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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - EU -

Eben, in einem Monat wird gewählt in Europa, und das ist doch ein geeigneter Anlass, um sich wieder mal ein paar Gedanken zu machen über die Verfassung des Kontinentes.


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artikel/Aus neutraler Sicht/J_KW_15_200px.pngBegonnen hat die ganze Sache mit der ehrenwerten Absicht, dafür zu sorgen, dass es auf europäischem Boden nie mehr einen Krieg gibt, was in erster Linie auf der wirtschaftlichen Ebene zu garantieren war, indem die Länder künftig miteinander statt gegeneinander arbeiten sollten. Da die Zeiten nach dem Zweiten Weltkrieg ohnehin Zeiten des massiven Wirtschaftswachstums waren, einerseits dank den enormen Investitionen in den Wiederaufbau und anderseits dank der explosionsartigen Entfaltung der Konsumgesellschaft, entstanden auf dieser Ebene ohnehin keine Probleme, weil die Volks­wirt­schaf­ten zwar im nationalen Rahmen, aber ansonsten praktisch unbeschränkt expandieren konnten. Der Ausbau der Wirtschaftsunion zur politischen Union erfolgte zum Schluss dieser Wachs­tums­phase, in einer Zeit, in welcher die Wirtschaft zur echten Weltwirtschaft wurde, das Finanzkapital sämtliche regulatorischen Fesseln sprengte und der Ostblock sich auflöste. Obwohl die neue Euro­päische Union in der Praxis erst mal so richtig zum Europa der Konzerne wurde, erschien sie als politische Zukunftsform für die gesamte Bevölkerung, und ihr Potenzial bestätigte sich eindrücklich mit der Osterweiterung und mit der Vereinheitlichung aller möglichen Standards im Innern. Dazu gehörte später auch die Einführung des Euro in einem Teil der Mitglied­länder.

Irgendwie hat es nicht so richtig geklappt mit der politischen Zukunft, mindestens noch nicht. Als erstes erwies sich die Einheitswährung als problematisch für die südlichen Länder Europas. Die Finanzkrise ließ echte Konstruktionsprobleme auch auf der Ebene der Staatsverschuldung hervortreten, ganz abgesehen von den Stabilitätskriterien, welche es den einzelnen Nationen fast unmöglich machen, sich am eigenen Schopf aus ihren jeweiligen Sümpfen zu ziehen. Wirtschaftlich beobachten wir heute Ungleichgewichte innerhalb der EU, die es so noch nie gegeben hat, und das war eigentlich nicht der Zweck der Übung. Das Hauptproblem liegt aber dort, dass es nie gelungen ist, das Gebilde zum Träger einer gemeinsamen europäischen Identität werden zu lassen, und eine solche Identität scheint trotz aller Globalisierung der Wirtschaft und der Gesellschaften nach wie vor ein notwendiges Übel zu sein. Es gibt keinen europäischen Mythos.

Ganz einfach ist das auch nicht. Identitätsstiftende Mythen gibt es vielleicht rund um frühere Imperien, zum Beispiel die Griechen oder die Römer oder meinetwegen das Karolingerreich oder das Heilige Römische Reich deutscher Nation; es mag sie geben für den skandinavischen Raum, es gibt sie ganz offensichtlich für die britischen Inseln; im Osten beziehungsweise im Balkan sind wir diesbezüglich etwas weniger stark entwickelt, aber jedenfalls ist mir bisher kein Ansatz bekannt, welcher das gesamte Europa umfasst. Das gab es früher, zur Zeit des Kalten Krieges, als Versuch, eine einheitliche Identität gegen den Ostblock zu stiften, aber schon damals blieb diese Angele­gen­heit die Sache weniger behämmerter Ideologen. Also müsste man so etwas heute schaffen, ganz egal, auf welcher Grundlage; aber es gibt keine Ansätze dafür. Der Hauptgrund dafür liegt selbst­verständlich bei den einzelnen Mitgliedstaaten, welche sich nicht von ihren eigenen Mythen trennen können beziehungsweise keine Anstrengungen unternehmen, ihre eigenen Mythen auf die eine oder andere Art in einen europäischen Mythos einzufügen. Sie registrierten seit Gründung der EU nicht nur ohne Begeisterung das Schrumpfen ihrer Zuständigkeitsbereiche; sie betrieben immer stärker Innenpolitik mit mehr oder weniger ausgeprägten anti-europäischen Untertönen. Auch in Deutschland, welches gegenwärtig als der große Profiteur der jüngsten Entwicklung gilt, wird jederzeit gerne auf die EU geschossen. Immerhin hat die dümmste antieuropäische Partei, die AfD, den Einzug ins Parlament nicht geschafft, und die Sticheleien, vor allem auf regionaler Ebene, dürften nicht übertrieben ernst gemeint sein, aber trotzdem ist auch hier die Skepsis gegenüber dem Brüsseler Apparat riesig.

