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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Wenn moderne Kleinkinder zu sprechen beginnen

... dann sind ihre ersten Worte nicht mehr Mama und Papa, sondern Auto und Betonmischmaschine. Die Gründe dafür liegen im Dunkeln, aber die Forschung wird es bald herausfinden, vermutlich liegt es aber in erster Linie daran, dass sich vermehrt die Männer um die Kleinen kümmern und ihnen ihre Präferenzen übertragen, bis die dann auch ihren sprachlichen Ausdruck finden.


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artikel/Aus neutraler Sicht/J_KW_14_200px.png Im Übrigen trifft es ja zu, dass das Kleinkind für Mama und Papa gar keinen operativen Begriff braucht, weil die ja sowieso immer da sind und Milch und Kohle herbei schaffen, ohne dass man ihnen einen Auftrag gibt. Die Milch- und Kohleindustrie kann so als Grundlage der modernen Gesellschaft verstanden werden. Und wenn die Kleinkinder dann größer werden und zur Schule gehen, dann kann man sie fragen, wie viele Male sie schon zur Strafe auf den Gang geschickt wurden, lautet die Antwort: «Bisher erst ein einziges Mal. Aber unser Lehrer hat die Hand gebrochen.» Und wenn man sich nach der Logik dahinter erkundigt, erhält man zur Auskunft: «Er war derart wütend, dass er mit der Faust in die Wand geschlagen hat.» Die schwarze oder Picasso-Pädagogik hat sich mit anderen Worten innerhalb von wenigen Jahr­zehn­ten gegen das Unterrichtspersonal selber gewendet. Demnächst beginnen diese Fachkräfte, sich selber Strafaufgaben aufzubrummen.

Ein Filmtitel, den die Marx Brothers nicht mit einem entsprechenden Film ausgefüllt haben, ist «A Day at the Toilet», also die lustige Darstellung eines dramatischen Durchfalls. Das hat wohl damit zu tun, dass der gesamte Fäkalbereich bisher noch zu den gesellschaftlichen Tabuzonen gehört, über welche man am Laufmeter Späßchen macht wie zum Beispiel, dass er anrüchig sei. Der Grund dafür liegt aber wohl in erster Linie darin, dass man sich selber nicht beim Scheißen zusehen kann. Würde uns der Kopf anders herum auf dem Hals sitzen, sähe die Sache völlig anders aus. Da es aber nun mal so ist, wie es ist, müssen wir darauf warten, bis die plastische Chirurgie nachrückt. Allzu lange dürfte das nicht dauern, denn mit reinen Schönheitsoperationen lassen sich die Fachkliniken bald nicht mehr füllen, weil es auch davon zu viele geben wird, und dann könnten die Menschenverschönerer doch mal neue Optionen anbieten. Vielleicht muss man den Kopf nicht gerade heraus nach hinten festmachen, vielleicht kann man ihn auf so etwas wie ein Kugellager aufsetzen, sofern es gelingt, die Sache mit dem Rückenmark befriedigend zu lösen, und dann hätte man endlich den 360°-Panoramablick, den sich die Menschheit eigentlich schon immer erträumt hat. Was dagegen den Durchfall angeht beziehungsweise seine Dramatisierung, so brauchen wir auf diese Fortschritte durchaus nicht zu warten, das könnte uns eine einfache neue Stilrichtung im Kino erledigen, und vielleicht braucht es nicht mal das, sondern einfach das Einreißen weiterer Tabu­grenzen, nachdem die ja schon in der Sexualität laufend beziehungsweise fliegend oder vögelnd überschritten werden. Allerdings erinnert mich das Getue um die Sadomaso-Story 50 Shadows of Grey daran, dass vor 40 Jahren Filmtitel wie «Emmanuelle» oder die «Histoire d’O» ziemlich mächtig Kinokasse machten, vielleicht ist das mit den Tabuzonen doch nicht so exakt eingrenzbar, wie man behauptet.

