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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Paul Kagame

Gestern Montag verließ der chinesische Staatspräsident, den man aufgrund seiner Machtfülle, aber auch der Machtbeschränkung beziehungsweise der Definition seiner Macht durch unzählige Interessensgruppen auch den chinesischen Sonnenkönig nennen könnte, allerdings ohne dynas­tischen Ballast; verließ also Xi Jin Ping das ruandische Kigali nach einem zweitägigen Staatsbesuch wieder mit Pauken und Trompeten beziehungsweise im Lärm der auf vollen Touren laufenden Düsenmotoren.



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> Download Während also der ungleich weniger bedeutende Ministerpräsident Li Keqiang die sezessionistischen Oststaaten der EU sowie die EU selber besucht, beehrt die Machtzentrale Chinas Ruan­da, das in Sachen Kleinheit in Afrika nur noch von Gambia, Djibouti und Swasiland über­troffen wird. Was mag Xi Jin Ping dort gesucht haben? Selbstverständlich betreibt die Volks­re­publik China in Ruanda schon seit fast 50 Jahren Entwicklungspolitik, und dass man in Ruanda Sonderwirtschaftszonen analog zu jenen in China eingerichtet hat, dürfte auch kein Zufall sein. Trotzdem wird es sich nicht um eine Stippvisite zum Beispiel bei Michaella Rugwizangoga handeln, deren VW-Montagewerk mit ein paar hundert Fahrzeugen pro Jahr ohne weitere Fertigungsanlagen nur einer von mehreren tausend Legosteinen sein kann bei der Einrichtung eines sogenannten Wirtschaftswunders, wie es die Chinesen in Äthiopien hergestellt haben; in Äthiopien ist übrigens seit kurzer Zeit auch das politische Gesicht dieser Erfolgsgeschichte zu sehen mit der Freilassung der politischen Gefangenen und der Beilegung der Grenzstreitigkeiten mit Eritrea. Aber in Ruanda?

Vor Xi Jinping war ein weiterer Staatschef für fünf Tage zu Gast gewesen, nämlich Filipe Jacinto Nyusi aus Moçambique. Und nach dem Chinesen war die Reihe an einem weiteren Schwergewicht, nämlich am indischen Premierminister Narendra Modi, der als erster höchster Vertreter seines Landes Ruanda besucht. Er wird Kigali heute Dienstagabend wieder verlassen.

Viel Ehre für den kleinen Staat, also, die sich wohl vor allem dadurch erklärt, dass der ruandische Präsident Paul Kagame im Jahr 2018 den Vorsitz der Afrikanischen Union inne hat. Diese segelt übrigens in diesem Jahr unter dem Motto «Den Kampf gegen die Korruption gewinnen – ein nachhaltiger Weg zur Transformation Afrikas». Kagame hielt am 28. Januar eine bemerkenswerte Inauguralrede. Es gehe darum, den jungen Afrikanerinnen und Afrikanern den Zugang zu Wohlstand zu ermöglichen, was klassischerweise durch Industrialisierung erfolgt sei; heute aber sei diese Wachstumsstrategie, die vor allem in Asien ihre Erfolge gezeigt habe, für Afrika wahrscheinlich nicht mehr die richtige Option, weil man hier allzu lange zugewartet habe. Die Technologie hätte sich in den letzten Jahren derart rasch entwickelt, dass Afrika aufpassen müsse, den Anschluss nicht zu verpassen. Nun sei vor allem Größe und Masse entscheidend. «Wir müssen einen einheitlichen kontinentalen Markt bilden, unsere Infrastrukturen integrieren und unsere Volkswirtschaften mit Technologie anreichern. Das kann kein Land und keine Region alleine.» Dann nannte er drei einzelne Gebiete: die Vereinheitlichung des Lufttransportmarktes auf dem Kontinent, die ebenfalls Ende Januar dieses Jahres beschlossen wurde; dann soll noch in diesem Jahr eine kontinentale Freihandelszone geschaffen werden, und schließlich geht es um die Personenfreizügigkeit in ganz Afrika, welche ebenfalls möglichst rasch in die Tat umgesetzt werden soll.

