnung einführen könnte müsste; aber die angemessenen Strukturen sind dafür offenbar noch nicht einmal als Ahnung vorhanden.

Habe ich übrigens schon erwähnt, dass ich die dritte Staffel von «Game of Thrones» fertig gesehen habe? Wenn ich jeweils davon spreche, dann rümpfen einige meiner Kollegen die Nase, welche sich mit stark ästhetischen Kriterien in der Welt des Films bewegen. Das kann ich verstehen, die Serie ist wirklich sehr einfach gestrickt, trotz den vielen Handlungssträngen, in welche sie sich unterdessen aufgedröselt hat; eigentlich handelt es sich sowieso bloß um Zitate aus anderen Erzählungswelten, aus dem Herrn der Ringe, aus Highlandern oder anderen schönen Erzählungen. Aber eines kann man doch sagen: Die Art und Weise, wie die Drehbuchautorinnen und Regisseure die Heldinnen und Helden aufbauen und die Geschichte voran treiben, das befriedigt doch ein ganz elementares Bedürfnis der meisten Menschen, ein Bedürfnis nach klaren und einfachen Intrigen, ein Bedürfnis nach Gut und Böse, wobei die Charaktere ja durchaus gekonnt auch vom einen zum anderen wechseln; daneben haben wir hier einfach ein Panoptikum mit Drachen, Zombies und mit der ganzen Auseinandersetzung mit immer wieder etwas neuem Fremden. Die Angst vor dem Fremden und die Orgie an Intrigen, durch welche die paar guten Charaktere der Erzählung pflügen, das ist doch wirklich klasse; und für mich ganz besonders anregend tönt der englische Originalton, von dem ich nicht weiß, ob er nun schottisch ist oder Cockney oder was auch immer. Jedenfalls lässt dieser Originalton auf Schritt und Tritt an die großen Dramen von William Shakespeare denken – und dass die etwa keinen ästhetischen Kriterien entsprächen, habe ich bisher noch von niemandem gehört.


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Albert Jörimann
21.10.2014

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