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Dr. Juhi Tyagi: Wie können radikale Gewerkschaften in Indien noch erfolgreicher werden?

In Indien arbeitet mehr als die Hälfte der Bevölkerung in der Landwirtschaft. Viele von ihnen leben in Armut, haben große Probleme sich und ihre Familien zu ernähren. In einigen Regionen gibt es radikale Gewerkschaften, die sich für die Belange der Bauern einsetzen. Dr. Juhi Tyagi arbeitet am Max-Weber-Kolleg zu der Frage, was diese bewaffneten Bauernbewegungen konkret erreichen konnten. Im Interview gibt sie erste Forschungsergebnisse bekannt und gewährt Einblicke in ihre Arbeitsweise.

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artikel/Juhi Tyagi.jpgDr. Juhi Tyagi. Foto: privat

Eine Frage, die man sich vielleicht stellen kann: Warum ist ausgerechnet Erfurt der richtige Ort, um über dieses Thema zu forschen?

Erst einmal vielen Dank, dass ich hier sein darf. Es ist eigentlich nicht Erfurt als Ort sondern das Max-Weber-Kolleg, an dem ich arbeite. Als Wissenschaftler*innen machen wir zunächst Feldforschungen. Das heißt, du bist manchmal ein Jahr, manchmal auch mehr, nur unterwegs und sammelst Daten. Wenn du da mittendrin bist, verlierst du darauf manchmal die Perspektive. Hier zu sein, hier am Max-Weber-Kolleg ist dann sehr hilfreich: Mit einer gewissen Distanz, mit genügend Zeit um über die Daten zu schauen, kommt dann auch eine gute Analyse zustande.

Wir schauen gleich noch einmal genauer darauf, wie du eigentlich arbeitest und wie du Daten sammelst und worum es da genau geht. Vorher will ich aber noch verstehen, warum du dich für die Situation von Bauern interessierst. Wo gibt es Verbindungen zwischen dem Gegenstand, also dem Thema und deinen persönlichen Interessen?

Ich interessiere mich für die Situation von Bauern, weil ich aus Indien komme. In Indien arbeitet noch immer knapp 60 % der Bevölkerung als Landarbeiter*in. Was dabei interessant ist: Das industrielle Wachstum wird stärker und wir haben gleichzeitig einen hohen Anteil an Arbeiter*innen in prekären Arbeitsverhältnissen. Diese kommen in die Städte, um dort für eine Zeit zu arbeiten. Immer jedoch haben sie noch ein Standbein in ihren Dörfern und auf ihren Farmen. Wenn du aus diesem Kontext kommst, willst du dir diese Bevölkerungsteile ansehen. Bevölkerungsteile, die einen Großteil der Wirtschaftskraft darstellen und gleichzeitig nur einen kleinen Teil der Wirtschaft darstellen wenn man bedenkt, wie wenig Geld sie eigentlich bekommen. Sie tragen zwar viel bei, bekommen aber nicht sehr viel dabei heraus.
Bevor ich meinen Doktor gemacht habe, arbeitete ich selbst für einige Jahre in den Dörfern auf dem Land. Das hat mich ziemlich angespornt, denn ich habe beobachtet, wie sich dort viele Menschen in Organisationen zusammenschließen, abgesehen von den anderen Herausforderungen, denen Bauern und Bäuerinnen gegenüberstehen. Das gab mir dann den Anstoß, mehr über die Situation nachzudenken und darüber nachzudenken, wie man die Situation verbessern kann. Also habe ich damit begonnen, mit den Bäuerinnen und Bauern zusammen zu arbeiten.

Du beschäftigst dich in deiner Forschung vor allem mit diesen radikalen Gruppen. Diese radikalen Gruppen haben das Ziel, die soziale und materielle Situation der Bäuerinnen und Bauern zu verbessern. Was ist das Ziel deiner Forschung, was willst du genau herausfinden?

