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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Erheiterung -

Etwas erheitert, weil über den Horizont der alltäglichen Meldungen hinausgehend, hat mich die Nachricht, dass der Islamische Staat, nachdem er jetzt Hand gelegt hat auf ein paar Stützpunkte in Libyen, sich direkt an die Eroberung Italiens machen will. Selten ist dem italienischen Staat ein derartiges Zerrüttungszeugnis ausgestellt worden wie diese Ankündigung, welche eben doch vor­aus­setzt, dass man da mehr oder weniger in einem Spaziergang in den Petersdom einziehen und diesen in eine Moschee umwandeln kann. Das erscheint zunächst mal einfach so blöd, dass man sich ein paar Minuten lang einen ablachen muss, und dementsprechend sind auch die Reaktionen in Italien vorerst pur belustigt.


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artikel/Aus neutraler Sicht/J_KW_09_200px.png» Wartet bloß ab, bis ihr an die Römer Umfahrungsautobahn kommt, die bricht jedem Vorstoß die Spitze, heißt es zum Beispiel, und so hat der Italienerer wohl die angemessene Reaktionsform auf die bescheuerte Drohung gefunden.

Immerhin: Man erkennt schnell, worauf die Propagandaabteilung des IS anspielt, nämlich auf die rasend schnelle Verbreitung des Islams nach seiner Erfindung anfangs des 7. Jahrhunderts nach Christus. Der Propagandaabteilung ist weiter zugute zu halten, dass es durchaus geschickt ist, die Flüchtlingskonvois, die mehr oder weniger ungehindert von Libyens Küsten in Richtung Italien ablegen, als Trägermedien des IS-Virus auszugeben. Tatsächlich ist es nicht auszuschließen, dass hier ein paar Aktivisten mitrudern, die nicht koscher oder nicht halal sind; die italienische Küsten­wache muss in Zukunft aufpassen auf Boote, die in einem seetüchtigen Zustand sind, weil man doch davon ausgehen kann, dass der IS seine Geheimkämpfer nicht auf den üblichen Schrottbooten übersetzen lassen wird, wo stets die Gefahr besteht, dass sie absaufen.

Jedenfalls verschränkt der Islamische Staat so auf ideale Weise zwei Abwehrreflexe in der Festung Europa, eben jenen gegen den IS selber und jenen gegen die Flüchtlinge. Wenn nun in Zukunft alle afrikanischen Seefahrer auf dem Mittelmeer potenzielle IS-Kämpfer sein könnten, dann wird Euro­pa einen richtig tollen Vorwand haben, die ungebetenen Gäste zu internieren und dann zurück­zu­spedieren. Und auch hier beziehungsweise vor allem hier ist die historische Parallele unüber­seh­bar: Im Mittelmeer findet eine Völkerwanderung statt im Umfang von, was weiß ich, vielleicht einer halben Million Menschen pro Jahr. Wie man so viele Leute in den bestehenden Strukturen unter­bringt, einmal unabhängig davon, ob es sich um IS-Soldatinnen handelt oder nicht, davon haben wir noch nicht besonders viel gehört, abgesehen von den humanitären Grundsatz­deklarationen, welche zwar auch ihre Bedeutung und Berechtigung haben, aber eben noch keinen Anhaltspunkt liefern, wie die Neuankömmlinge zu behandeln seien. Wo unsere Sozialstaaten doch schon hinreichend beschäftigt sind mit den Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängerinnen, den Problemen eines extrem ungleichförmigen Wachstums und eines Finanzsektors, auf dessen nächsten Zusammenbruch wir alle gebannt starren. Letzte Woche hat der Dow Jones ein neues Allzeithoch erklommen, und auch Europa bleibt nicht zurück, der DAX stellte per Ende letzter Woche seinerseits einen neuen Rekord auf. In diesen Kursen ist zu fuffzich Prozent Blasius-Geld, also jene Knete, welche die Zentral­ban­ken angeblich zur Ankurbelung der Wirtschaft ausgegeben haben, die aber nur der Wieder­auf­fül­lung der Finanzblase dient, bis sie erneut platzt. Dieser Prozess ist umso faszinierender, als er ein­fach unvermeidlich erscheint, bloß der Zeitpunkt steht nicht fest und kann noch ein paar Jahre auf sich warten lassen, während derer wir es uns wohl ergehen lassen, und anschließend, also bei der nächsten Finanzkrise, werden wieder alle Besserung geloben.

