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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Gesamtprozess Volksdemokratie

«Die Gesamtprozess-Volksdemokratie vereint die prozessorientierte Demokratie mit der resultateorientierten Demokratie, die Verfahrensdemokratie mit inhaltlicher Demokratie, die direkte Demokratie mit der indirekten Demokratie und die Volksdemokratie mit dem Willen des Staates. Sie ist ein Modell einer sozialistischen Demokratie, welche sämtliche Aspekte des demokratischen Prozesses und alle Sektoren der Gesellschaft abdeckt.

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Sie ist eine echte, funktionierende Demokratie.» So steht es im Vorwort des Aufsatzes «China: eine funktionierende Demokratie», wobei dieser Aufsatz den Titel «Weißbuch» trägt und von der chinesischen Regierung am letzten Samstag, dem 4. Dezember 2021 veröffentlicht wurde. Laut Begleittext werden darin die Werte, die Geschichte, der institutionelle Rahmen, die Praxis und die Umsetzung der chinesischen Demokratie beschrieben, was aus dem mir neuen Begriff «Gesamtprozess-Volksdemokratie» nicht so klar hervorgeht. Ich selber bin noch nicht über die Definition von «Demokratie» als «Volksherrschaft» hinausgekommen, wobei mir absolut klar ist, dass eine Volksherrschaft in der modernen Gesellschaft eine vielfältige, vielschichtige und in mannigfacher Beziehung komplizierter Prozess ist, mit dem wir uns als Moleküle dieser eigenartigen und uneinheitlichen, sprich gegensätzlichen und widersprüchlichen Substanz mit dem Namen «Volk» oder «Bevölkerung» obligatorisch zu befassen haben. Meistens tun wir es nicht, weil uns die Angelegenheit als zu komplex erscheint und weil wir auch den Eindruck haben, und das ist bereits eine politische Aussage, dass die Substanz «Volk» oder «Bevölkerung» sich in der Regel ohne das Zutun der einzelnen Moleküle organisiert, und zwar nicht autopoietisch, also als Organismus, der sich selber organisiert, nur um des Zweckes der eigenen Organisation willen, sondern aufgrund vorherrschender äußerer Bedingungen, zum Beispiel des technisch-wirtschaftlichen Entwicklungsstandes, und der damit verbundenen Organisation des erwähnten Volkes oder der Bevölkerung in Klumpen, welche sicher immer unterschiedlich, manchmal aber auch gegensätzlich und hin und wieder auch widersprüchlich erfolgt.

So weit, so schummrig; aber auf eine solche Substanz den Begriff «Gesamtprozess-Volks­demo­kra­tie» anzuwenden, deren Gesamtheit in erster Linie aus dem Verbund von Prozessorientierung mit Resultateorientierung besteht und zu allem noch die Zutat direkte Demokratie umfasst, von welcher in der Volksrepublik China mit abschließender Sicherheit in ihrer gesamten Historie noch nie auch nur ein Gran, was sage ich, ein Milligramm und auch kein Nanopartikel beobachtet wurde, weil sich nämlich die gesamte, theoretisch zu legitimierende Geschichte der sozialistischen Demokratie auf die Avantgarde-Funktion der kommunistischen Partei abstützt und damit seit ihrem Beginn auf die Tatsache abstützt, dass das Wohl des Volkes nicht aus dem Volk, sondern aus dem analytischen Vermögen und der organisatorischen Tatkraft der kommunistischen Partei zu entwickeln ist; auf die chinesische Volkssubstanz also den Begriff «Gesamtprozess-Volksdemokratie» anzuwenden, das erscheint mir als Kühnheit, die nur damit zu erklären ist, dass sie allen Zuständigen erstens selber radikal über den Kopf gewachsen ist und zweitens als radikal bedeutungslos erscheint. Kurz: Es handelt sich um chinesisch-volksdemokratisches Geschwurbel.