Abgesehen davon ist diese Skepsis natürlich begründet; die Eigendynamik dieser mehr oder weniger reinen Bürokratie ohne richtigen eigenen Staat ist schon beeindruckend, vor allem mit den Heerscharen an Lobbyisten, die man bald nicht mehr mit Mücken vergleichen kann, welche das Licht umtanzen, sondern eher umgekehrt. Anderseits ist diese Eigendynamik halt auch zwingend und entsteht erst recht dadurch, dass die Mitgliedstaaten eben ihre Innenpolitik sehr stark als Anti-Europa-Innenpolitik formulieren. Nur so kann dieser extraterritoriale Raum überhaupt entstehen und fortbestehen.

Und jetzt? – Man kann davon ausgehen, dass die wirtschaftlichen Interessen stark genug sind, um einen Zerfall der EU zu verhindern, aber die zentrifugalen Kräfte haben mindestens so lange Auftrieb, wie kein Wachstum einsetzt, das jenem in den siebziger und achtziger Jahren vergleichbar wäre, und solange kein europäischer Mythos gestiftet wird. Ein solcher Mythos hat aber nur dann eine Chance, wenn die Hauptstadt Europas beziehungsweise das Verwaltungsgebilde mit dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission spürbar zum Instrument im Dienste der Bevölkerungen wird und mit ihnen zu interagieren beginnt. Wie dies konkret auszusehen hat, kann ich sowieso nicht bestimmen, und ich weiß es auch nicht so genau; aber mindestens so etwas wie ein Europa-Referendum müsste es geben, bei dem sich alle BewohnerInnen der EU in gewissen Abständen zu bestimmten Themen äußern könnten, sowie eine echte EU-Verfassung, in welcher die Grundrechte auf dem ganzen Kontinent einheitlich und verbindlich, also einklagbar festgelegt werden.

Andere Elemente laufen mehr oder weniger nebenher, zum Beispiel das Gefälle zwischen Grie­chen­land, Bulgarien und Rumänien und dem Rest der EU, das nicht nur die Wirtschaft betrifft; allerdings liegen hier auch die größten Potenziale für ein Wachstum im klassischen Sinne, sofern die EU sich nicht mit einer postmodernen Ostpolitik alle Chancen auf einen normalen Verkehr mit den Ländern weiter östlich und insbesondere mit Russland verdirbt. Es gibt Regionalismen, welche den alten Nationalstaaten entgegen laufen und die natürlich von der gesamteuropäischen Idee ebenso beflügelt werden, wie sie die betroffenen Nationalstaaten in Aufregung versetzen, und ich meine damit jetzt nicht diese famose Meinungsumfrage in der italienischen Region Veneto, wo sich vermutlich weit über 150 Prozent der EinwohnerInnen für eine Abtrennung von Italien au­s­ge­spro­chen haben. Ein echtes Problem betrifft die Struktur der sozialen Sicherung, welche nach wie vor in der Kompetenz der einzelnen Staaten liegt und dementsprechend unglaubliche Unterschiede aufweist. Ich habe an dieser Stelle bereits einmal erwähnt, dass hier ein struktureller Gegensatz entstanden ist zur Personenfreizügigkeit, also zur Ausdehnung der bedingungslosen Bewegungs­frei­heit der EU-BürgerInnen auf den gesamten EU-Bereich. Nationale Sozialversicherung und freie inter­na­tio­nale Migration vertragen sich grundsätzlich nicht, auch wenn man dieses Problem mit verschiedenen Mechanismen mindestens vorübergehend lösen kann.

