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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Shumona Shina

Die Moslems haben es nicht nur in Myanmar schwer, auch in Indien kommt es regelmäßig zu Lynchmorden, weil sie, Holy Cow, heilige Kühe essen, während ihnen das Schwein bekanntlich unheilig ist, also sehr unheilig, nämlich unrein, und genau genommen stimmen die Moslems und die Hindus in ihrer Verehrung der Kühe also überein, wählen aber jeweils unterschiedliche Formen davon oder dafür.



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> Download Wie auch immer, Präsident Narendra Modi beziehungsweise seine Barathyia-Janata-Partei betreiben aktuell wieder mal Anti-Moslem-Hetze, die Kampagne für das Wahljahr 2019 steht unter dem Motto America First, nein, sorry, Hindu First, wie die Nachrichtenagentur Reuters das benennt. Die letzte groß angelegte Moslemverfolgung datiert aus dem Jahr 1993, wir kennen sie unter anderem aus dem Film «Slumdog Millionnaire», in Bombay beziehungsweise Mumbai, ein Pogrom, das auf Unruhen von Moslem folgte, die ihrerseits ausgelöst wurden durch die Zerstörung der 500 Jahre alten Babri-Moschee in Ayodhia durch einen hinduistischen Mob. Dazu aufgerufen hatte Lal Krishna Avani, ein Vorgänger von Modi in der BJP. Auf das Pogrom wiederum folgte die Rache in der Form von Bombenanschlägen auf verschiedene bekannte Gebäude in Mumbai, unter anderem auf die Börse, ausgeführt durch den moslemischen Teil der Unterwelt in Mumbai, und es ist bis heute nicht ganz klar, ob es sich bei den Auftraggebern um die üblichen Verdächtigen von Al Kaida und Konsorten handelt oder ob es eine unternehmerische Eigeninitiative der Mumpitzer Verbrechensbrüder um das D-Syndikat war. Diese, also die Gangs, spalteten sich anschließend in einen hinduistischen und einen moslemischen Zweig auf, und der Chefmoslem macht seither Ferien in Pakistan, was Pakistan selbstverständlich bestreitet. So weit, so klar und gut. Jedenfalls kocht der BJP-Chef vor den Wahlen die Animositäten wieder auf, ohne allerdings geradewegs eine Kristallnacht daraus zu machen, aber der Moslem hat es nicht immer und überall einfach auf dieser Welt, damit dies auch wieder mal gesagt ist.

Ich lese gerade das neueste Büchlein von Shumona Sinha mit dem Titel «Apatride», was man vielleicht weniger genau mit «Staatenlos» übersetzt als vielmehr mit «Entwurzelt», wobei dies nur eine Annäherung ist, Shumona Sinha hätte sicher «Déracinée» geschrieben, wenn sie genau das gemeint hätte, es geht aber nicht nur um Wurzeln, sondern eben auch um die in den Staat gefasste Kollektivität der Menschen, die in Paris aus einer unübersehbaren Menge an Kulturen und Kreisen stammen. Aus diesen Kollektivitäten, aus diesen Staaten, aus diesen Vaterländern ist sie hinaus gefallen. Das erzählende Ich der Autorin ist aufgeteilt in zwei Frauen, einesteils Marie, eine indischstämmige, in Europa aufge­wach­sene Adoptivtochter, welche zu Revolutionszwecken nach Indien zurückreist, und Esha, eine in Kalkutta beziehungsweise Golgatha oder Kolkata auf­ge­wach­sene Lehrerin, die in Paris unterrichtet, und zwar in der Banlieue. Letztere trägt die Hauptlast des Erzählerinnen-Ichs, sie ist eine Neuauflage der Übersetzerin aus «Amassons les pauvres», aber diesmal mit einer erwachsenen, mindestens aber ausgewachsenen Version jener Vorurteile, die bei der Übersetzerin noch als Vorurteile deklariert wurden. Jetzt stinken sie mehr oder weniger alle, die Moslems in der Schule und die Moslems auf den Straßen, durch welche Esha zu gehen gezwungen ist, sie stinken mindestens noch auf Seite ungefähr hundert, wo ich im Moment gerade stecke. Eshas Malaise wird noch verstärkt durch den Umstand, dass es ihr trotz dem Status als sozusagen mindere Intel­lek­tuelle nicht gelungen ist, in die Kaste der allgemein anerkannten Französinnen und Fran­zo­sen auf­zu­steigen; da sie keinen festen Freund hat, lastet ihre exotische Schönheit wie ein Stigma auf ihr; sie hat den Eindruck, überall als nicht dazugehörig wahrgenommen zu werden, egal, ob als Prostituierte, als Beute, als fremdes Objekt in Paris. Sogar wenn sie eine Einladung zu offiziellen Veranstaltungen vorweisen kann, wird sie von den Türwächtern behandelt wie eine Aussätzige. Den Grundton stimmt sie gleich im ersten Kleinkapitel mit dem Titel «Lehmschauer» an: Eine vergewaltigte, erwürgte und verbrannte Frau nimmt sich vor, aufzuerstehen und in die Stadt zurückzukehren.