Der Grund für meine Interesse an diesen radikalen Gruppen liegt, wie ich eben schon sagte, darin, dass du in Indien diesen riesigen Bevölkerungsanteil siehst, der nicht wirklich etwas abbekommt. Was ich herausfinden wollte war: Wie können sie ihren Anteil auch wirklich abbekommen? In meiner Forschung ging es dann um die Frage: Wenn die Bäuerinnen und Bauern sich organisiert haben, wenn es eine Arbeiter*innenbewegung gab, was konnte dann an ihrer Situation verbessert werden? Das Thema ist keineswegs neu, es gibt zahlreiche historische, soziologische Studien die bereits gezeigt haben: Militante Gewerkschaften haben viel für Arbeiter*innen erreichen können. Im Grunde ist das der einzige Weg, auf dem Arbeiter*innen jemals in der Lage waren, für ihren Anteil zu kämpfen.
Ich wollte mir die zugrundeliegenden Mechanismen anschauen: Wie kann es funktionieren, dass Landarbeiter*innen sich organisieren, um etwas für sich zu erreichen?

Da ich weder soziologischer Wissenschaftler noch Forscher bin, würde mich interessieren, wie du genau arbeitest. Du sprachst davon „im Feld“ zu arbeiten. Wie funktioniert das genau, fliegst du jetzt immer wieder nach Indien um neue Beobachtungen zu machen?

Du kannst mit verschiedenen Arten von Material arbeiten: Mit Archivmaterial, du kannst auch in die Dörfer gehen um ethnographische Methoden anzuwenden, du kannst teilnehmende Beobachterin sein, du kannst auch Material kodieren und dieses dann quantitativ auswerten. Diese quantitative Methode wird in der US-amerikanischen Soziologie zum Beispiel immer populärer. Ich nutze alle diese Methoden so ein bisschen, je nachdem was für eine Frage ich gerade beantworten will.
Ich habe natürlich zunächst viel Zeit in den Dörfern verbracht, habe aber auch viele Zeitungsarchive zusammengetragen und das Material kodiert, um ebenso quantitative Analysen über mehrere Jahre anwenden zu können. Damit konnte ich dann zurück in die Feldforschung gehen um zu schauen, wie die Dinge auf dem Mikro-Level funktionieren. Ich bin nun seit sechs Monaten hier, noch habe ich es aber nicht geschafft, zurück „ins Feld“ zu gehen. Wenn du allerdings durch deine Daten gehst und anfängst zu schreiben, fallen dir Lücken auf, das ist ziemlich normal. Dann musst du zurückgehen um diese Lücken zu füllen und neue Fragen zu klären. Darüber hinaus geben dir Gespräche mit Kolleg*innen oder wenn sie ihre Forschungen präsentieren neue Ideen für deine eigenes Projekt und neue Wege, in die sich deine Forschung entwickeln kann. Man muss sich ständig weiter mit seinem Thema beschäftigen, ansonsten repräsentiert man es auch nicht wirklich gut.

Nachdem wir nun über die Methodik gesprochen haben, lass uns zum Inhalt kommen. Du vergleichst zwei Regionen in Indien miteinander: eine Region, in der es so eine radikale bewaffnete Bauernbewegung gab oder gibt und eine Region ohne so eine Organisation. Kannst du uns ein bisschen genauer erklären, wie diese radikale Bewegung operiert, was ihre Ziele sind und wo diese Region überhaupt ist?

