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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - EU-Juncker -

Schwer zu sagen, ob Martin Schulz zu laut gebrüllt hat oder ob die Wahl des Bürokraten Jean-Claude Juncker zum Präsidenten der EU-Kommission letztlich doch eine Kräfteverschiebung bedeutet zugunsten des Europaparlamentes gegenüber der Kommission, indem neu tatsächlich das Parlament über die Besetzung des Spitzenpostens entscheidet und nicht mehr die Mitgliedstaaten bzw. ihre Regierungschefs.


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artikel/Aus neutraler Sicht/J_KW_30_200px.pngDas ist jedenfalls die Version, welche Schulz nun in der Öffentlichkeit vertritt. Im Rückblick war seine eigene Kandidatur wohl zum Vornherein aussichtslos, da sich zu keinem Zeitpunkt eine Mehrheit für die sozialistisch-sozialdemokratische Fraktion im Parlament abgezeichnet hatte, einmal abgesehen von seinem Makel, ein Vertreter des ohnehin schon stärksten EU-Mitglieds zu sein. Trotzdem hatte seine Kampagne ihre Meriten, und deshalb wurde er zu Recht als Parlamentspräsident bestätigt. Nämlich hat Schulz die Stärkung der parlamentarisch-demo­kra­ti­schen Kompetenzen in der EU gefordert, und dies ist offensichtlich der einzige Weg, das aktuelle Bürokratenkonstrukt zu einem tatsächlich europäischen Organ weiter zu entwickeln.

Wenn dies nämlich nicht geschieht, dann verwässert sich die EU relativ bald zu einer rein tech­ni­schen Normierungsorganisation, wie es sie für Architektur, Elektrizität, Luftfahrt und so weiter schon länger gibt. Ein politischer Arm dafür ist ziemlich überflüssig. Strukturfonds für schwache Länder und Regionen sowie supranationale Förderprojekte lassen sich auch ohne das Brüsseler Brimborium organisieren. Oder dann halt nicht, dann wird das Schicksal dieser Weltgegenden halt wieder den Kräften des freien Marktes überlassen anstatt jenen der freien Korruption. In Bulgarien hat vor einem Monat eine mächtige Interessengruppe das Land fast in eine eigene nationale Bankenkrise getrieben, ganz ohne Not, bloß weil sie einer anderen Interessen­gruppe das Wasser abgraben wollte; so war das eigentlich nicht gedacht mit der Osterweiterung. Umgekehrt muss man einräumen, dass die Lage ohne die Mitteleinschüsse der EU vielleicht noch verdorbener wäre, und dass in einem armen Land wie Bulgarien solche Hilfsgelder nicht einfach nach den gleichen Mechanismen verteilt werden wie in den reichen Ländern mit ihren ebenfalls reichen Traditionen an Klassen- bzw. Verteilkämpfen mit den daraus gewonnenen Mechanismen und Praktiken, dürfte wohl allen einleuchten. – Ein Gleiches gilt übrigens für all die Vorwürfe wegen Korruption und schlechter Administration gegenüber zahlreichen Ländern in Afrika: Man kann von den zuständigen Staatschefs und Beamten einfach nicht erwarten, dass sie sich verhalten wie Albert Schweitzer, weil sie sich nämlich ihrerseits nicht auf ein europäisches Hinterland beziehen können, das ihnen wenn nötig Spendengelder und andere Unterstützung angedeihen lässt.

