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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Abschaffel

Im Dezember 2018 ist der deutsche Schriftsteller Wilhelm Genazino im Alter von 75 Jahren gestorben.



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> Download Das Roulette des Schicksals wollte es, dass ich Anfang April dieses Jahres, aber durchaus nicht am 1., vor der Bücherwand eines befreundeten Übersetzers stand und, ich weiß gar nicht mehr ob auf seinen Rat hin oder aus purlauterem Zufall, den Roman «Abschaffel» aus dem Jahr 1977 in die Hand nahm. Zuvor war mir Genazino vom Namen her bekannt gewesen, nicht aber als Autor, ich weiß echt nicht weshalb; umso gespannter war ich auf die Lektüre. Es empfiehlt sich übrigens, damit ich dies wieder einmal loswerde, sich möglichst unsystematisch durch die Weltliteratur oder mindestens durch die Welt der Literatur zu lesen, so bleiben einem in jeder Lebenslage Überraschungen offen wie eben jene jetzt mit dem Abschaffel. Als erstes stieß ich in der Rowohlt-Taschenbuch-Ausgabe, und zwar der Erstausgabe aus dem Jahr 1977, auf den mit Bleistift vermerkten Ladenpreis: 25 Schweizer Franken stand da, und ein leichtes Zittern durchlief mich angesichts des dramatischen Zerfalls der Buchpreise seit jener Zeit. Bei Amazon erhalte ich das Dreifache dieses Produktes heute zum Preis von 25 Euro, also 30 Franken, und das Dreifache ist es deshalb, weil es sich bei «Abschaffel» um den ersten Teil einer Trilogie handelt. Der Preis für das Druckwerk ist also zwischen 1977 und 2019 von 25 Franken auf 10 Franken gesunken, dabei müsste er sich wegen Inflation, Geldentwertung und solchen Sachen verdoppelt haben. Soviel zum Thema Kaufkraft im Bücher-Bereich. In diesen Zeiten lief die Automatisierung im Druckerei- bzw. Setzereigewerbe so langsam an, was sich übrigens unter anderem darin manifestiert, dass offenbar keine Qualitätskontrolle mehr vorgenommen wurde; davon zeugen die zahlreichen Hurenkinder in einem ansonsten glatten Fließtext, und es zeugt auch die Tatsache davon, dass die Druckfarbe auf verschiedenen Seiten der Erstausgabe tüchtig am Verbleichen ist. Und das nach kaum 42 Jahren! – Aber die 1970-er Jahre waren sowieso jene Zeiten, in welchen der Kapitalismus reines Schindluder trieb, zum Beispiel im Automobilbereich; in Turin wurde in der Fabbrica Italiana di Automobili di Torino im Stadtteil Mirafiori ein Fiat-Modell mit dem Namen des Stadtteils hergestellt, von dem heute keine einzige Schraube mehr erhältlich ist, weil sämtliche Fahrzeuge inklusive Motorblock nach fünf Jahren komplett durchgerostet und nach zehn Jahren vom Rost vollständig aufgelöst waren, wobei sich von selber versteht, dass das Rosten als Prozess absichtlich und künstlich vom Hersteller erzeugt wurde – in der Natur kommt so etwas nicht vor, noch nicht einmal in der Natur des Automobilismus; wir können im Nachhinein in dieser Phase der Autoherstellung einen mecha­nischen Vorläufer der Betrügereien mit den Abgasen und ihren Messungen sehen. Gleich­zeitig bereitete sich der Kapitalismus in den Bürotrakten auf die Zukunft vor. Kürzlich erzählte mir eine ältere Frau, dass sie in dieser Zeit für TWA, eine längstens untergegangene US-amerikanische Fluggesellschaft, in Zürich an einem schwarz-grünen Terminal Buchungslisten in einen vermutlich Einfamilienhaus-großen Computer eingetippt hätte, welche per Telex übermittelt worden seien. Könnt ihr euch das vorstellen? So sah die damals aus, die Wertschöpfung, und dass man an solchen Wertschöpfungsketten nur beschränkt Freude und Erbauung fand, das ist auch Gegenstand des Romans «Abschaffel», denn der besagte Herr Abschaffel arbeitet tatsächlich in einem solchen Bürotrakt beziehungsweise in einem Großraumbüro, wo unzählige Zweiertische stehen, an welchen sich die Angestellten paarweise gegenüber sitzen und irgendwelchen Kram erledigen, über welchen ansonsten, das heißt bisher im Text keine weiteren Angaben gemacht werden. Es ist das gleiche Arbeits-Biotop, wie es zum Beispiel für Versicherungen schon in den 1950-er Jahren beschrieben wurde und wie man es vermutlich auch heute noch in erstaunlich vielen Firmen vorfindet. Oder aber man geht erst recht zurück in der Geschichte: Nach der Preisangabe und dem Impressum steht in der Originalausgabe ein Zitat von Franz Kafka aus einem seiner Briefe, nämlich: «Die Stunden außerhalb des Büros fresse ich wie ein wildes Tier». Und das ist selbstverständlich kein Zufall, Kafka spielt in diesem Buch eine wichtige Rolle, indem nämlich wie in einigen Stücken Kafkas verschiedene innere Prozesse dieses Bürolisten referiert werden, wobei sich diese Prozesse eigent­lich vor allem darin von jenen anderer Bürolisten unterscheiden, als sie hier referiert werden, wäh­rend sie bei allen anderen Bürolisten durchaus ähnlich auftreten mögen, aber niemand kümmert sich je darum.

