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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Starbucks -

Freitag, 5. Dezember 2014: ein historischer Tag. Ich war zum ersten Mal in meinem Leben in einem Starbucks-Laden.


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artikel/Aus neutraler Sicht/J_KW_50_200px.png» Nein, ich habe keinen Kaffee getrunken oder gekauft, ich bin erstens nicht bereit, solche Preise für derart entstellte, angebliche Kaffeegetränke zu bezahlen – wobei ich gleich nach­schie­ben muss, dass ich mich immer wieder über mich selber wundere, wie effizient in der Praxis das Preisargument in mir wirksam ist, wo ich doch genau weiß, dass wir gerade im Lebens­mittel­be­reich viel zu tiefe Preise bezahlen, beziehungsweise wir wären alle zusammen in der Lage, für ein ordentliches Stück Fleisch auch einen ordentlichen Preis zu bezahlen, sagen wir mal mit Ausnahme der Hartz-IV-Empfänger, aber genau aus diesem Grund und noch aus ein paar anderen fordern wir ja seit Jahr und Tag eine Erhöhung dieses Hartz-IV-Vegetationsgeldes, und eben, trotz allem bewegt sich die Mehrheit der denkenden und sprechenden Köpfe in unseren Ländern nicht in den Hartz-IV-Einkommens-Kategorien, und trotzdem tun alle dergleichen, als wäre dies das Maß der Konsumdinge, das ist absolut absurd, ein idealtypisches Beispiel dafür, wie scheps sich Wahr­neh­mungs­kategorien zur Realität verhalten, und damit nicht genug: Auch ich kann es, wie alle anderen lustigen und kritischen Leute, durchaus nicht lassen, hin und wieder einen Seitenhieb anzubringen gegenüber jenen Leuten, welche sich vermeintlich hochnäsig teure Bioprodukte leisten und damit gegen eines der Grundgebote der christlichen Nächstenliebe verstoßen, nämlich die Solidarität mit den Ärmsten der Armen in der ritualisierten Form der Verehrung der Billigpreise, dabei ist es bloß eine Tatsache, ich wieder­hole es, dass wir für unsere Lebensmittel im Vergleich zu unseren Durch­schnitts­einkommen viel zu wenig bezahlen, was auf direktem Weg dazu führt, dass in Deutschland, Belgien, Frankreich und wo auch immer Dioxin ins Hühnerfutter gegeben wird, dass Gammel­fleisch unter die Menschen gebracht wird und so weiter und so fort – aber zurück:

Also würde ich sowieso nicht das Doppelte des normalen Preises bezahlen, vor allem aber nie und nimmer einen Starbucks-Kaffeeverschnitt trinken mit Himbeer- oder Hasel­nuss- oder Himbeer-Haselnuss-Mango-Aroma, Gott bewahre; vielmehr verhielt es sich so, dass ich Hunger hatte und dass zu dieser Tageszeit kein anderes Lokal in der Nähe ein vernünftiges oder überhaupt ein Ange­bot feil hatte. Ging ich also, ermuntert von meiner Begleitung, in so einen Starbucks-Schuppen und erkor ein Brötchen mit der Anschrift «Mediterraneo», also Mittelmeer, zum Verzehr, es hatte Ähn­lichkeit mit einem Ham­bur­ger, und ich bekundete meine Wahl mit dem Zeigefinger und mit einigen begleitenden und erklä­renden Worten. Die Bedienung fragte, ob sie das Brötchen warm machen sollte, und ich sagte Ja.