Diesen Spagat muss die EU in ihrem Innern ebenfalls leisten, wenn auch die Grundlagen in Ost­eu­ropa wesentlich besser sind als in den jüngsten afrikanischen Ländern, aber bis zur tatsächlichen Beseitigung von Filz und Korruption beziehungsweise bis zur Umwandlung von Filz und Kor­rup­tion in eine moderne Form, also in Verwaltungspraxis und entsprechende Gesetze, dauert es halt nochmals ein paar Jahrzehnte. Und damit die EU diese Jahrzehnte auch tatsächlich überlebt in der geplanten Form, braucht sie die Stärkung der europäischen demokratischen Institutionen wie die Luft zu Atmen, wie dies vor dreißig Jahren Michail Gorbatschow im Rahmen der Perestroika gesagt hat. Putin würde ihn dafür wohl in den Knast stecken. – Nein, das war jetzt ein billiger Scherz, Russland ist ja formal eine Demokratie, einfach eine gelenkte Demokratie, in welcher sich das Volk seit dem Kollaps der sowjetischen Strukturen noch nicht dazu aufgerafft hat, neue und eigen­stän­dige Interessen- oder Klassenvertretungen auszubilden, welche dann unter dem Titel der Volks­mei­nung oder der Mehrheit die entsprechenden Auseinandersetzungen um Macht und Einfluss in der Gesellschaft führen. – Und davon abgesehen können wir uns nach den Europawahlen ja wieder zurücklehnen und das Thema dann in vier Jahren wieder hervorholen, wenn die alten Wahl­ver­spre­chen neu aufgelegt werden. Bis dann werden wir auch wissen, ob die nationalistische anti­euro­pä­ische Rechte weiterhin wächst oder ob sie nicht durch die Kraft des Faktischen wieder auf den Stand vor 2013 zurückgeworfen wird. Und bis dann werden wir auch wissen, ob die nächste Finanz­krise erst nach den nächsten Wahlen eintritt oder schon vorher und ob sich das Krisen­mana­ge­ment zu einer neuen Form der Politik entwickelt. Mit Demokratie hat das dann allerdings nichts mehr zu tun, weder im europäischen noch im nationalen Rahmen.
Am Wochenende habe ich an einer der unzähligen Openair-Filmvorführungen endlich den Film «Angel's Share» von Ken Loach gesehen, und ich kann melden, dass ich dabei gleichermaßen Vergnügen wie Missvergnügen empfunden habe. Das erste Erlebnis in diesen Filmen aus der britischen Underdog-Szene ist immer wieder die Sprache, die ich dank der deutschen Untertitel inhaltlich verstehe und dank der Originalsprache in ihrem vollen klanglichen Reichtum be­zie­hungs­weise der unmittelbaren Reduktion auf das Wesentliche mitkriege, welche das englische Englisch seit Wilhelm Speerschüttel auszeichnet. Hier war das Englisch zwar vermutlich nicht besonders englisch, indem der Film im schottischen Glasgow spielt, woraus sich ableiten lässt, dass im Film selber Schottisch gesprochen wird; aber das geht natürlich locker auf in irgend eine der Subsorten, welche zum Englisch-Spektrum zählen und die ja auch schon Meister Shakespeare bunt zu mischen pflegte. Der Plot mit dem Beutezug auf ein singuläres Single-Malt-Fass in den schottischen High­lands macht Spaß, keine Frage, und in punkto Besetzung und Schnitt und eben Dialogführung braucht man Meister Loach eh nix vorzumachen.

Dagegen werden meine Einwände immer massiver gegen die Gesamtszenerie, in welcher Ken Loach und seine Kumpels ihre Filme ansiedeln, und zwar nun auch schon seit dreißig Jahren. Seit dreißig Jahren rücken diese Regisseure eine junge männliche Hauptfigur ins Zentrum, die keine Chancen, aber einen tollen Charakter und eine ordentliche Portion an Klugheit und Witz besitzt, was jeweils die Entwicklung einerseits des Plots erlaubt, welcher ganz gegen alle Wahr­schein­lich­keit und gegen sämtliche Umfeldparameter zum Erfolg führt, und anderseits die Entwicklung eben der Umfeldbeschreibung, welche mit ebenso aussichts- wie arbeitslos recht präzise beginnt und dann mit der Darstellung von fast schicksalhafter Gewalt seit dreißig Jahren eine unverändert beschissene britische Gesellschaft zeigt. Und das, meine Damen und Herren, ist mir jetzt nach dreißig Jahren Sozialkritik beziehungsweise negativem Sozialkitsch einfach über. Es ist gar nicht möglich, dass die englische, schottische oder britische Gesellschaft insgesamt so ein Scheißhaus ist. So erscheint sie bloß im Blick ganzer Generationen von Soziologen, welche sich keine Rechen­schaft ablegen über ihre eigenen Kriterien. Nein, echt, ich habe die Schnauze voll von dieser Hoffnungslosigkeits-Epiphanie, welche neben den technischen Fähigkeiten bei der Herstellung in erster Linie ein sozialliberales Publikum bestätigt in seinen Weltbildern, die seit dreißig Jahren, also seit dem Amtsantritt von Lady Margaret Thatcher, unverändert die gleichen geblieben sind. Das ist falsch. Hallo – aufwachen! Andere Filme drehen und anschauen, bitte!

