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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Ein griechischstämmiger Kanadier

Kürzlich fuhr ich im Speisewagen von Mailand nach Zürich am selben Tisch wie ein griechisch­stäm­miger Kanadier, der im Lauf der unterdessen noch dreieinhalb Stunden, welche diese Überfahrt oder vielmehr Unterfahrt, weil es ja unter den Alpen hindurch geht, noch dauert, doch ziemlich drei Mal 2.5 Deziliter Rotwein in sich hinein stopfte, was aber seinem Kommunikations­bedürfnis keinen richtigen Abbruch tat.



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Er sei Rohstoffhändler, in Südafrika aufgewachsen, sein Vater habe ihm eine Patek Philippe hinterlassen, deren Unterhalt er sich nicht leisten könne, und in Vancouver, und das fand ich eine eher interessante Aussage, hätten in den letzten Jahren derart viele neureiche Chinesinnen und Chinesen eine Wohnung als Anlageobjekt gekauft, dass man dort praktisch keinen erschwinglichen Wohnraum mehr finde. Ganz wie in Berlin!, dachte ich mir, und in München und überhaupt in vielen Städten, offenbar nicht nur in Europa, sondern der ganzen entwickelten Welt. Etwas später schloss ich Bekanntschaft mit einer weiteren Kanadierin, nämlich Leilani Farha, Uno-Sonderberichterstatterin für gutes Wohnen. Also wir kennen uns nicht persönlich, sie spielt einfach die Hauptrolle im Dokumentarfilm «Push» zum gleichen Thema der steigenden Mieten in den städtischen Kernzonen, neben den üblichen Fachexperten, in diesem Fall Saskia Sassen, Joseph Stieglitz und Roberto Saviano, der sein Gesicht unterdessen wirklich für jeden Furz hergeben muss – Anfang Juni schrieb er in der «Repubblica» sogar eine Ode an den mexikanischstämmigen Kalifornier Andy Ruiz, der mit viel Hüftspeck neuer Schwergewichts-Weltmeister im Boxen geworden ist. Die Geschichte von den ursprünglich investigativen Journalistinnen und kritischen Denkerinnen und Denkern, die mit der Zeit zu Markenzeichen ihrer selber werden und dann am Laufmeter in der internationalen freien Presse ihre eigene Marke bedienen müssen, wird weiter gesponnen. Womit ich im Übrigen keineswegs sagen will, dass etwa Roberto Saviano nicht recht hätte mit seinen Mafia-Reportagen oder dass sie gar falsch seien – bewahre! Menschen, die ihr Herz links tragen und einen kühlen Kopf bewahren, kann man in diesen Zeiten nicht hoch genug schätzen. Aber es wäre halt noch schöner, wenn sie der Versuchung widerstehen könnten, sich ihren Senf zu allen Themen links und rechts ihres Fachgebietes und zunehmen weitab davon abzapfen zu lassen. Klar, Saviano ist seit längerer Zeit nicht nur Investigativjournalist, sondern auch fest angestellter Kommentator bei der Repubblica, da verfügt er natürlich über die Lizenz zum Schreiben, worüber er will, ganz ähnlich wie ich hier in diesem freien Radio; trotzdem spreche ich ihm die Eignung zum Fachexperten in Sachen internationale Wohnungs- und Immobilien­spekulation geradewegs ab, ebenso wie Saskia Sassen und Robert Stieglitz, übrigens.

Mit Leilani Farha verhält es sich etwas anders, sie hat sich ihren Namen als Kämpferin für Obdachlose gemacht, da kennt sie mindestens diese Facette des Problems. Allerdings würde ich Obdachlosigkeit nicht zuvörderst als Folge steigender Mieten in den Innenstädten ansehen, sondern vielmehr als die Folge eines umfassenden Zusammenbruchs der betroffenen Individuen; Obdachlosigkeit gab es auch schon, als die Wohnungsmieten noch nicht so hoch waren, respektive: Die Wohnungsmieten waren auch schon früher nicht immer besonders günstig, und im Bereich der Obdachlosigkeit ist mir im Moment nur gerade Finnland geläufig, welches diese Frage mit dem Bau von günstigem, wo nicht überhaupt fast kostenlosem Wohnraum angeht, wobei die Obdachlosen verpflichtet sind, diesen Wohnraum einigermaßen in Ordnung zu halten, aber in Finnland gibt es tatsächlich ein recht ansehnliches Programm, das sich mit diesem Problem befasst, während in anderen Städten je nach Geschichte und Stadtregierung mit allerlei Notunterkünften gearbeitet wird. Was aber eben nicht direkt mit den explodierenden Mietzinsen zu tun hat.

