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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Monde Diplomatique erneut

Ich nehme einmal an, dass ich mich aus meiner unbestechlichen, objektiven und sogar neutralen Warte an ein Publikum richte, das ich nicht über Prinzipien belehren muss. Eine gewisse Neugierde setze ich voraus sowie das blinde Vertrauen in Vernunft und Logik und daneben das Bemühen, eben, um Objektivität.



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> Download In diesem Bestreben auf Kurs zu bleiben ist eine anstrengende Arbeit, denn es legen einem bei Weitem nicht nur die Idioten von der Allianz für Deutschland oder die PR-Büros all der verschiedenen Interessenvertretungen Steine in den Weg, sondern zunehmend jene Bericht­erstatterinnen, denen man eine kritische Haltung eigentlich von Haus aus zuschreiben würde. Es zeigt sich aber, dass gerade die zwangskritische Haltung oft erst recht in ein komplettes Desaster mündet. Ihr erinnert euch vielleicht an das Wehklagen, in den Worten der Berichterstattenden aller­dings eben an die kritische Berichterstattung über den Raubbau des Raubtieres Kapitalismus und Imperialismus an der überaus seltenen Erde mit dem Namen «Sand», welche in einem Doppel­schlag sowohl auf dem kritischen Fernsehsender «Arte» als auch in der kritischen Monatszeitung «Le Monde Diplomatique» mit den entsprechenden Enthüllungen aufwartete. Das selbe Übermaß an Kritik findet sich im Monde Diplomatique mit naturgesetzlicher Regelmäßigkeit neben anderen Artikeln, welche den Kriterien von Vernunft und Logik dann doch eher entsprechen. In der Juli-Ausgabe nimmt sie die Form eines Artikels an, der auf Seite 11 den Titel trägt: «Proletarier des runden Leders». Was ein Proletarier ist, haben wir nach verschiedenen Diskussionen über sein Aussterben, über die Ausbildung des Prekariats, über die Proletarisierung der akademischen Berufe etzetzera etzetera immer noch einigermaßen im Kopf, aber der erste Satz des zum Titel gehörigen Artikels lautet: «Aristide ist ein Galeerensträfling des runden Leders.» Heißt, unter der Bedingung, dass diese Zeitung ihre eigenen Berichte und darin die Ausdrücke, in welche sie gefasst werden, ernst nehme, dass ein Proletarier ein Galeerensträfling sei. «Der 23-jährige Kameruner hat Fußball in seiner Heimatstadt Yaoundé gelernt und war schon überall in Afrika.» Unter anderem in Nigeria, wo er für 1000 Euro im Monat ruderte beziehungsweise kickte, bis er sich verletzte und entlassen wurde; danach gabs einen Monat lang Senegal für 45 Euro und anschließend die Weiterreise in die Elfenbeinküste, wo er momentan kein Engagement hat und in der Fußballakademie Metro Star in Abidjan trainiert. Und natürlich von einem Klub in Europa träumt.

Schön oder schlecht und gut, aber was hat das mit Proletariat oder Dienst auf der Galeere zu tun? Nichts. Die Begriffe machen sich einfach gut, sie tun ihre Wirkung bei einem durchschnittlichen europäischen Gehirn, ich weiß nicht, welche chemischen Substanzen sie dort auslösen, Serotonin oder Dopamin werden es wohl nicht sein, und ob es einen Botenstoff mit dem Namen Anti­kapi­talistin oder Antiimperialisten gibt, bezweifle ich eigentlich, aber es geht genau darum: das Lese­publikum mit Ware zu füttern, welche seinen polarisierten Erwartungen entspricht, anstatt sich im Artikel um Wahrheit oder eben Vernunft und Logik zu bemühen. Das Kunstsubjekt Aristide, das es in dieser Form zweifellos zirka eine Million Mal gibt in Schwarzafrika, ist ein einfacher Migrant, der es vielleicht bei Gelegenheit nach Europa schaffen wird, wo er aber kaum für 600 Euro pro Monat bei irgendeinem Klub spielen wird, sondern, sofern es ihm in einen Profiklub reicht, dann doch eher wieder für 6000 Euro, weil die Dynamik im Profifußball nun mal so ist, dass gute Fußballer teuer sind. Und in den Profiklubs haben durchschnittliche Fußballer keinen Platz. «Heute sind 8 Prozent der Spieler in den europäischen Profiklubs Afrikaner», schreibt der Autor David Garcia und lässt damit durchscheinen, dass sie eben das Lumpenproletariat dieser Klubs bilden – was wie gesagt ein simpler Humbug ist. Wer es in den Profifußball geschafft hat, der hat es für die Zeit seiner Kickerei geschafft, unabhängig von seiner Herkunft.