Was nicht bedeuten muss, dass die China-Expertin in dem Weißbuch nicht trotzdem wertvolle, wo nicht sogar umfassende Angaben zum Funktionieren der chinesischen Volksdemokratie finden. Denn auch wenn ich mich lustig mache über die außerordentlich schludrige Konstruktion des chinesischen Begriffs von Demokratie, so anerkenne ich trotzdem die immense Aufgabe, welche sich die Parteileitung offenbar anlässlich des 18. Nationalkongresses im Jahr 2012 gestellt hat, namentlich die Modernisierung von Chinas Governance und der Institutionen. So etwas ist eine gewaltige Aufgabe, wenn man es nicht einfach als Leerformel in die Luft bläst wie seinerzeit die Planvorgaben im realen Sozialismus, sondern als dringende Notwendigkeit begreift und anpackt, und, meiner Treu, ich habe den Eindruck, dass dies in China mit einigem Erfolg geglückt ist. Umgekehrt allerdings erneut ohne den direkten Einbezug der Bevölkerung, und das bekräftigt meine schon lange bestehende Perplexität angesichts der Wortwahl unserer ostasiatischen Mitmenschen. Persönlich komme ich zum Schluss, dass der Chineserer Demokratie dann erfüllt sieht, wenn sich alle Chinesererinnen einen Mercedes oder wenigstens einen Tesla leisten können. In dieser Zielsetzung verschmilzt das chinesische Verständnis von Demokratie dann allerdings wieder voll und ganz mit dem europäischen Demokratieverständnis, ganz abgesehen davon, dass die Jungs und Mädels in China diesem Ziel schon recht nahe gekommen sind; wir könnten insofern von einer Achse Stuttgart–Peking sprechen.

Eine Außensicht zum Gesamtprozess-Demokratie-Weißbuch erlaubt uns der Begleittext der Nachrichtenagentur Xinhua, welche vier internationale Demokratie-Experten zitiert, die ich hier meinerseits zitiere, nämlich als ersten Kin Phea, den Generaldirektor des Instituts für Internationale Beziehungen – an der königlichen Akademie von Kambodscha. Nun ist es einfach ein kapitaler und Stockfehler, zu Demokratiefragen einen leitenden Mitarbeiter einer königlichen Akademie zu zitieren, denn die Demokratie ist per Definition die Todfeindin des Feudalismus, und wenn sich auch an verschiedenen Orten im Weltall die Überbleibsel des Feudalismus in ein paar verkrümmten Formen erhalten haben, als Expertinnen für Demokratiefragen darf man sie nicht herbeiziehen, in keinem Fall. Für diesen Stockfehler zwanzig Stockhiebe auf die baren Fersen des verantwortlichen Mitarbeiters der Nachrichtenagentur Xinhua! – Die Meinung von Kin Phea ist demzufolge auch völlig irrelevant, ich zitiere sie trotzdem: «Im demokratischen System Chinas dreht sich alles um die Frage, ob das Volk das Recht hat, sein Land zu regieren, ob die Menschen zufrieden sind und ob sie erfüllt und glücklich sind.» – Auch der Aristokraten-Lakai Kin Phea beobachtet die von mir erwähnte Orientierung an den Bedürfnissen der Bevölkerung, wogegen die Fragestellung, ob das Volk das Recht hat, sein Land zu regieren, die qualitative Aussage unterdrückt, ob es das Land auch tatsächlich regiert, wie es nämlich der Inhalt des Begriffs Demokratie ist. Die Bevölkerung Chinas übt also keine demokratischen Rechte aus, sie hat nur das Recht dazu, diese Rechte auszuüben. So schaut es aus der Sicht des Königreichs Kambodschas aus.

Hamid Wafaei, ein weiterer international anerkannter Demokratieexperte einer weiteren inter­na­tio­nal anerkannten Demokratie, nämlich der Leiter des Zentrums für Asien-Studien an der Universität Teheran, verweist darauf, dass es kein globales Standardmodell für Demokratie gibt. Damit will er wohl auch der globalen Begriffsbildung an den Kragen, will sagen, wer eine staatsphilosophische Definition von Demokratie unterstellt, begeht einen Eingriff in die nationale Souveränität sowohl Chinas als auch des Iran, ähnlich wie bei der Frage der Uiguren oder der Anerkennung von Taiwan, was natürlich für China gilt und weniger für Teheran. Laut Wafaei muss auf jeden Fall jedes Land seinen eigenen Weg finden bei der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft und auch der Demokratie. Dass das chinesische Volk dabei einen qualitativ hochstehenden Weg gefunden habe, belegten die umfassenden Erfolge auf verschiedenen Gebieten und namentlich bei der Armutsreduktion. Den Einschlag dieses Bumerangs in Teheran mit den umfassenden Misserfolgen auf verschiedenen Gebieten will ich gar nicht mehr beobachten, auch hier sind wohl zwanzig Stockhiebe die Belohnung für den Amtsleiter.