Und was soll ich weiter sagen: Das Brötchen war dann warm, und es war knusprig. An den Ge­schmack habe ich keine Erinnerung, dagegen möchte ich die Tüte loben, in welche die Bedienung das Teil steckte, sie war reißfest und möglicherweise auch noch sonstwie beschichtet, was sich als echter Vorteil erwies; denn nach ein paar Bissen begann mein Brötchen zu tropfen, das Mittelmeer lief aus, vielmehr es ploppte aus den Fugen, der Inhalt rutschte zwischen den beiden Hälften oder Deckeln heraus, so sehr ich mich bemühte, das Ding in der Waagrechten zu halten und immer schneller rund herum abzubeißen, die mediterrane Füllung klatschte Zuchetto um Zuchetto und Aubergine um Aubergine auf die Oberfläche der Tüte, die aber derart gestaltet und gefaltet war, dass sich alles in der Tütenkerbe sammelte, als gehörte diese Gemüseabsonderung geradezu zum Verzehr, sodass ich aus diesen Falten heraus klaubte, was einigermaßen grifffest war und es in den Mund schob, wahrscheinlich war das ein schöner Anblick. Dinner at Starbucks. Zusammenfassend lässt sich jedenfalls sagen, dass bei Starbucks das Mittelmeer aus Ratatouille besteht. Dies also war mein erster Besuch in dieser Ladenkette, die auf Deutsch zweifellos Sterntaler heißt, wie ich an dieser Stelle wohl auch schon verkündet habe. Mittelmeer to go, aber ich aß die Ware direkt aus der Togo-Verpackung im Stehen im Laden selber, so gut versteckt vor den Blicken anderer Menschen als halt möglich.

Selbstverständlich bezeichne ich dieses Ereignis als historisch, weil es am Tag der Wahl von Bodo Ramelow zum neuen Ministerpräsidenten Thüringens stattfand, und noch schlimmer: Eigentlich hatte meine Starbucks-Initiation bereits am Tag zuvor stattgefunden, ich habe sie hier bloß aus dramaturgischen Gründen auf den Freitag geschoben, um nicht direktemang die Thüringer Parteien­revo­lution loben zu müssen, und ich tue es auch gar nicht, weil es sich ja gar nicht um die Revo­lu­tion handelt, sondern um die Normalität, das ist doch der Punkt, und wir sind jetzt schon so weit, dass wir euch aus dem neutralen Ausland dafür gratulieren, wenn ihr nur das absolut Normale und Vernünftige unter­nimmt. Wieso sollte die Linke denn bitteschön nicht den Regierungschef stellen, wenn sie die entsprechenden Wählerinnen-Anteile hat? Da mögen Biermann und Gauck ganze Opern dagegen singen und Frau Merkel betupft die Stirne falten und die Raute aus Daumen und Restfingern noch energischer über dem Bauchnabel schwenken, es ist so gut eine Tatsache, dass der Ost–West-Konflikt nicht mehr ein Kampf der Systeme ist, wie es eine Tatsache ist, dass wir zu wenig bezahlen für unsere Lebensmittel und deshalb immer wieder angeschmiert werden. Und deshalb wünschen wir aus dem neutralen Ausland der neuen Landesregierung viel Glück und Erfolg bei ihrem Bemühen, die Politik mindestens verstärkt aus der Optik der weniger Bemittelten und Einflussreichen zu gestalten, sie möge nicht schon bei der ersten wichtigen Abstimmung an der berühmten einen Stimme scheitern, die ins gegnerische Lager wechselt; und vor allem, geschätzte Hörerinnen und Hörer, muss ich zugeben, dass ich mir von der Regierung Ramelow nicht wirklich die soziale Revolution erwarte, tatsächlich nicht, sondern vielmehr eine ziemlich kontinuierliche Politik, eine Fortsetzung stinknormaler sozialdemokratischer Politik, wie sie wohl schon all die Vorgängerinnen und Vorgänger betrieben haben, die noch aus den alten DDR-Blockflöten-Parteien stammten.