Diese Forschung, die ich nun betreibe ist eigentlich eine Erweiterung der Forschung zu meiner Doktorarbeit. In meiner Doktorarbeit hatte ich mir angeschaut, wie radikale Gruppen zäh und widerstandsfähig werden können, wie sie sich selbst über Jahre hinweg aufrecht erhalten können. Denn offensichtlich haben sie viele Gegenspieler: Sie haben den Staat gegen sich, viele mächtige gesellschaftliche Klassen von Landbesitzern, Kapitalisten, die diese Bewegungen unterdrücken wollen. Meine Frage war dann: Wie schaffen sie es trotz dieser Herausforderungen widerstandsfähig und aktiv zu bleiben? Der nächste Schritt war dann zu fragen: Wenn sie widerstandsfähig bleiben – was sind sie in der Lage zu erreichen?
Ich arbeitete in Südindien im mittlerweile neu gegründeten Staat Telangana und dort in der Region Warangal. Dort habe ich mehr als ein Jahr für meine Feldforschung verbracht. Warangal ist eine Baumwollregion und die Menschen bauen vor allem Baumwolle und auch Chilis an. Dort hat es über Jahre hinweg immer wieder diese radikalen Bewegungen gegeben. Deswegen habe ich auch diese Region für die Arbeit vor Ort ausgewählt.
Dann gibt es im Nordwesten Indiens den Bundesstaat Gujarat, wo unser aktueller Premierminister herkommt. Über Gujarat wurde sehr viel geschrieben, darüber wie die Wirtschaft wächst, wie progressiv da alles ist, wie viel da passiert und so weiter. Ich dachte dann, es wäre interessant diese beiden zu vergleichen. Meine Region Warangal in Südindien mit einer Region dort in Gujarat. Ich suchte mir also einen Distrikt in Gujarat, der strukturell ähnlich ist: Vorrangig Baumwollanbau; einen ähnlichen Anteil von Adivasi, das ist die Bezeichnung für die indigene Bevölkerung und eine ähnlichen Bevölkerungsanteil von Dalits, das ist die andere stark marginalisierte Gruppe im Land. Nach ein wenig Recherche fand ich dann so einen Distrikt, den Distrikt Sabarkantha. Danach ging es ans Vergleichen: Beide Regionen haben ähnliche strukturelle Merkmale, die eine Region allerdings hat so eine radikale Bauernbewegung, die seit langer Zeit andauert, die andere hatte keine radikalen Arbeiter*innenbewegungen. Diese Bewegung in Südindien ist natürlich umstritten, weil sie Gewalt als Mittel einsetzt. Was ich aber herausfand war, dass der Punkt, an dem diese Bewegung wirklich widerstandsfähig wurde, war, als sie zusätzlich gewaltfreie Arten der Selbstorganisation für sich nutzten. Als sie es schafften, die Dorfbewohner*innen zu organisieren, sie relativ autonom zu machen, sie für sich selbst arbeiten zu lassen und sie nur von Zeit zu Zeit etwas anzutreiben, war das der Punkt, an dem diese gewaltsamen Bewegungen ironischerweise widerstandsfähig wurden. Was ich also versuche zu sagen: in diesen Regionen in Südindien gibt es viele gewaltfreie Arbeiter*innengruppen, die kämpfen und sich organisiert haben. Man muss aber bedenken: Wenn ich kämpfen sage, meine ich nicht, dass sie morgens aufwachen und aufs Schlachtfeld ziehen. Es kommt natürlich auf die Situation an, es gibt vielleicht mal ein bestimmtes Jahr, in dem etwas aufkommt oder einen bestimmten Monat in dem etwas passiert. Ansonsten leben die Leute halt hier Leben, bewirtschaften das Land und müssen ihre Familien ernähren. Diese Region habe ich dann mit diesem Distrikt Sabarkantha verglichen. Bei diesem Vergleich wurde mir klar, dass einen großen Unterschied in den Löhnen gab, die die Arbeiter*innen bekommen. Im Anschluss ging ich dem dann nach: Was hat zu dieser unterschiedlichen Bezahlung geführt, was sind die Bedingungen, denen sie ausgesetzt sind und so weiter. Ich kann jetzt schon ein knappes Fazit ziehen: Wenn du Arbeiter*innen hast, die sich zusammentun und sich organisieren und immer wieder Widersprüche zur Klasse der Kapitalisten produzieren, dann führt das ständig zu Auseinandersetzungen zwischen diesen Klassen. Das kann die Wirkung haben, dass sie ihre Bedingungen mehr und mehr selbst bestimmen können. Mehr bestimmen, als in Regionen ohne so eine Infrastruktur von organisierten Arbeiter*innen bzw. ohne Protest-Infrastruktur.