Ich habe schon vor einer Woche über «Chanson Douce» gejammert als ein Exemplar von Bedrücktheitsliteratur, die ich in diesem Fall den französischen Kleinbürgerinnen und Kleinbürgern zuordnete als Ausdruck ihrer nicht formulierten Ängste vor ich weiß nicht was, vielleicht durchaus Moslems, aber im Grunde sind auch dies nur Marionetten, Puppen, Scharaden einer anderen Angst, die ich durchaus als reine Ausdünstung eines chemischen Prozesses im Kopf identifiziere und mich in erster Linie dagegen zur Wehr setze, hier auch nur ansatzweise eine Interpretation anzusetzen; wenn schon, dann nur eine Trepanation, bitte sehr. Im Fall von Shumona Sinha handelt es sich zweifellos um ein Exemplar der gleichen Gattung, dessen Ängste interessanterweise genau darin bestehen, keinen Zugang zu haben zu den Ängsten der Gattung von vor einer Woche. Dies zum einen; zum anderen handelt es sich bei «Apatride» um eine, nicht unbedingt logische, aber doch mögliche Fortsetzung der Schriftenreihe, deren Anfänge mit «Fenêtre sur l'abîme», also Fenster nicht zum Hof, sondern in den Abyss, ich nicht kenne, die aber nach «Amassons les pauvres» zurück führte, naja, eben zu den Wurzeln nach Golgatha als Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Vater, dessen Kommunismus in Indien so tief im Bild der westlichen Hochkultur verankert war, dass auch die Tochter ganz von diesem Kulturbild durchtränkt aufwuchs und in Paris als dem Hochaltar eben dieser Kunst später ein grässliches Erwachen erlebte, ein Aufwachen in jener Realität, die eben nicht nur und nicht mal vor allem von der Hochkultur, sondern vom Gemisch der Populärkulturen bis in die inneren Stadtkreise hinein geprägt ist. In «Apatride» sind wir nun also zurück, und das kulturelle Ideal der Jugend ist noch intensiver, die Realität noch schmutziger denn je, sogar die Arbeiter, welche die Wohnung gegenüber renovieren, sprechen Esha anzüglich an und könnten sie jederzeit verfolgen, vergewaltigen, erwürgen und verbrennen.

Ich möchte an diesem Punkt einfach «Stopp!» rufen, es reicht, mindestens mir reicht es, wer in dieser Art und Weise privilegiert ist und sogar den Internationalen Literaturpreis in Deutschland erhalten hat, hat nicht das Recht dazu, diese Sorte von hilfloser Bedrücktheit, von Passivität, Leiden und Opferdasein zu zelebrieren, sondern er oder vielmehr sie ist dazu berufen, die Sachverhalte oder Probleme oder Missstände oder worum auch immer es sich handeln mag, produktiv zu benennen, mindestens seine Subjekte und Charaktere nicht in dieser Form hilflos und paranoid zu montieren, wie es eben auch keiner einzigen möglichen Form der Realität in Paris entspricht. Nein, so ist es nicht. Paris ist keine Stadt, welche alleinstehende, nicht erziehende, indischstämmige Schönheiten jagt und vergewaltigt, in welcher alle Beziehungen neben den mittelalterlichen Moslems nur auf mittelständische Kleinkulturelle kodiert sind, nein, mein Herr, so ist es nicht.