Am 4. Dezember wurde in Bochum das letzte Opel-Auto produziert. Während sich die letzten Beschäftigten in die Treuhandanstalt zur Abwicklung der Arbeitslosen begeben, plagen sich die Kraftfahrzeugversicherer mit anderen Fragen herum. Ich lese, dass jene Toyotas, welche Google vor 4 Jahren umgebaut und voll automatisch in den Fahrzeugverkehr eingespiesen hat, unterdessen mehr als eine Million Kilometer zurückgelegt haben, und zwar unfallfrei, und ich lese weiter, dass alle wichtigen Automobilhersteller mit solch vollautomatischen Fahrzeuglenksystemen üben. Sie sollen in Zukunft den Fahrer ganz ersetzen und damit das größte Unfallrisiko auf den Straßen, und dadurch verändert sich selbstverständlich die Struktur des Versicherungsmarktes. So ein Toyota oder ein anderes vollautomatisches Fahrzeug geht bekanntlich selber keiner Beschäftigung nach beziehungsweise keiner anderen Beschäftigung außer dem Fahren beziehungsweise keiner bezahlten Beschäftigung, sodass das Fahrzeug als solches auch keine Versicherung abschließen kann für allfällige Unfälle oder angerichtete Schäden. Damit entsteht die interessante Frage, wer denn in solchen Fällen, die sowieso drastisch abnehmen werden, rechtlich verantwortlich ist? Der Fahrer jedenfalls nicht, denn der hat ja auf dem Rücksitz die Zeitung gelesen oder eine Zigarre gepafft oder sich die Fingernägel lackiert. Also wer? Der Hersteller? Der Programmierer? Der Programmierer des Herstellers? – Und schon wird nach möglichen neuen Risiken gebohrt, z.B. Hackerangriffe auf die Bord-Steuersoftware. Da eröffnen sich mit jedem Risiko auch Chancen am Laufmeter, und so hat man den Eindruck, dass hier die Fundamente der Kraftfahrzeugversicherung der Zukunft gelegt werden. Gleichzeitig ziehe ich meinen Hut vor den Google-Entwicklern: Mit der Herstellung eines fahrerlosen Fahrzeuges verwandeln sie den Individual- tatsächlich in einen vollen Bestandteil des öffentlichen Verkehrs, das eigene Auto wird definitiv zur Fahrgastzelle, in welcher sich die bewegten Menschen als Teil eines großen Verkehrsleitsystems zum gewünschten Ort verfügen lassen. Dann bleibt am Schluss nur noch zu klären, wie man die Gefährte antreibt – denn dass man dafür weiterhin Erdöl verwendet, ist ungefähr gleich absurd, wie wenn man Wegwerf-Milchtüten mit echtem Gold beschichten täte.

Für die Seele dagegen, also jenen Bestandteil am Menschen, welcher im Automobil eine tatsächliche Versachlichung individueller Freiheit gesehen hat, sei es in der Form des möglichst raschen Fahrens mit offenem Verdeck oder was auch immer, für diese Seele bleiben dann zwei Möglichkeiten, nämlich die alt bekannte Kulturtechnik der Identifikation mit immer rasanteren Filmen im Stil von der Transporter oder ähnlich oder über Videospiele wie Grand Theft Auto Nummer XY, und die andere besteht darin, dass man demnächst Parcours und Rennstrecken für jene Autorennfahrer anbieten wird, die ohne jeden Zweifel in den meisten Menschen und Männern tief drin stecken. Man wird so etwas einrichten wie ein Disneyland oder einen Europapark, wobei ich mir über die Sicherheitsmaßnahmen noch nicht im Klaren bin, denn Tote, Unglücksfälle und Verbrechen sind in solchen Anlagen nicht gut fürs Marketing. Aber wenn es gelingt, Hochsicherheits-Pilotenzellen zu bauen, ähnlich wie bei den aktuellen Formel-I-Rennwagen, dann lassen sich die Risiken tatsächlich minimieren. Und für den Rest wird es dann Simulator-Zellen geben, vielleicht wird das in absehbarer Zeit auch ein Angebot fürs Eigenheim und wird als Weihnachtsgeschenk neben der Sauna installiert. Oder irgend sonst eine Lösung, vielleicht gibt es auch einen echten Ersatz für den Automobilismus, egal, ob in der Fliegerei mit Ultraleichtflugzeugen oder jenen steuerbaren Klein-Helikoptern, welche den Luftraum schon jetzt immer dichter bevölkern, oder aber tatsächlich in neuen Formen virtueller Welten und Existenzen. Nach dem fahrerlosen Fahrzeug sind virtuelle Existenzen, in die man sich ebenfalls einfach so hinein setzt und in einem alternativen Leben herum kutschieren lässt, doch sicher keine besonders neuen logischen Schritte mehr, ganz abgesehen davon, dass wir bereits auf früheren Entwicklungsstufen mit diesen Ideen in Kontakt getreten sind. Second Life, hat mal eine solche Welle geheißen, wenn es mir recht ist. Und wenn ich es mir genau überlege, sind Dinge des täglichen Lebens wie Himbeer-Haselnuss-Mango-Kaffee con Latte macchiato Einbrüche einer außerirdischen Existenz in die unsrige, daran kann kein Zweifel bestehen. Verschiedene Dinge des US-amerikanischen Alltags lassen sich sowieso nur noch unter solchen Aspekten erklären.





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Albert Jörimann
09.12.2014

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