Um dich da richtig zu verstehen: In der Region mit einer radikalen Bauernbewegung geht es den Leuten in gewisser Weise besser. Würdest du dann zurück nach Indien gehen, um den Bauern in Regionen ohne solche Gewerkschaften zu raten, solche zu gründen? Also sobald du die Arbeit hier fertig geschrieben hast?

Ich muss ihnen das gar nicht erst sagen, das wissen sie schon. Wie ich schon meinte, bin ich nicht die erste die das sagt. Es gibt schon sehr viel Material das genau das belegt: Die einzige Art und Weise, auf die Arbeiter*innen ihre Situation verbessern können ist, wenn sie in der Lage sind Gewerkschaften beizutreten, wenn sie in der Lage sind sich zu organisieren. Das ist der einzige Weg, auf dem sie überhaupt Einfluss nehmen können. Kollektive Aktionen sind die einzige Möglichkeit zu kämpfen. Wie gesagt, ich bin nicht die erste die das sagt. Was ich gern herausfinden würde, ist wie bereits existierende Organisationen gestärkt werden können. Wie können sie erfolgreicher, brauchbarer, stärker werden? Das ist der Grund warum ich die Arbeit mache, die ich mache.

In einem anderen Interview sprachst du davon, dich hier in Erfurt aktiv einbringen zu wollen, dass du beispielsweise an der Arbeit mit Geflüchteten interessiert seist. Ist es wichtig sich nicht nur als Forscherin sondern auch als Aktivistin zu bezeichnen?

Ja absolut, ich bin auf jeden Fall eine Verfechterin dieser Sichtweise. Ich kenne viele Akademiker*innen, die sagen: „Aber dann bist du doch gar nicht objektiv! Müssen wir nicht objektive Ökonom*innen, objektive Soziolog*innen sein?“ Ich finde das ein ziemlich schwaches Argument, weil ich nicht glaube dass ökonomische Theorien wie der Neoliberalismus sonderlich objektiv sind. Es gibt wirtschaftssoziologische Theorien, die sagen: So wie die Wirtschaft mit großen Konzernen funktioniert ist weder der profitablste noch effektivste Weg, es gibt andere rentable und durchführbare Alternativen. Wir haben diese Form des Wirtschaftens gewählt, wir haben diese Art von Regierungen gewählt und wir haben sie gewählt weil, es gewisse Leute gibt, die die Macht haben. Deswegen ist diese Einstellung vonwegen „Lass uns neutral und bloß nicht aktivistisch sein“, komplett falsch. Ich denke, dass du natürlich emanzipatorische Politik und Arbeit machen musst, um das Leben von Menschen zu verbessern. Wir sind keine Firmen, wir sind Akademiker*innen, die Wissen produzieren. Du musst a) sicherstellen, dass dieses Wissen auch Leute erreicht und b) Wissen produzieren, von dem die Schwächsten und Unterdrückten etwas haben. Ansonsten finde ich es wirklich sinnlos.

Eine letzte Frage: Du hast bereits in verschiedenen Ländern und Regionen gelebt. Was im Vergleich ist in Erfurt besonders, was gefällt dir und was nicht?

Ich bin noch nicht so lange hier, wie schon gesagt sind es nun etwas mehr als sechs Monate. Erfurt ist natürlich eine sehr hübsche, malerische Stadt, gut zum Denken und gut zum Arbeiten. Einen Unterschied, den ich im Vergleich zu den anderen Städten in denen ich gelebt habe sehe, ist dass es hier einen Mangel an Diversität gibt. Das hat mich überrascht. Du siehst nicht so viele People of Color und ich sehe nicht so viele Räume der Unterschiedlichkeit, der Heterogenität. Vielleicht ist es mein Blick als Auswärtige, aber ich sehe viel mehr homogene Räume als ich mir vorgestellt hatte. Und das ist auch einer der Gründe warum ich mich in der Stadtgesellschaft engagieren will, weil ich weiß dass diese Räume und Menschen irgendwo existieren müssen. Die Frage ist nur: Wo sind sie und warum ist ihre Stimme nicht zu hören und was können wir unternehmen um das zu ändern? Um es hier angenehmer und einladender für alle zu machen.


Raphael Bergmann
19.05.2018

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