Wie diese Initiativen vorankommen, weiß ich nicht; Organisationen wie der Afrikanischen Union ist es eigentümlich, dass sie gleichzeitig Produktionsstätten von Unmengen an heißer Luft sind, fast wie französische Universitäten, und Orte, an welchen Beschlüsse gefasst werden, die dann auch tatsächlich umgesetzt werden. Gleichzeitig handelt es sich offensichtlich um Kopien jener Pläne, welche der Europäischen Union zugrunde liegen, das müsste den Europäerinnen und Europäern eigentlich gefallen, auch wenn sie wissen, dass die Hindernisse auf dem afrikanischen Kontinent durchaus nicht nur in sezessionistischen Staatengruppen bestehen. Es zeichnet einen Präsidenten natürlich aus beziehungsweise ist geradezu seine Aufgabe, über diese Hindernisse hinweg zu blicken und strategische Ziele zu formulieren, während es ihn dann auch auszeichnen muss, die Hindernisse nicht einfach zu ignorieren. Bei dieser schwierigen Aufgabe kann die Unterstützung von anerkannten und potenten Alliierten, mag sein, nicht gerade wie Moçambique, aber doch wie China und Indien durchaus ein Gewicht haben. Was heißt da kann: Ganz offensichtlich hat Paul Kagame gerade hochoffiziell die Zustimmung von China und Indien für seine Pläne eingeholt und für alle in Afrika gut sichtbar erhalten. Wie gesagt: Mit der Strategie alleine ist die Entwicklung noch nicht garantiert, aber ohne Strategie ist es auch wieder nicht lustig.

Kagame gilt übrigens als guter Freund der Vereinigten Staaten, mindestens während der Amtszeit von Barack Obama; weiter gilt er als jene Person, welche als Chef der Front Patriotique Rwandais vor 25 Jahren das allgemeine Menschenabschlachten in Ruanda beendete und dann als Politiker das Verdienst hat, die gespaltene Gesellschaft zuerst als Vizepräsident und dann als Präsident einiger­maßen friedlich durch die vergangenen Jahre gesteuert zu haben. Selbstverständlich werden auch gegen ihn immer wieder Vorwürfe erhoben, unter anderem derjenige, dass Ruanda der größte Nutznießer der illegalen Rohstoffausbeutung im Nachbarland Kongo zu sein, was in jedem Fall zutrifft, auch wenn die Ursachen anderswo liegen, nämlich eben im Kongo selber, mit dem Ruanda allerdings mindestens die belgische Kolonialgeschichte teilt. Vor allem wird oft kritisiert, dass Kagame im Jahr 2015 die Amtszeitbeschränkung aufheben ließ, sonst hätte er letztes Jahr den Löffel abgeben müssen. Aus der Distanz von 6000 Kilometern, multipliziert mit einem profunden Nichtwissen über Afrika und im Speziellen über Ruanda, möchte man meinen, dass es nichts sei als lautere Vernunft, diese unzweideutig für Frieden und Ausgleich stehende Figur weiterhin an der Staatsspitze zu belassen und ihren Einfluss eben sogar auf den ganzen Kontinent auszuweiten. Das Theater der parlamentarischen oder gar direkten Demokratie bleibt vorerst sowieso ein Kultur­er­zeug­nis des alten Europas beziehungsweise des nicht sezessionistischen Teils davon. In anderen Weltgegenden wird tüchtig gearbeitet an und auch mit diesem Kulturerzeugnis, entweder an seiner praktischen Einrichtung oder aber an seiner praktischen Verballhornung.

Was übrigens Michaella Rugwizangoga und ihre kleine VW-Fabrik angeht, so bin ich einerseits versucht, sie zu belächeln, wie dies ein durchschnittlicher weißer Europäer nun mal tut, gerade angesichts von Frauen, denen derart offensichtlich eine dekorative Funktion zukommt, sei es von Seiten der VW-Werke oder vom WEF, dessen Chef Klaus Schwab sich sowieso immer gerne mit attraktiven jungen Frauen schmückt, welchen dann verschiedene hoffnungsvolle und gar gleich­berech­tigende Attribute des globalen Kapitalismus angeheftet werden, hinter welchen per Saldo nicht viel mehr als PR-Substanz steckt. Solche Zweifel werden zweifellos durch ihre Tätigkeit als Literatin in allen Sprachen verstärkt. Ich habe tatsächlich den Eindruck, Frau Rugwizangoga sei so etwas wie eine Figur in einem Puppentheater der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung, das in Kigali uraufgeführt wird. Aber für diese Haltung muss ich mich gleichzeitig selber ohrfeigen, denn sie ist nicht nur typisch post- und damit neokolonialistisch, sondern sie verkennt eben die Bedeutung des Theaters für die Gesellschaft. Wenn Frau Rugwizangoga in Kigali eine Unternehmerin tatsächlich eher spielt als dass sie all die verschiedenen Eigenschaften eines Sergio Marchionne oder Bill Gates tatsächlich in die Waagschale werfen kann, dann spielt sie es immerhin, und vielleicht ist die Aufführung so gut, dass daraus etwas für die ganze Stadt und das ganze Land werden kann. Was die Kultur selber angeht, wird man dann vielleicht eher auf Personen wie Louise Umutoni blicken, die sich mit ihrem Verlag Huza Press darum bemüht, Originalliteratur aus Ruanda zu veröffentlichen. Bisher war die Literatur über Ruanda geprägt von zwei Dingen: Sie stammte von Autorinnen und Autoren aus dem Norden, und sie war, logischerweise, praktisch ausschließlich auf den Völkermord in den 1990-er Jahren konzentriert. Das soll sich ändern. Auch wenn der Literaturpreis des Huza-Verlags mit seiner Preissumme von 1000 Dollar erneut eher puppentheater­haft dotiert erscheinen mag, so steht die Ernsthaftigkeit und durchaus auch die Bedeutung nicht in Frage.

