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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Jim O'Neill

Der britische Ökonom Jim O'Neill, der Italien schon seit den 1980-er Jahren kennt, schreibt in der spanischen Zeitung El Economista, dass Italien schon damals oft knapp vor der Zahlungs­un­fähig­keit stand und dass die währungspolitische Autonomie damals mit den regelmäßigen Abwertungen der Lira dazu beitrug, nicht nur die Industrie global konkurrenzfähig zu halten, sondern vor allem das Land vor den sogenannten Strukturreformen zu schützen; und dies wurde mit der Einführung des Euro unmöglich.



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Der Euro brachte aber immerhin tiefe Zinsen und Stabilität, was für eine richtige Wirtschaft auch nicht zu verachten ist. Aber die Strukturreformen wurden von keiner Regierung durchgezogen, von Matteo Renzi kann man immerhin sagen, dass er es versucht hat, unter anderem mit der Flexibilisierung des Arbeitsrechtes. Das erwähnt O'Neill zwar nicht, aber ich, weil ich wieder einmal daran erinnern möchte, dass es keinen Sinn hat, wenn man den einzelnen Arbeitnehmer und die einzelne Arbeitnehmerin über einen ewigen Kündigungsschutz zum Heiligen des Arbeitsmarktes erhebt. Es kommt immer wieder vor, dass vermeintlich radikale Linke den absoluten Kündigungsschutz fordern. Der Hintergedanke ist klar, man will sich die Unterstützung der Arbeiterklasse sichern, aber in der Sache muss man ausnahmsweise auf den alten Satz von Adorno zurückgreifen, der für den normalen Alltag völlig unbrauchbar ist und der da lautet: Es gibt kein richtiges Leben in Flaschen. Pardong, im falschen. Im kapitalistischen System ist ein kate­go­rischer Kündigungsschutz völliger Nonsense und führt im Rahmen der berühmten Schumpeterschen kreativen Zerstörung der Produktionsmittel nur entweder zum Untergang der Firma, welche nicht kündigen darf, oder aber dazu, dass die Firmen nie wieder irgendjemanden fix einstellen werden. Es ist Matteo Renzis Verdienst, diesen legalen Nonsense zu beseitigen versucht zu haben.

Von der aktuellen Mischung aus Rechts- und unpolitischem Populismus erwartet der Herr Professor keinerlei wirtschaftlichen Fortschritte. Vielleicht haben die Cinque Stelle tatsächlich ein paar Lösungsansätze, die sie aber für sich behalten, was, wie die Forschung lehrt, gerade die Substanz von Populismus ist. Wir müssen uns vorderhand damit begnügen, dass wir keine entsprechenden Vorschläge erkennen können, ebenso wie Jim O'Neill. Allerdings lehrt uns die Forschung auch, dass im Kapitalismus der neuen Sorte, es handelt sich vermutlich um die ungefähr zwanzigste und erneut stark revidierte und aktualisierte Auflage, bisher noch nie eine theoretische und praktische Einsicht zur Grundlage einer Wirtschaftspolitik und anschließend einer tatsächlichen Veränderung geworden ist, mit einer sehr großen Ausnahme, nämlich der Volksrepublik China. Aber das ist ein anderes Kapitel.

So oder so findet O'Neill, dass es eigentlich die Aufgabe der Europäischen Union wäre, Italien bei der Einleitung von Strukturmaßnahmen zu unterstützen. Das finde ich interessant. Jetzt müsste der Herr Professor aber seinerseits angeben, wie er sich das vorstellt. In der Regel werden Unter­stüt­zungs­maßnahmen der EU nämlich so eingerichtet, wie es den Mitgliedstaaten passt, was zum Beispiel in Italien dazu geführt hat, dass erhebliche Beträge aus den bereit gestellten Infrastruktur­mitteln gar nicht erst abgerufen werden, wie anlässlich des berühmten Autobahn-Brückeneinsturzes in Genua bekannt wurde. Wie sollte nun die EU erreichen, dass so etwas nicht mehr geschieht und dass die Damen und Herren mit dem italienischen Pass die entsprechenden Aufforderungen der Kommission akzeptieren, ohne dabei so etwas wie die berühmte Volkskrankheit Populismus zu entwickeln?