«Selbst wenn sie ihren Fußballtraum nicht verwirklichen können, sind sie froh, dem Elend zu entronnen zu sein und in Europa zu leben», zitiert Garcia den Präsidenten von Foot solidaire, was ein Hilfsverein für Fußballmigranten sein soll. Na – für diese Einsicht brauche ich keinen Hilfs­vereins­präsidenten nicht, und dass es mit Ausbildungsentschädigungen an die Herkunftsklubs und TV-Rechte, Vermarktung und Firmensponsoring nicht überall weit her ist beziehungsweise nicht gleich geschmiert klappt wie in Europa, kann ich mir ebenfalls aus den eigenen Fingern saugen, ohne dabei Objektivität, Wahrheit und Neutralität übermäßig zu strapazieren. Aber Garcias Artikel über Fußballproletarier oder Fußball-Galeerensklaven, die weder das eine noch das andere sind, nimmt eine berauschende letzte Kurve, welche nochmals auf das Hirn der erwähnten europäischen Endabnehmer abzielt: «Meilenweit vom Glanz des Fußballbusiness entfernt, in Kenia, trainiert der Lehrer Luc Lagouche ehrenamtlich die Black Stars von Kibera. Der Zweitligist ist der Stolz der Einwohner des größten Slums von Nairobi. „Es ist eher ein soziales als ein sportliches Projekt“, betont der Sportdirektor des Klubs. „Dank unseren Sponsoren helfen wir den Spielern, einen Beruf zu erlernen. Auch in einem Slum kann Fußball der Integration dienen.“» – So weit, so gut, ich kann folgen, aber jetzt kommt's: «Ist ein anderer Fußball in Afrika möglich?» – Meine Damen und Herren – die Frage ist ein Derivat aus der Formel «Eine andere Welt ist möglich», aber hier, diese Kurve aus dem Proletariat und der Galeere zu einem, nicht mit äußerster Genauigkeit definierten «anderen Fußball» in Afrika – das ist ein derartiger Blödsinn, dass die inneren Fundamente eines jeden kritischen Gehirns darüber erzittern müssten, wenn es diesen Artikel überhaupt bei vollem Bewusstsein wahrnimmt.

Aber das ist es genau: Diese Sorte von Artikeln setzen eben darauf, dass das Bewusstsein gar nicht eingeschaltet ist. Es gibt eine Art von Bewusstseins-Limbo, eine Vorstufe des Bewusstseins, wo man mit der Erregung einiger Reizbegriffe den ganzen Effekt in einem durchschnittlichen solidarischen Kopf in Europa erzielt – und offensichtlich auch in der kritischen Redaktion, welche den Monde Diplomatique herausgibt.

Afrika ist noch in weiteren Artikeln präsent, zum Beispiel über die Verhinderung eines Land­wirt­schaftsprojektes in Moçambique, mit welchem die brasilianische und die japanische Entwicklungs­agentur zusammen mit dem moçamiquischen Staat sagenhafte 14 Millionen Hektar Land für den Anbau von Soja, Baumwolle und Mais herrichten wollten. Die lokalen Bauern haben sich dagegen mindestens vorderhand erfolgreich zur Wehr gesetzt, unter anderem durch die Mobilisierung ihrer Kolleginnen und Kollegen in Brasilien. Ein anderer Artikel gibt vor, die vielen Fronten in Mali zu beschreiben; allerdings wird die Berichterstattung über die ziemlich unübersichtliche Lage in diesem Land für den Autor Rémi Carayol eher zum Anlass für ein großes Lamento genommen. Das Desaster zwischen einem schwachen Staat und den verschiedenen Dschihadisten-Gruppen, welche da und dort doch noch für so etwas wie Ordnung sorgen, wird zur allgemeinen Anklage: «Im Laufe der Jahre zerstörte der Staat die traditionelle Form des Zusammenlebens im Namen der Moder­ni­sierung. Mopti war bereits 1995 die ärmste Region Malis» und wurde anschließend noch stärker vernachlässigt.» Und so fort; wir kennen das Lied, es heißt: Die Armen werden immer ärmer. Nun will man sogar ein Fahrverbot für Zweiräder aussprechen, weil sich die Islamisten per Motorrad fortbewegen. Carayol zitiert einen Exgeneral: «Alle in diesen Gegenden nutzen Zweiräder. Sie zu verbieten bedeutet, Hirten und Händlern die Arbeit unmöglich zu machen. Viele lokale Märkte werden nicht mehr funktionieren. Und wenn der Staat die Wirtschaft erstickt, werden sich auch anständige Leute den Dschihadisten zuwenden.» Ja, genau.