Nun, ich weiß nicht, wie es weiter geht, und trotzdem habe ich das Büchlein nicht weggelegt, sondern ich lese es portionenweise, was nicht besonders schwer fällt, denn es ist in solch kleine Kapitel-Portionen unterteilt, der Grund dafür ist aber nicht die Bedrückung, sondern vielmehr die Sprache selber. In Kalkutta ging jene Sprachgewalt, für welche ich «Amassons les pauvres» bedingungslos verehre, fast komplett unter, die mehr oder weniger ländlich geprägte Bilderwelt erreichte an keinem Zeitpunkt die Intensität von «Amassons», wohl schlicht aus dem Grund, weil die beschriebenen Farben und Gerüche bei uns typähnlich schon vor hundertfuffzich Jahren durchgenudelt wurden. Heute ist die Mission von Literatur in Europa genau jene, neue Bilder, Vergleiche, Beschreibungen zu finden – und Shumona Sinha zählt zu jenen, welche dies können, wenn sie über Europa schreibt, auch in «Apatride» wieder, nachdem dies wie gesagt in «Calcutta» weitgehend verloren ging. In diesem Umfeld sind eben auch abstraktere Formulierungen erlaubt wie jene: «Die menschliche Natur besteht wahrscheinlich aus mehreren Schichten, die voneinander nichts wissen. Dabei kommt es nicht auf Wahrheiten oder Lügen an; schmerzhaft sind aber jene Bereiche im Halbschatten, wo sie sich voneinander trennen oder aufeinander treffen, wo die nackten Enden der elektrischen Drähte hängen.» Oder an einer Stelle bricht die Nacht herein, was sofort korrigiert wird: Nein, sie bricht gar nicht herein, sie bricht eigentlich aus, diese Nacht. Solche schöne, gültigen Passagen finden sich im neuen Band immer wieder, sie entschädigen den Leser, nämlich mich, für den zunehmenden Ekel vor den einfachen Menschen aus den Vorstädten oder das chemisch induzierte Gefühl des Ausgeschlossenseins vom Treiben der Trägerinnen der Hochkultur.

Und vielleicht nimmt all das auch ein ganz anderes Ende, ich werde davon berichten, sobald ich soweit bin. Hier und heute dagegen hätte ich eine kleine Anmerkung zum Theaterspektakel um eure Fußball-Nationalmannschaft, nämlich mag man die behämmerten Ausfälle gegen Mesut Özil werten, wie man will oder muss, aber eines sind sie mit Sicherheit nicht, nämlich rassistisch. Wären sie dies, dann würde man den Türkinnen und Türken ja geradezu den Status einer eigenen Rasse zusprechen, was der Superjockel Erdogan sicher gerne in Anspruch nehmen täte, da könnte er sein Paschatum auch noch rassisch begründen; aber ich lege hiermit hoch offiziell und unwiderruflich Einspruch ein dagegen, weder der Türke noch die Türkin sind eine Rasse, Punkt, fertig. Kultur oder gar Kulturen haben und bilden sie, das steht fest, aber eine Rasse wie Perser oder Siam oder Langhaardackel sind sie nicht.

Dagegen erscheint es schon etwas eigentümlich, welche Gemütslage derzeit in Hinter- und Vorderbayern herrscht, dass der sonst doch durchaus normale Steuerhinterzieher Höness derart auf die deutschnationale Pauke haut nach den Seehofereien und den Söders. Die Spannung steigt, ob es der CSU im Herbst tatsächlich gelingt, unter die 30-Prozent-Marke zu tauchen und die Grünen an die Macht zu bringen. Mei, das wär schee.

Was haben wir sonst noch: Der Sonntagspresse entnehme ich, dass Deutschland mit 1.4 Millionen Flüchtlingen und Asylbewerberinnen in Europa die größte Anzahl an gewaltsam Vertriebenen beherbergt. Der größte Anteil entfällt weltweit auf die Türkei, wo 3.8 Millionen Flüchtlinge ausgewiesen werden, gefolgt von Jordanien mit knapp 3 Millionen, dem Gazastreifen und Westjordanland, wo allerdings die ganze Bevölkerung seit 60 Jahren als Flüchtlinge definiert wird, und dann kommt der Libanon mit 1.5 Millionen. In Prozent der Wohnbevölkerung steht, wiederum nach dem Gazastreifen und Westjordanland mit erstaunlicherweise nur 50%, Jordanien an der Spitze mit 28.7% vor dem Libanon mit 24.3%. Die knapp 4 Millionen in der Türkei machen 4.7% der Wohnbevölkerung aus; Uganda beherbergt mit ebenfalls 1.4 Millionen Flüchtlingen einen Anteil von 3.7% der Wohnbevölkerung, in Deutschland sind es 1.7%, und auch der Iran kommt mit ungefähr einer Million Flüchtlingen noch auf 1.2% der Wohnbevölkerung. Die Schweiz taucht in dieser Statistik auf mit einem Flüchtlingsanteil von 1.4% der Wohnbevölkerung, in Zahlen 117'000, und Italien bringt es auf 0.6% der Wohnbevölkerung mit 354'000 Flüchtlingen. In den USA leben im Vergleich 930'000 gewaltsam Vertriebene, was 0.3% der Wohnbevölkerung entspricht.

Die meisten Flüchtlinge vor Gewalt leben aber in den jeweiligen Ursprungsländern, am meisten erstaunlicherweise in Kolumbien; ihre Zahl wird mit 7.7 Millionen angegeben, noch vor den 6.15 Millionen Syrerinnen und Syrern, die übrigens mit 6.5 Millionen auch den größten Anteil an Flüchtlingen ins Ausland stellen.


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Albert Jörimann
31.07.2018

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