Professor O'Neill schweigt hierzu und macht ein paar vage Angaben zu Möglichkeiten der Nichteinhaltung der Stabilitätskriterien im Dienste des Wirtschaftswachstums, das heißt, er sieht das Strukturproblem Italiens als durch Wirtschaftswachstum lösbar an. Und damit steht die Leserin am Schluss des Artikels so da, als hätte sie das ganze Geschreibsel gar nicht gelesen, da sich weder die Prämissen noch die Folgerungen noch überhaupt irgendetwas halten lassen. Man stellt fest, dass sich neben der Volkskrankheit Populismus noch eine weitere Krankheit weit verbreitet hat, nämlich das Ökonomengefasel, auch in durchaus angesehenen bürgerlichen Ideologiegefäßen wie dem spanischen Economista. Der Artikel erschien übrigens zuerst im Project Syndicate, einer internationalen publizistischen Organisation, welche weltweit Dutzende von Zeitungen mit Kommentaren wie diesem bedient. Jim O'Neill war in einem früheren Leben Vorsitzender des Asset Management bei Goldman Sachs und in einem anderen früheren Leben Handelssekretär im Finanzministerium unter David Cameron.

Wir können sie nur an ihren Taten messen, all die Regierungen, und bis wir diese sehen, dauert es oft eine ganze Weile. Die Währung dafür sind in der Regel Budgetpositionen und ihr Rahmen sind die erwähnten Strukturen, hier vor allem die Gesetze und die Institutionen, welche man in Italien von Grund auf neu errichten muss, soviel sieht man vom Schiff aus, wenn man den Stiefel umsegelt. Immerhin sorgt die Dynamik unter den populistischen Bruderparteien manchmal für etwas Erheiterung, und hier spreche ich noch nicht vom Streit zwischen Lega und Cinque Stelle, dessen Ausbruch Luigi di Maio hinauszögert, bis sich Matteo Salvini selber so weit in die Scheiße geritten hat, dass er bei Neuwahlen nicht mehr über 15 Prozent hinaus kommt, und das kann noch einen Moment dauern. Nein, ich spreche von den Waffenbrüdern in Österreich, welche sich jetzt daran machen, den Südtirolerinnen und Südtirolern auf freiwilliger Basis den österreichischen Pass anzubieten. Diese Pointe ist neu, und ich applaudiere und gratuliere an dieser Stelle, ohne weiter auf die zugrunde liegende Besinnungslosigkeit einzugehen – wenn es klappt, könnt ihr in Deutschland das Gleiche ja mal mit dem Elsass versuchen oder mit den Sudetengebieten oder mit Schlesien. Wir freuen uns alle schon darauf, die AfD in der Regierungsverantwortung zu sehen.

Eigentlich möchte ich hier ja über Möglichkeiten einer politischen Theorie sprechen im Zeitalter des Überflusses und des Durchschlagens des Gedankenaustausches auch auf jene Hirnzonen, welchen man den Austausch bisher begründet verwehrt hat, also im Social-Media-Zeitalter, die allerdings vielleicht ihren politischen Höhepunkt bereits hinter sich haben, man weiß das nicht so genau. Aber ich muss zuvor noch einen Spruch zum Fall Kashoggi loswerden. Nämlich sieht man den türkischen Despoten Erdogan plötzlich in einer völlig neuen Rolle, nämlich jener der Wahrung von Menschenrechten und der Pressefreiheit in Hinter-Mittelalterstan, also auf der arabischen Halbinsel. Ich gehe davon aus, dass die Türkei tatsächlich wesentlich dazu beigetragen hat, dass die psychotischen Schübe der saudiarabischen Königsfamilie nicht zum sofortigen Untergang Katars geführt haben. Daran hatte ich nicht gedacht. Und dass der türkische Präsident gegenüber den saudiarabischen Hinterwäldler-Billiardären auftritt wie ein aufgeklärter Fürst, sagen wir mal im 18. Jahrhundert, gegen das verstockt katholische Spanien dieser Zeit, das hat für Historikerinnen und auch für Liebhaber von Schmonzetten aus der Zeit vor der französischen Revolution einen ganz partikuläre Reiz. An diesen Aspekt hatte ich natürlich nicht gedacht, als ich mich über seinen 1000-Zimmer-Sanssouci-Palast lustig machte und ihn mit allerlei verächtlichen Zipfel-Namen bezeichnete. In Erdogan steckt mehr drin, als sich der Durchschnittsbürger denken lässt. Eine großartige Posse, wie sich der Trottel, der alle richtigen Zeitungen hat schließen lassen und die kritischen Journalisten ins Gefängnis geworfen hat, nun plötzlich als Garant der Pressefreiheit im Islam auftritt. Ich applaudiere und gratuliere auch hier.