Die Explosion der Mietzinsen ist nur auf einen Faktor zurückzuführen, nämlich darauf, dass es Menschen gibt, und zwar nicht einen, nicht einzelne, sondern viele Menschen, welche in der Lage sind, diese Mietzinsen zu bezahlen. Auf der Webseite zum Dokumentarfilm «Push» steht: Wir haben in Harlem, in New York, einen Mann getroffen, der 90% seines Einkommens für die Wohnungsmiete ausgibt. Dem­nächst wird er 3600 US-Dollar pro Monat bezahlen. Zur genauen Größe dieser Wohnung erfahren wir nichts, nur dass sie zwei Schlafzimmer enthält; unterstellen wir mal, dass da auch noch ein Living Room dabei ist, vielleicht ein Entrée und eine Kochgelegenheit, und dann werden wir tatsächlich bei einer hohen Miete für diese 3- oder 4-Zimmer-Wohnung stehen, aber einen Anlass, um darüber einen ganzen Dokumentarfilm zu drehen, sehe ich noch nicht – solche Apartments konnte man schon früher für viel mehr Geld mieten. Aber es gibt einen Knick in der Argumen­tation: Wie soll dieser arme Teufel in Manhattan denn mit 360 Dollar für den Rest über die Runde kommen? Von der Armentafel?

Die Antwort ist: Das geht gar nicht, dieser Mann ist eine Fiktion, eine, die es vielleicht unter einer Million einmal gibt, aber gerade deswegen ist er eine Fiktion. Die meisten Menschen können sich weder in New York noch in München einen Mietzins von 3600 US-Dollar pro Monat leisten, und was geschieht dann? Sie beziehen eine Wohnung in einem Außenquartier oder vielleicht in einer Vorortsgemeinde, wo sie immer noch anständige, aber doch fürs Budget tragbare 1100 US-Dollar oder Euro bezahlen. Denn auch diese Wohnungen werden gebaut, die billigeren, die sich in immer größeren Kreisen nicht um die Dinge, aber doch immerhin um die Großstädte ziehen. Und auch diese Tendenz ist keine Erfindung des ultramodernen Kapitalismus 04, sondern eine uralte.

Versteht mich richtig: Ich will das nicht verteidigen, aber zunächst ist das mal einfach eine normale Marktentwicklung im Kapitalismus, und zwar findet sie dort statt, wo hohe Löhne bezahlt werden. Dass diese nicht an alle bezahlt werden, ist selbstverständlich, aber es gibt doch genügend Leute mit anständig Knete, sonst würde sich das gar nicht so ereignen.

Wenn man nun dagegen etwas tun will, dann sollte man zwei Dinge anpacken: erstens die Argumentation, denn nämlich gibt es vermutlich schon eine Art von Recht auf eine anständige Wohnung, aber es gibt ganz sicher kein Anrecht auf eine 5-Zimmer-Wohnung im Stadtzentrum für alle und für lau. Da bitte mal überlegen, was man als Begründung auffährt. Und zweitens, und das ist ziemlich elementar: Die Städte sollten bitte die Oberhoheit über ihr Stadtgebiet erlangen, sei es über den Bodenbesitz oder über den Immobilienbesitz oder über den Wohnungsbau; und wer es durchaus subsidiär möchte, wer also nicht möchte, dass die Städte selber Wohnungen hinklotzen, der soll sich bitte an die flächendeckende Gründung von Wohnbaugenossenschaften machen. Als Beispiele mögen Wien herhalten mit einem hohen Anteil an städtischen Wohnungen oder aber Zürich mit einem hohen Anteil an Genossenschaftswohnungen; sie machen ungefähr einen Viertel des gesamten Wohnungsmarktes aus, was diesem Wohnungsmarkt sehr gut tut. Und auch in Zürich verscherbelt die Stadt kein eigenes Land, auch wo sie es als Bauland zur Verfügung stellt, indem sie dies nämlich im Baurecht tut mit Verträgen, die auf 100 Jahre laufen, wonach das Land und die darauf errichteten Immobilien an die Stadt fallen. Das ist die beste mir bekannte Lösung, um im Rahmen des Kapitalismus Wohnungsbaupolitik zu betreiben.