Die Völkerwanderung als Instrument des Islamischen Staates, ein Aufstand von mittelalterlichen Kriegs­fürsten gegen eine sozialdemokratische Gesellschaft, die bequem und unbeweglich geworden ist – so möchte die Propaganda auf beiden Seiten, also auch bei den demonstrierenden Rettern des Abendlandes, die Lage in Europa darstellen. Ich finde das einerseits absurd, muss aber anderseits einräumen, dass sich die Sache durchaus in diese Richtung zuspitzen kann, wenn es nämlich nicht gelingt, mindestens für die Flüchtlingsfrage eine Lösung zu finden. Wie eine solche Lösung aussehen könnte, ist gar nicht besonders schwer zu umreißen: Bis auf jene, welche mehr oder weniger automatisch in den bestehenden Strukturen versickern, muss man den Damen und Herren irgendwelche Möglichkeiten zu einer modernen, meinetwegen sozialdemokratischen Lebens­führung anbieten, das heißt, man muss dezentrale oder regionale Standorte bestimmen, wo die Zuge­reisten sich in so etwas wie Wirtschaftsfaktoren verwandeln, das heißt, wo sie Arbeit gegen Entgelt finden und Einführungen und Aus- und Weiterbildung erhalten. Dabei ist nur darauf acht zu geben, dass sich solche Standorte nicht umgehend in ein Äquivalent der französischen Vorstädte ver­wandeln, aber ansonsten sehe ich keine weiteren Probleme. Man soll, mit anderen Worten, der Frage auch mit einem ökonomischen Ansatz zu Leibe rücken, und vor allem: man sollte es dann halt bei Gele­genheit mal tun.

Vielleicht kommen die Regierungen aber vor lauter Krisenmanagement gar nicht dazu, solche Lösun­gen auszuarbeiten, denn sie müssen ja nebenher noch ebenso dringend den Griecherer klein halten und vor allem irgendwie vermeiden, dass sich in der Ukraine ein echter europäischer Krieg entwickelt. Sagen wir es so: An und für sich wären die Migrationsthemen mit nicht übermäßig viel Auf­wand vernünftig abzuhandeln, aber irgendwie muss man sie nach wie vor an der Bevölkerung vorbei schmuggeln, welche Klartext nun mal nicht verträgt und sich sowieso basisdemokratisch verhält, auch wenn sie gar kein Stimm- und Initiativrecht hat, von der Neupflästerung einer Quar­tier­straße, welche den Lebensraum des bedrohten Steinpilz-Kuckucks zu gefährden droht, über Stromtrassen eben bis hin zur Wahrheit über die Flüchtlingsströme, die da lautet: Wenn wir nicht alle Außengrenzen dicht machen, den Außenhandel einstellen und vor allem alle Urlaubsflüge ab sofort canceln, dann haben wir nicht die Wahl, ob, sondern nur, wie wir diese Flüchtlingsströme handhaben. Aber so etwas darf man ja so einer durchschnittlichen Bevölkerung gar nicht sagen, das würde die sofort umsetzen in eine Volkswanderung in die Allianz für Deutschland hinein, und dann hätten wir erst recht den Salat. – So ungefähr lautet die gängige Angst in der politischen Klasse.

Und auf diese Weise, hat man manchmal den Eindruck, liquidiert sich dieses System tatsächlich von selber, mindestens bis es wieder vor einen echten äußeren Feind gestellt wird, und hier bietet sich der Islamische Staat tatsächlich immer wieder selber an auf alle nur erdenklichen Arten. Er stellt sich selber dar wie eine Karikatur aus einem CIA-Propagandablatt. Aber ob das reicht, um die sozialdemokratischen Gesellschaften auf Dauer in einen handlungsfähigen Körper zusammenzu­schweißen?