In der Woche davor wurde meine Aufmerksamkeit zwangsläufig vom Abschuss eines Passagier­flug­zeugs über den von den Separatisten kontrollierten Gebieten der Ukraine gefesselt. Ich bin zwar nicht in der Lage, hierzu wesentliche neue Einsichten beizubringen; einmal gilt für alle Aussagen im Moment sowieso, dass sie politisiert beziehungsweise polarisiert sind, dass also noch die wahrste aller Wahrheiten gleichzeitig eine Propagandalüge ist. Interessant scheint mir dagegen die Ten­denz, die Emotionen vor allem der europäischen Öffentlichkeit nach Möglichkeit zu drosseln, was ich als ebenso angenehm wie verwunderlich empfinde, da man sich doch sonst in vergleich­ba­ren Situationen keinen Zwang antut. Offenbar hält man sich an die Einsicht, dass aus dem Vorfall in keiner möglichen Variante ein politischer Gewinn heraus geschlagen werden kann, noch nicht ein­mal mit Leichenschändern oder mindestens Plünderern rund um die Absturzstelle. Wir haben für einmal wieder den ukrainischen Ministerpräsidenten aufblitzen sehen anstelle des in der Regel halbwegs bei Trosten Milliardärs und Präsidenten Poroschenko, jenen Ministerpräsidenten, dessen erste Amtshandlung nach der Absetzung des gewählten Präsidenten Janukowitsch die Abschaffung von Russisch als ukrainischer Amtssprache gewesen war; wir haben wieder den US-amerikanischen Außenminister John Kerry erlebt mit seiner gewohnheitsmäßigen Unfähigkeit, Aussagen und Stellungnahmen korrekt, geschweige denn diplomatisch zu formulieren; von den Rebellen beziehungsweise von Gospodin Putin brauche ich gar nicht zu sprechen, beziehungsweise ich erwähne jetzt doch noch die besonders dreiste Äußerung von Bodybuilder Putin, dass die ukrainischen Behörden zuständig seien, weil sich der Unfall im Luftraum über der Ukraine zugetragen habe, und gestern hat er offenbar gesagt, man dürfe diesen Fall nicht politisch ausschlachten; und schließlich füge ich noch die definitive Schilderung des Vorfalles an, wie er sich mit tödlicher Sicherheit zuge­tragen hat, nämlich dass sich ein paar Separatisten-Söldner an ihren BUK-Luftabwehrraketen zu schaffen gemacht haben und dabei aus Versehen die Maschine der Malaysian Airways erwischt haben, was sie seither natürlich bestreiten, weil sie befürchten, dass damit die Legitimität ihrer territorialen Ansprüche gefährdet wäre. Und nun ist es so, dass sie dies tatsächlich ist, unabhängig von der ursprünglichen Legitimität, über die ich mir bisher noch kein richtiges Bild gemacht habe, aber dadurch, dass sie ihren eigenen Fehler derart fieberhaft zu kaschieren versuchen, stellen sie unter Beweis, dass es sich eben nicht um eine Gruppe mit ernsthaften souveränen Ambitionen handelt, sondern um nichts weiter als eine Bande von Banditen, wie sie halt nun mal in allen Weltgegenden in Phasen der Instabilität zwangsläufig auftauchen. Und wenn Gospodin Putin weiterhin Politik mit solchen Freischärlern machen will, dann ist das zwar zweifelsfrei seine freie Wahl, aber es ist keine gute Wahl. Soviel aus neutraler Sicht hierzu.

Ein weiterer Beitrag aus der neutralen Schweiz beinhaltete einen Beitrag eines Deutschland-Korrespondenten einer Zürcher Tages-Zeitung, wonach Deutschland jetzt nach oder mit dem Gewinn des Fußball-Weltmeistertitels vermehrt weltpolitische Verantwortung übernehmen müsse. Das finde ich doch spektakulär, wie anlässlich dieses Fußball-Hochamtes der analytische Geist die Lizenz zum Freigang oder zum intellektuellen Polterabend erhält. Übernehmt mehr weltpolitische Verantwortung, geschätzte Hörerinnen und Hörer, ich habe gehört, in Moskau wäre da noch etwas zu regeln. – David Nauer hat dagegen nicht erklärt, wie Spanien vor vier Jahren Verantwortung übernommen hat, zum Beispiel für die Entwicklung Afrikas, nachdem es den Weltmeistertitel in Südafrika gewonnen hat. Damals war David Nauer halt nicht Spanien-Korrespondent. Dagegen die Forderung nach vermehrtem weltpolitischem Engagement der Deutschen, das musste jetzt endlich mal raus, und da kam der Gewinn des Weltmeistertitels gerade recht.



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Albert Jörimann
22.07.2014

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