Daneben kann man sich aber auch fragen, wie es kommt, dass immer mehr Menschen über anständig viel Geld verfügen. Ich behaupte seit einiger Zeit, dass dies ganz einfach eine logische Entwicklung beziehungsweise eine logische Auswirkung ist der ins unendliche gestiegenen Produktivität, des unglaublichen Reichtums unserer Gesellschaften. Unsereins spricht von diesen Gesellschaften meistens nach wie vor unter dem Rubrum der Ausbeutung, aber ich denke, wir müssten diese Perspektive ergänzen um eine Perspektive des Reichtums. Wie geht die moderne Gesellschaft mit einem Reichtum um, der sich nicht mehr auf eine dünne Einprozent-Schicht beschränkt? – Denn trotz den nach wie vor zunehmenden Ungleichheiten bei der Vermögensverteilung sind dabei die Armen eben absolut gesehen nicht immer ärmer geworden, sondern ebenfalls reicher, während der Reichtum der Superreichen in eine Sphäre entschwebt ist, die an und für sich keinen Praxisbezug mehr hat. Hin und wieder macht sich der Superreichtum auch im realen Leben bemerkbar, zum Beispiel im einleitend erwähnten Beispiel in Vancouver. Da muss die Stadt natürlich aufpassen und ihr Territorium ebenfalls schützen, wie vorher in Bezug auf das Bauland gesagt. Übrigens scheint es so, als würde dies der Stadtrat von Vancouver auch tatsächlich an die Hand nehmen, hat jedenfalls mein griechischstämmiger Kanadier bestätigt, als ich ihn darauf angesprochen habe.

Aber sprechen wir noch vom Unterschied zwischen Österreich und der Schweiz. Die Österreicherinnen und Österreicher haben den etwas kleiner gewordenen Fuzzi Hans-Christian Strache ins Europaparlament gewählt, und die FPÖ setzte seine angeheiratete Frau auf den 3. Listenplatz für die demnächst anstehenden Bundestagswahlen. Ich kann gar nicht sagen, dass ich das als Schande empfinde, mir bleibt einfach die Luft weg, wenn ich so etwas höre. Es ist völlig unbestritten, wie der Strache und der Gudenus alles verkaufen würden, worauf sie hoch und heilig schwören, wenn nur ein Gewinn für sie und ihre Partei herauszuschauen verspricht; aber die Einwohnerinnen dieses seltsamen Landes halten diesem Kotzbrocken zu schönen Teilen die Treue. Nun, ich nehme mal an, dass es sich nicht um eine solide Mehrheit handelt, aber dennoch.

Auf der anderen Seite möchte ich noch erwähnen, falls ihr das nicht schon in der Lügenpresse vernommen habt, dass am letzten Freitag in der Schweiz wieder mal ein nationaler Frauenstreiktag abgehalten wurde. Im ganzen Land beteiligten sich ungefähr eine halbe Million Menschen an dezentralen Veranstaltungen, allein in Zürich waren es deutlich über 100'000 Stück, die da in durchaus nicht besonders deprimierter Stimmung die faktische Gleichstellung von Mann und Frau forderten, nachdem die Gesetze das ja nun schon länger vorschreiben. Eine lustige, farbige Massenveranstaltung, die letztlich im Namen der reinen Vernunft stattfand. Ich denke, das ist in der aktuellen Situation der echte Unterschied zwischen der Schweiz und Österreich, und ich möchte mir wünschen, dass in Österreich die Österreicherinnen demnächst mal ebenfalls das Szepter in die Hand nehmen und diese Ekelpakete mit einem einzigen, gewaltigen Frauenprotest wegfegen. Das wäre schön.

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Albert Jörimann
18.06.2019

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