Es gibt eine Hypothese, die besagt, dass die moderne Gesellschaft gar nicht zwangsläufig als ganze handlungsfähig sein muss. Vielleicht ist sie gerade deshalb modern, weil sie das nicht mehr tut. Die einen mögen ihre Interessen verfolgen, die anderen die ihren, und solange es in einem Prozess anhaltender Verschiebungen und Verhandlungen immer mal wieder gelingt, gewisse Gleichge­wichte zu halten oder stets wieder neu herzustellen, ist das vielleicht wirklich die Straße in die Zukunft. Beim aktuellen Stand der Produktivkräfte können sich völlig unterschiedliche Präferenzen bis zu einem gewissen Grad völlig frei entfalten, von der Hundezucht über Sadomaso-Zirkel bis zur Volksmusik; wie immer benutze ich die Gelegenheit für mein Ceterum Censeo: einfach bei einem vernünftigen Grundeinkommen. Ein bisschen problematisch ist höchstens noch, dass wir alle keine Ahnung mehr haben davon, woher das Geld kommt, das wir für den Betrieb dieses Gesell­schafts­spiels benötigen, aber solange wir uns an gewisse Spielregeln halten, scheint das niemanden zu stö­ren, zu allerletzt die Wirtschaft selber. Der einzige Bereich, den man hier konsequent weiter kol­lek­tiv beackern muss, ist die Ausbildung, die Ausstattung der gesamten Bevölkerung mit gewissen Grundinstrumenten der Kopfarbeit. Ansonsten eröffnen sich ziemlich faszinierende Freiheits­per­spek­tiven, was heißt da Perspektiven: Ein schöner Teil dieser, vielleicht nicht allzu großen, aber immerhin Freiheiten ist bereits da, und wenn die Menschen beginnen, sie zu nutzen, dann werden die sich sehr schnell ausweiten. Dazu braucht es eben tatsächlich nicht den Gleichschritt der breiten Masse, sondern so ziemlich das Gegenteil.

Bloß im Umgang mit jenen Menschen, die aus anderen Verhältnissen in diese moderne Gesellschaft stoßen, braucht es ein gewisses Geschick. Wie ich gesagt habe, versickert ein gewisser Teil automatisch in den bestehenden Strukturen, über Verwandtschaftsbeziehungen und so weiter, und hier erfolgt die Integration vielleicht nicht unter den allerbesten Bedingungen, aber dafür kon­ti­nu­ierlich und effizient. Und für die anderen muss man halt eben die erwähnten Strukturen schaffen, welche sie möglichst schnell in die moderne Gegenwart führen. Eigenartigerweise erscheint eine geregelte Arbeit mit der damit verbundenen Entschädigung hier als der Mechanismus par excel­lence für die Integration, vermutlich vor allem deswegen, weil beim Entstehen des Entscheids zum Auswandern der entsprechende Mechanismus in den entwickelten Gesellschaften eine zentrale Rolle spielt; er wird dementsprechend auch sofort verstanden und führt offenbar am sichersten in die sozialdemokratisch angeordnete Welt. – Dabei muss es sich ja durchaus nicht um jene Arbeit handeln, welche bei uns den Gegenstand des Gesellschaftsspiels beinhaltet; irgendwelche Bereiche, in denen man eigentlich schon immer mal was unternehmen wollte, finden sich mit Sicherheit zu Hauf, wenn man sich bloß ein bisschen anstrengt, und dort sollen die Einwanderer denn auch anfangen. Und dann so schnell wie möglich in den Genuss irgendwelcher Qualifizierungsangebote kommen, versteht sich.

Eine Lösung in diesem Bereich ist nicht nur absolut obligatorisch, für ihre Ausgestaltung braucht es auch keinen heroischen Analyse-Akt. Unabhängig davon soll sich aber die Gesellschaft insgesamt mal wieder darüber Gedanken machen, wie sich die Menschen organisieren sollen, wenn einmal die Zeit des sozial­demokratischen Wohlfahrtsstaates abgelaufen sein wird. Ein Grundeinkommen ist ja schwer in Ordnung, aber was fangen wir an damit beziehungsweise was setzen wir oben drauf?

Und zum Schluss noch was anderes: Wenn der in diesem Jahr mit dem Oscar preisgekrönte Film Birdman einen etwas anderen Schluss hätte, wäre mindestens mir etwas wohler. So aber hat man wirklich den Eindruck, der Herr Inarritu hätte sich einfach den Anweisungen des Produzenten gefügt, der am Schluss noch zirka 7.5% Zuschauer addieren wollte, die bei einer etwas fantastischeren Variante nicht in der Statistik der Eintritt bezahlenden Besucher aufscheinen würden. So etwas kann man kalkulieren, und genau so wirkt dieser Abgang von Birdman. Das ist schade.




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Albert Jörimann
24.02.2015

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