Ein indonesischer Think Tank nennt sich Studienzentrum zur Innovation in Asien, und sein Präsident Bambang Suryono äußert sich im Grundsatz dahingehend, dass nur jene eine gute Demokratie sei, welche in Funktion der tatsächlichen Verhältnisse im Lande errichtet werde und im Interesse der Bevölkerung wirke. Auch hier bleibt die Bevölkerung dem demokratischen System zunächst außen vor und reines Objekt. Dass auch Herr Suryono bestätigt, dass die chinesische Demokratie bemerkenswerte Ergebnisse erzielt habe bei der Armutsbekämpfung, im Gesundheits- und Bildungswesen und in weiteren Bereichen, versteht sich von selber, einmal abgesehen davon, dass es ja auch stimmt; nur sprechen wir hier über Demokratie, und dazu meint auch Suryono, dass die chinesische Demokratie im Dienste der chinesischen Bevölkerung stehe. Er beharrt geradezu darauf, dass die chinesische Demokratie ein von der Bevölkerung vollständig losgelöstes politisches System sei. Zwanzig Stockhiebe!

Schließlich äußert sich noch der Leiter des Zentrums für asiatische Studien am Bosporus in der Türkei zum großen Weißbuch, ein Herr Mehmet Enes Beser. Nach seiner Einschätzung liegt der Beweis für die Überlegenheit der Gesamtprozess-Volksdemokratie in China darin, dass China in der COVID-19-Pandemie das Schwergewicht immer auf den Erhalt des Lebens der Menschen gelegt habe, was beweise, dass die chinesische Demokratie sehr gut in die Praxis umgesetzt werde. Gewisse westliche Länder dagegen hätten es beim Ausbruch der Krise versäumt, aktiv die angemessenen Maßnahmen zu ergreifen, was beweise, dass «Demokratie» für sie nur ein sinnentleerter Kampagnenslogan sei. Hier erteile ich keine Sanktion in der Form von 20 Stockhieben, obwohl diese Form der Bestrafung meines Wissens im osmanischen Reich entwickelt und praktiziert wurde unter dem Begriff Bastonade. Aber Herrn Enes Besers Beitrag zur Diskussion der Gesamtprozess-Volksdemokratie erreicht intellektuell einfach nicht die Höhe seiner Mitreferenten. Demokratie hat nun mal auf der begrifflichen Ebene nichts zu tun mit der Bekämpfung von COVID-19. Auch wenn die 7-Tage-Inzidenz in der Schweiz im Moment bei 672 liegt im Vergleich zu 185 in der Türkei, was Enes Besers Theorie zunächst zu bestätigen scheint, aber dann wäre Demokratie ein echter Wackelpudding, denn am 17. Oktober zum Beispiel lag die 7-Tage-Inzidenz in der Türkei bei 256 und in der Schweiz bei 71. Die Schweiz wäre also am 17. Oktober im Verhältnis von eins zu dreieinhalb demokratischer gewesen als die Türkei, während die Türkei im Moment drei Mal demokratischer wäre? Abgesehen davon ist diese ganze Frage, wenn man sie auf die Demokratie umlegen will wie Herr Eser Beser, sowieso im Kern untauglich, weil nämlich der Anlass zur Bekämpfung der Pandemie, nämlich ihr Ursprung nach wie vor in China anzusiedeln ist. Das wäre der endgültige Beweis für das Versagen der Gesamtprozess-Volksdemokratie.

So geht es nicht. Aber es klemmt halt irgendwie auch im Weißbuch. Im Abschnitt II, der vom gesunden institutionellen Netzwerk handelt, lautet der Titel zum ersten Absatz: «Das Regierungssystem der volksdemokratischen Diktatur». Meine Damen und Herren, Demokratie und Diktatur schließen sich aus, daran gibt es nichts zu rütteln, und wenn im Weißbuch auch noch tausend Mal steht, dass China die Einheit von Demokratie und Diktatur aufrecht erhält, um die Rolle des Volkes als Herren im Land aufrecht zu erhalten. Hier stößt sowohl die krudeste als auch die elaborierteste Dialektik an ihre Grenzen, und hier begeht die chinesische Volksrepublik einen Eingriff in meine eigene Gedankenfreiheit. Was soll ich sagen: Ab heute wird zurückgeschossen? Ich wüsste ja nicht wie.


Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
07.12.2021

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