Nun gut, sagen wir, es handelt sich um Prozesse auf einer bestimmten Ebene der Seelen-Zwiebelschicht dieses Abschaffel, welche man in der Regel nicht auf diese Art und Weise schildert. Abschaffel kann sich zum Beispiel über einen Knopf an seinem Hemdärmel echauffieren, wobei diese Erregung niemals gegen außen dringt, aber doch einen echten inneren Sturm beinhaltet, wel­cher ihn dann aber umgehend ermüdet, sodass er diesen Knopf sehr bald wieder vergisst, um sich einem anderen Gegenstand oder Ereignis zuzuwenden, das ihn innerlich sehr beansprucht, in der Regel eher negativ, aber es können auch vorübergehend Zustände echter Freude oder Entspannung eintreten, die ebenso schnell gelöscht werden wie alle anderen Gemütszustände. Grundsätzlich gilt jedoch, was in den ersten Sätzen festgehalten wird, ich zitiere: «Weil seine Lage unabänderlich war, musste Abschaffel arbeiten. Er war schon mehrere Jahre in der gleichen Firma beschäftigt; er war Angestellter, und er arbeitete in einem Großraumbüro, das die Firma vor zwei Jahren eingerichtet hatte. In dem Großraumbüro saßen sich alle Angestellten in Zweiergruppen gegenüber. Zwischen den einzelnen Schreibtischkomplexen standen Gummibäume und andere Topfpflanzen, über die Aschaffel gelegentlich lachen musste.» Auf diese Art lakonisch geht die Erzählung ihren Weg, zum Teil in einer durchaus kafkaesken Entfremdung, die ja eigentlich eher düsterer Natur ist, und trotzdem muss auch ich über den Abschaffel gelegentlich lachen, vielmehr: Ich muss immer mehr und zum Teil recht stark über den Abschaffel lachen, obwohl das Motiv der Einsamkeit des Individuums im Großraumbüro oder überhaupt in der Großraumgesellschaft inklusive Großstadt eben nicht a priori lustig ist und von Genazino auch nicht mit Effekt beschrieben wird. Kafka kommt mir zwangsläufig in den Sinn nach dem einleitenden Zitat; aber er ist auch in der Erzählung selber präsent, zum Beispiel in einer Zugfahrt von Frankfurt nach Mannheim zu seinen Eltern liest Abschaffel sogar ganz explizit die «Verwandlung» von Kafka, und Genazino macht sich den Spaß, die Erzählung zum Teil noch zusammenzufassen, wenn auch nur als Überleitung von Gregor Samsa zur eigenen Vaterfigur, aber immerhin, Genazino macht das mit sichtlichem Vergnügen. Im Depar­tement Einsamkeit kommt mir übrigens noch ein anderer Autor in den Sinn, nämlich Harry Mulisch mit «Archibald Strohhalm», der aber wie Kafka grundsätzlich viel düsterer ist, während es sich bei «Abschaffel» um einen letztlich komischen Roman handelt, ganz abgesehen vom titelgebenden Namen, der mich sowieso an Jean Paul erinnert, also an einen Schriftsteller, wie er weiter entfernt von Kafka nicht denkbar ist. Abschaffel, das tönt doch ganz wie Kuhschnappel. Die Komik entsteht allerdings ganz und gar eigenständig. Ihr erlaubt eine weitere kleine Passage. Nach einem Besuch bei seinen Eltern in Mannheim fühlt Abschaffel den Drang, ins Bordell zu gehen, es ist aber noch zu früh oder er ist im falschen Stadtteil, so betritt er ein einschlägiges Lokal. Ich lese: «Er ging in eine Bar, er war der einzige Gast, und er wollte sofort wieder hinausgehen. Er blieb, bestellte einen Korn, eine Animierdame kam heran, und Abschaffel hatte keine Lust, sich auch nur fünf Mark abnehmen zu lassen. Ich muss gleich weg zur Arbeit, sagte er, und die Frau ließ ihn in Ruhe. Er merkte, wie er zunehmend gespannt und unruhig wurde. Er war nicht darauf eingerichtet, Umstände hinzunehmen oder Verzögerungen zu verarbeiten. Entweder er fuhr sofort nach Frankfurt zurück, oder er ließ sich doch auf Umstände ein, und dies bedeutete, dass er in einen anderen Stadtteil über den Neckar fahren musste, um in die geschlossene Bordellstraße zu kommen. Beim Versuch, zu einer Entscheidung zu kommen, geriet er statt dessen in eine ihm gut bekannte Stimmung, in der er einen Großteil seiner Kindheit zugebracht hatte: sich durch etwas hindurchkämpfen müssen; vollständig vergessen, um was es eigentlich geht, nur irgendwie alles durchstehen. Abschaffel wurde schwer und wütend. Er trank sein Glas aus und war der Meinung, es müsste ihm dabei geholfen werden, auf der Welt zu sein. Eingekugelt und innerlich vollkommen stumm verließ er das Lokal und fuhr mit einem Taxi über den Neckar. Der Taxifahrer fing zweimal ein Gespräch an, Abschaffel blieb stumm. Mit der Zunge spielte er sich an den Zähnen, aber auch das wurde zu einer Anstrengung. Ein Heiliger hätte erscheinen und Abschaffel sagen müssen, es sei in seiner Lage das beste, nach Hause zu fahren, sich ins Bett zu legen und rasch einzuschlafen. Er bezahlte den Taxifahrer und stand vor dem Eingang der Bordellstraße.» Und später auf dem Rückweg nach Frankfurt liest Abschaffel im Zug wieder Kafka, beziehungsweise er sucht unter den Erzählungen eine erotische Erzählung und findet keine, was ihm absurd erscheint, Zitat: «Lächer­lich auch das: Erotik bei Kafka zu suchen. Wie aber kam Franz Kafka mit seinem Geschlechtsteil zurecht? Abschaffel wusste, Kafka war dreimal verlobt gewesen, und auch seine anderen Bezie­hun­gen zu Frauen waren sämtlich Katastrophen. Ausgerechnet Franz Kafka, der die Angst und die Pein so gut kannte und immer wieder neu suchte, verschloss sich vor der Beschreibung des Geschlecht­lichen, wo er soviel Angst und Pein hätte finden können und sicher auch fand. Dies dachte Abschaf­fel noch mehrmals, dann ermüdete er und schlief ein.»