Dabei hätte Mali doch so viel zu bieten für den internationalen Weltmarkt, notabene dieses absolut seltene Gut: Sand! Die könnten doch eine Sand-Pipeline bauen nach Abidjan!

Ich nenne solche Artikel nicht Berichterstattung, sondern polarisiertes Gejammere. Sie verschaffen uns einige wenige Informationen, aber kaum Einsichten. Es sind im Kern die gleichen Meldungen wie jene aus Aleppo, welche sich so markant unterscheiden von den anderen Meldungen aus dem gleichermaßen zerstörten Mosul; aber dort war es eben nicht der böse Assad, welcher die Stadt zerstört hat, sondern die gute antiislamistische Allianz. Übrigens schafft es ebendieser Assad mit dem Gesetz Nummero zehn auf die Titelseite der Juli-Ausgabe, und zwar geht es darum, dass er mit diesem Gesetz, welches den Wiederaufbau nach dem Krieg zum Inhalt hat, unter anderem Enteignungen vornehmen kann. Wer sich dagegen wehren will, muss Besitzdokumente vorlegen, und wer kann das schon von den zirka 10 Millionen Geflüchteten? – Nun, in der Substanz wird dieser Bericht wohl zutreffen – bloß dass man nach einem Bürgerkrieg mit 500'000 Toten vernünftigerweise nicht Bezug nimmt auf eine Rechtslage, welche schon unter Friedens­bedin­gungen nicht ganz einfach durchzusetzen ist. Ich begreife diesen Reflex nicht, dem Assad einfach alles an den Hals zu montieren, wo doch die einfachen Vorwürfe der Unterdrückung der Opposition, des Einsatzes von Giftgas und was weiß ich noch weiter vollständig ausreichen. Aber dann würde sich vielleicht herausstellen, dass es sich dabei um Vorwürfe handelt, welche man in der guten Hälfte der Länder auf diesem Planeten ebenfalls erheben könnte, und dann wäre es wieder aus mit der Gelegenheit, einen echten Sündenbock vorzuführen, auf welchen man im Einklang mit allen anderen gut meinenden und eingebetteten Journalisten ohne Grenzen einhauen kann, ohne dass man sich allzu viele Gedanken machen muss darüber.

Wirklich, ich bin unterdessen richtig verärgert. Wenn ich Sätze lese wie: «In vielen Fällen bedeuteten die Schläge gegen Oppositionsgebiete, dass ganze Landstriche belagert und massiv bombardiert wurden, worunter vor allem die Zivilbevölkerung litt», kriege ich Ausschlag. Nicht weil ich solche Bombardements gut fände, sondern weil in einem Krieg und zumal in einem Bürgerkrieg die Zivilbevölkerung immer und per Definition am meisten leidet, wie uns schon der Herr von Grimmelshausen vor dreihundert Jahren vor Augen geführt hat. Und vor allem deswegen, weil diese Bombardements in der Regel nicht einfach so zum Piesacken der zivilen Bevölkerung durchgeführt wurden und werden, sondern weil sich dort Bürgerkriegstruppen aufhalten, welche mit ihren Kugeln, Mörsern und Granaten durchaus nicht weniger Leid unter der Zivilbevölkerung, zum Beispiel in Damaskus, angerichtet haben als die Regierungstruppen und die russischen Jets. Man darf durchaus Vorurteile haben, aber man sollte sie offen legen, anstelle sie in die Gestalt eines angeblich kritischen Artikels zu kleiden.

Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
17.07.2018

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