Dafür habe ich einen anderen Film gesehen, einen russischen, und zwar einen neuen, der von der Kritik bereits mit Lob und Lorbeer überhäuft wurde, wie ich im Nachhinein festgestellt habe, und, wie ich ebenfalls im Nachhinein sagen kann, völlig zu Recht, denn der Regisseur Zwjagintsew macht aus der Geschichte eines mittelständischen Automechanikers, der vom System in der Form des Regionalgouverneurs zur Schnecke gemacht wird, eine ganz große Kiste. Es ist auch eine Kiste, welche sämtliche Vorurteile bezüglich Russlands bestätigt, insbesondere im Bereich der Schuld, den Zwjagintsew praktisch unverändert von Tolstoi und Dostojewski übernommen hat; das Unheil hat zwar einen Namen, nämlich eben diesen unsäglichen Gouverneur, aber dahinter steckt eben noch etwas anderes, und das ist im Prinzip gar nicht die Zentralregierung, sondern das muss schon die Hand Gottes sein, irgendwie, welche allein die Verstrickungen und platten Lügen der Behörden erklärbar macht. Der Regionalbischof der orthodoxen Kirche salbt dann noch seinen Senf oben drauf, und das ergibt ein derart prächtiges Porträt, allerdings ein ungeheuer schweres, belastendes Porträt, inklusive aller weiteren Zugaben wie zum Beispiel fünfzig Hektoliter Wodka, aber eben trotzdem prächtig, dass man sich gerade heraus fragt, wie das denn möglich sei, dass in Russland jemand so einen Film dreht. Einen Film, welcher derart schonungslos den Alltag der Regional­poten­taten darstellt, dass er in einem gewissen Sinne Ähnliches leisten könnte wie vor hun­dert­zwanzig Jahren das Stück «Die Weber» von Gerhart Hauptmann. Weshalb lässt Putin diesen Regisseur nicht einfach erschießen?, denkt sich unsereiner und nimmt als Antwort jene Szene, in welcher der Regionalgouverneur dem Jugendfreund des Automechanikers die Knöpfe einmacht; der wird dann letztlich eben auch nicht erschossen, er kommt davon und rennt auch davon, zurück nach Moskau, so schnell wie nur möglich. Auch dies ein Motiv, das wir aus der russischen Literatur zu Genüge kennen.

Übrigens spielt das Stück an der Barentsee, unter anderem mit Schiffs- und Walfischskeletten, und ich habe schon lange keine derart karge und eben doch lebendige Landschaft gesehen. Der Ort des Geschehens, ein Dorf oder Städtchen, liegt an einer Bucht beziehungsweise an so etwas wie einem Fjord, und das Meer spielt seine Leviathan-Rolle durchaus unspektakulär, aber effizient.

Schwere Kost, wie gesagt, ein unentrinnbares Schicksal, wobei der Filmtitel mit dem Verweis auf den biblischen Hiob dann doch noch einen Hinweis gibt auf einen glücklicheren Ausgang der Geschichte, denn besagter Hiob wurde bekanntlich nach seinem Komplettabsturz ebenso komplett rehabilitiert und lebte anschließend noch 140 Jahre lang gesund im Kreis seiner Nachkommen. Davon ist aber am Ende des Films durchaus nicht die Rede. Und wenn die Marx Brothers posthum ihren Film A Day at the Toilet in dieser Kulisse drehen täten, so wäre eher Verstopfung als Durchfall das Leitmotiv.