Auf der Webseite Brittlepage, die sich mit afrikanischer Literatur beschäftigt, bricht der Betreiber Otosirieze Obi-Young übrigens in folgendes Lob aus: «Zwischen 1994 und 2016, als die UNO Kigali zur schönsten Stadt Afrikas erklärte, hat sich viel verändert. Das Land legte eine eindrückliche wirtschaftliche Entwicklung hin und wird heute die Schweiz Afrikas genannt. Die Tourismusindustrie boomt. Zunehmend entstehen Investitionsmöglichkeiten. Bekannt ist das Land auch für sein klares Bekenntnis zu Frauen in Führungspositionen. Im Parlament findet sich der weltweit größte Anteil an Frauen. In der Hauptstadt steht das erste flächendeckende 4-G-Mobiltelefonienetz von ganz Afrika zur Verfügung.» Und dann folgen noch zwei Bemerkungen zu Zensur und Unterdrückung der politischen Opposition. Von mir gibt es aus neutraler Sicht dazu auch noch eine Bemerkung: Die Schweiz Afrikas wurde Ruanda schon in den siebziger und achtziger Jahren genannt, vielleicht wegen der grünen Hügel, aber nicht zuletzt wegen der friedlichen Existenz oder Koexistenz von Menschen unterschiedlicher Stammeszugehörigkeit. In der Wikipedia-Lebensbeschreibung von Paul Kagame wiederum liest man, dass dieser schon 1962 als Fünfjähriger mit seiner Familie nach Pogromen gegen die Tutsi aus Ruanda fliehen musste; er wuchs in Uganda auf. Ob die Polarisierung zwischen Hutu und Tutsi heute tatsächlich und dauerhaft entschärft ist, bleibt eine Frage, welche nicht einmal von Wirtschaftswachstum und zunehmendem Wohlstand mit Sicherheit bejaht werden wird.

Nun mag ich eigentlich weder solch billiges Kassandra-Geschwurbel, unabhängig von seinem möglichen Realitätsgehalt, noch mag ich allgemein Bedrückungsliteratur. Vor ein paar Tagen habe ich mehr oder weniger aufs Geratewohl beziehungsweise aufgrund der Empfehlung einer angesichts meiner Frage nach einem gerade gern gelesenen Buch sichtlich überforderten, nicht Buchhändlerin, denn die wäre eben nicht überfordert gewesen, sondern Verkäuferin in einer Buchhandlung das mit dem Prix Goncourt 2016 ausgezeichnete Buch «Chanson douce» von Leïla Slimani erstanden. Es beginnt mit einem Satz, der mich an den Anfangssatz von «L'étranger» von Camus erinnert, «Aujourd'hui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais pas», hier nämlich: «Le bébé est mort. Il a suffi de quelques secondes.» Sachlich, fachlich, Todesmeldungen aus den entgegengesetzten Seiten von Mutter und Kind. Allerdings erzählt hier nicht das aus der Welt gefallene Subjekt von Camus. Es geht um die Ermordung von zwei Kindern durch die Babysitterin der Familie, welche zu einer Art von Ersatzmutter geworden ist. Nun – jedes Buch braucht einen Plot, und dass die Babysitterin die Kinder ermordet, kommt in den besten Familien vor. Beziehungsweise eben nicht; typbildend oder relevant ist sowas zunächst nicht, und die ersten Seiten ebenso wie zwei, drei Kontrollstellen weiter hinten im Buch erlauben keine solchen Schlüsse. Vielmehr identifiziere ich das Motiv als eine Art Vorschlaghammer, ein Attentat auf den Gefühlshaushalt, anhand dessen eine ansonsten diffuse Bedrückung der französischen gehobenen Mittelschicht wieder mal ins Wort gefasst werden kann. Vielleicht ist die Babysitterin dann auch noch eine Algerierin wie bei Camus, ich weiß es nicht, denn ich habe das Buch umgehend weggelegt. Wie gesagt: Bedrückungsliteratur mag ich nicht, und ich zweifle ganz neutral und objektiv auch ihre Existenzberechtigung an.



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Albert Jörimann
24.07.2018

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