Einen Beitrag zur Bildung einer politischen Theorie will ich hier jetzt doch einschieben. Wenn man sich fragt, wie es kommt, dass feste Werte oder gar Tabus im gesellschaftlichen und politischen Umgang plötzlich wanken und fallen, gerade auf internationaler Ebene, wie das Beispiel des Angebotes eines deutschen Passes für die Bewohner des Elsass zeigt. Die US-Amerikaner wollen aus dem Atomwaffen-Sperrvertrag aussteigen, selbstverständlich unter der Begründung, dass die Russen den Vertrag schon längstens gebrochen haben – gäbe es ein Welt-Wahrheits- oder -Gerechtigkeitstribunal, so müsste jede Pressesprecherin des Weißen Hauses unmittelbar nach oder schon während ihren Auftritten elektrisch hingerichtet werden, und zwar nicht erst seit zwei Jahren. Aber man kann die entsprechenden Personen, sollten sie nun plötzlich Angst gekriegt haben, beruhigen: Ein solches Tribunal gibt es nicht, und auch die Saudis, die behaupteten, Herr Kashoggi habe das Konsulat in Istanbul bei bester Gesundheit verlassen, werden nicht zur Rechenschaft gezogen, so etwas darf nicht einmal das moderne Individuum bei sich selber verlangen. Dies wäre nun aber nicht der Beitrag zur politischen Theorie, sondern die Vermutung ist jene, dass der Fall all dieser sicheren Werte, der Sturz ewiger Wahrheiten auch eine wirtschaftliche Grundlage haben könnte, nämlich wie folgt: Als Folge der immer wieder erwähnten Globalisierung und Automatisierung ist die Versorgung der Weltwirtschaft und damit auch der Wirtschaften in den entwickelten Ländern mit den Gütern des täglichen Gebrauchs derart selbstverständlich und auch billig geworden, dass es keine Notwendigkeit mehr zu geben scheint, die dahinter steckenden Wirtschaftsbeziehungen zu schützen. Vor hundertfünfzig Jahren entstanden die nationalen Industrien in Nordamerika und in Europa, was die entsprechenden Nationen auch einte, aber bald untereinander entzweite. In zwei Weltkriegen wurde das ausdiskutiert, und vor gut sechzig Jahren bildete sich der übernationale Welthandel aus. Vor zwanzig Jahren zirka setzte die Pulverisierung jeglicher nationaler Dimension in der Wirtschaft ein, mit Ausnahme natürlich der Rahmenbedingungen, der immer wieder zitierten Institutionen und Gesetze; davon abgesehen aber hat die Wirtschaft ihre zivilisatorische Rolle ausgespielt. Auf der Grundlage der Massenproduktion kann sich sogar wieder eine neue Regionalisierung entwickeln, zum Beispiel Kleinbrauereien oder der Massenkult des Regionalen und Saisonalen, der sich zum Teil ausgezeichnet mit Umwelt­anliegen vereint. Dass aber die Einkäufer der wichtigsten Industrie-Wertschöpfungsträger heute nichts anderes tun als von Region zu Region, von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent zu reisen, um immer noch günstigere Produktions-Einzelteile zu beschaffen, die dann am Schluss in Deutschland zu Automobilen zusammengefügt werden, das ist hinter der Generalentwicklung, nämlich hinter dem Verschwinden der Bedeutung der Wirtschaft, immer mehr verschwunden.

Darum gibt es auch keine Wirtschaftstheorie mehr, welche ihren Namen verdient. Es gibt hier nichts mehr zu theoretisieren. Die Diskussion verlagert sich auf eine andere Ebene, und dort haben im Moment die Idioten die Nase vorne. Nicht aufgrund eines Plans, sondern weil sie im Moment einfach jene sind, welche diese Verlagerung zuerst instrumentalisiert haben, während die vernünftigen Menschen vorderhand noch auf der Ebene des sozialdemokratisch-kapitalistischen Stadiums feststecken.


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Albert Jörimann
23.10.2018

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