Dagegen erscheint das Gezerre um die griechischen Staatsschulden als absolut geeignet für die Marx Brothers, bloß «ein Tag auf dem Scheißhaus» wäre den Realitäten nicht ganz angemessen – das dauert jetzt doch seit fünf Jahren, also lange genug, dass man ein gewisses Mitleid entwickelt mit den BenutzerInnen dieses griechischen Krüppelstaates, den halt auch eine linke Regierung nicht innerhalb von drei Monaten zu einem modernen Organismus mit funktionierenden Institutionen umgestalten kann. Wenn sie es überhaupt wirklich will, aber das unterstelle ich jetzt mal. Jedenfalls wiegen zwei Elemente schwer in der Waagschale zugunsten von Griechenland: einerseits die Grie­chen­hetze von Kai Diekmann und seines persönlichen Toilettenhäuschens, der Bild-Zeitungs-Jauche­grube, wobei Kai Diekmann zu allem Überfluss noch im Aufsichtsrat der größten türkischen Tageszeitung Hürriyet sitzt – ich hätte die Türken hier für sensibler gehalten, muss ich schon sagen. Zum zweiten ist es diese Oberlehrer-Haltung, mit welcher die Griechen im Moment von den Europäischen Instanzen und natürlich in erster Linie von eurem rollenden Finanzminister herunter­geputzt werden. Bei allem Verständnis für harte Kritik an Griechenland vergessen wir nämlich nicht, dass die Verschuldung sehr prominent auch dazu diente, die Exporte der deutschen Industrie zu finanzieren, inklusive des ganzen Karussells von Profiten und Arbeitsplätzen und Löhnen, und wir vergessen auch nicht, dass die aktuelle Verschuldungslandschaft von Griechenland bereits um alle Kredite der Privatbanken bereinigt ist; die eigenen Bankenschnösel, welche zweifelsfrei eine Mitverantwortung an ebendieser Verschuldungslandschaft tragen, die entlastet man mit öffentlichen Mitteln, um auf der anderen Seite die Griechen schon fast hohn­lächelnd noch weiter in den Schmutz zu treten. Das ist nicht schön.

Gleichzeitig ist es auch nicht schön, mit uneinlösbaren Versprechen in einen Wahlkampf zu gehen, wie dies die Syriza nun mal getan hat. Man könnte das durchaus als selbstmörderisch bezeichnen. Ein Teil des Schlamassels besteht offenbar darin, dass nicht mal mehr die einfachen Leute Steuern bezahlen, weil die Syriza während den Wahlen dagegen gestänkert hat. Und wenn man das Land in seinem aktuellen Status retten will, also eben mit den Banken und Unternehmen und all dem Karsumpel, den man halt hat, inklusive Euro, dann erscheint der bisher eingeschlagene Weg durchaus nicht der richtige. Wenn es nur darum geht, vom Joch der Troika und dem Druck des Euro loszukommen, dann muss man die Schuldenzahlungen tatsächlich einstellen, aber gleichzeitig eine neue eigene griechische Währung vorbereiten. Vielleicht hat das Tsipras in der Zwischenzeit ja getan, wer weiß; so etwas kann man nicht ein halbes Jahr im Voraus ankündigen, so etwas muss man einfach machen, die Banknoten drucken, die Vermögenswerte festlegen, Umtauschsätze und so weiter. Wenn Syriza die Zeit dafür genutzt hat, dann hat sie sicher nicht das Schlechteste getan. Wenn aber nicht, dann war die bisherige Vorführung tatsächlich noch schlechter als die der Vorgängerregierung – Sozialprogramme und Staatsjobs ankündigen, die man dann nicht bezahlen kann, weil kein Geld da ist, so funktioniert das ja nicht. Das wäre tatsächlich ein Anzeichen dafür, dass am linken Rand der Sozialdemokratie und darüber hinaus nicht mal mehr ein bisschen Sachverstand zu finden ist, was Staats- und Wirtschaftsfragen angeht. In dieser Version wäre das einzige Verdienst von Syriza, dass sie die Sache schneller zum Kollaps getrieben hätte, als dies einer anderen Regierung je gelungen wäre. Und dass sich die europäischen Instanzen dann nicht nur ein ganz klein bisschen schämen werden, das steht fest, weil sie nämlich mit ihren Kreditscheinen noch so lange herum wedeln können, sie werden ebenso wenig einbringen wie die Staatspapiere aus vergangenen Konkursen von Argentinien.

Wer sich allerdings von der ganzen Affäre nicht so besonders betroffen fühlt, der kann sich jetzt zurücklehnen und diesen ganz sicher zentralen Akt in der griechischen Tragikomödie in vollen Zügen genießen. Sowas gabs noch nie. Noch nicht mal der Ausgang ist klar, das heißt, die Fragen bleiben sperrangelweit offen, noch bevor der Vorhang zu ist. Beziehungsweise die Klappe gefallen ist. Die Marx Brothers hätten auf jeden Fall einen Mordsspaß daran.




Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
31.03.2015

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