Soviel hierzu. Dann noch die Meldung, dass ich endlich mal wieder eine Publikation gefunden habe, welche nach meinen Beobachtungen wissenschaftliche Methoden anwendet zur Berechnung des Anstiegs des Meeresspiegels, in erster Linie als Extrapolation der entsprechenden Entwicklungen in letzter Zeit, und zwar an der portugiesischen Atlantikküste im Westen, welche offenbar eine verlässliche Korrelation zum Meeresniveau auf der ganzen Welt hat, immer unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Meeresspiegel vollkommen UN-glatt ist und an den verschiedenen Orten durch zig Faktoren beeinflusst wird. Es handelt sich um die Arbeit «Assessment of Sea Level Rise at West Coast of Portugal Mainland and its Projection for the 21st Century» von Carlos Antunes, publiziert im Journal of Marine Sciences and Engineering vom 7. März dieses Jahres. Antunes sagt darin, kurz gesagt, einen mittleren Anstieg des Meeresspiegels um 1 Meter 14 Zentimeter bis Ende dieses Jahrhunderts voraus bei einer Bandbreite von einem Anstieg um 39 Zentimeter bis 1 Meter 89. Seine Hauptprognose entspricht einem durchschnittlichen Anstieg um etwa 1.5 Zentimeter pro Jahr.



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Albert Jörimann
30.04.2019

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