Und dann kommt wieder der schöne Bereich der Strukturpolitik an die Oberfläche. Nach der Rege­lung der Montanindustrie, die ganz am Anfang der EU stand, war EU-Strukturpolitik über lange Zeit hinweg Agrarpolitik; der ganze Finanz-, Industrie- und Dienstleistungskuchen blieb grosso modo sich selber überlassen beziehungsweise eben den Großkonzernen. Die Agrarpolitik dürfte sich unter­des­sen erledigt haben, wogegen die Strukturpolitik in allen anderen Bereichen zum Imperativ wird, und zwar sowohl innerhalb der EU als auch gegenüber außen. Innerhalb vermag nur eine korrekte Strukturpolitik das Auseinanderklaffen zwischen Ländern und Regionen zu verhindern. Welche Sorte von Industrie wo angesiedelt wird, darauf muss die EU entscheidend Einfluss nehmen. Ein Gleiches gilt eben für die umliegenden Regionen; ich werde nicht müde zu wiederholen, dass die EU nicht ihre Stacheln gegen den Osten ausfahren sollte, mehr oder weniger als wirtschaftlicher Arm der NATO, sondern im Süden, in Nordafrika eben Strukturpolitik betreiben sollte. Auf jeden Fall wird eine solche Politik Verlierer schaffen bei gewissen Mitgliedstaaten; diesen muss man Alternativen anbieten. Vor allem aber wird es Gewinner geben. Über die Begleiterscheinungen und Maßnahmen braucht man sich hier keine großen Gedanken zu machen, nur soviel: Solange die Per­so­nen­freizügigkeit bestehen bleibt, werden die Menschen in etwa den Arbeitsangeboten nach­reisen, solange das aktuelle System der Zirkulation von Konsumgeld über Erwerbsarbeit bestehen bleibt. Was dagegen ein echtes Problem ist, das ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker in der Form der demokratischen Partizipation. Strukturpolitik kann man auf dieser Grundlage nicht betreiben. Zu diesen Themen können zunächst keine Referenden abgehalten werden. Sollte es einmal so weit kommen, dass man in der gesamten EU über die Grobstruktur diskutieren kann, dann wäre dies ein unglaublicher Schritt, ein Quantensprung in Richtung einer wirklich supranationalen Gesellschaft.

Historisch gesehen sind die größten Identitätsschübe den Kriegen zu verdanken. Ich bin nicht sicher, ob die Menschen in Europa diese Entwicklungsphase bereits hinter sich gelassen haben. Von den materiellen Grundlagen her sind Kriege seit längerer Zeit überflüssig, aber das will noch nichts heißen. Verbohrter Nationalismus zum einen, verdeckte Wirtschaftskriege zum anderen, soziale Ungleichheiten zum dritten und vor allem eine anhaltend verbreitete Dummheit im gesamten Volkskörper können jederzeit zum Aufflackern von Kriegsgelüsten führen. Die Ukraine scheint im Moment so etwas wie ein Testlauf zu sein, ob man solche Emotionen gegen den Erbfeind Russland kanalisieren könnte. Im Moment sieht es zwar überhaupt nicht danach aus; abgesehen von der Nato-Führungsspitze ist wohl keine größere europäische Nation bereit, mit Panzern nach Moskau zu ziehen. Dafür spreizen sich Nationalismus und Fremdenfresserei in einem Ausmaß, das vor zehn Jahren noch ganz und gar unerhört erschien. Es hat sich halt auch einiges verändert in den letzten zehn Jahren, ohne dass in der Öffentlichkeit eine analytische Diskussion dieser Veränderungen stattgefunden hat. Das lässt viele Menschen intellektuell und emotional recht rat- und heimatlos zurück. Auch hier besteht eine riesige Nachfrage, eine Nachfrage nach intelligenten Analysen, welche sich vollständig von herkömmlichen Denkschemata befreien müssen.



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Albert Jörimann
08.04.2014

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