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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Internationale Spaziergänge

Das Schöne an der fortschreitenden Zeit ist, dass man immer wieder die gleichen Sachen lernt, zum Beispiel dass die fantastischen Gipfeltreffen der wichtigsten Staatschefs der Welt umfassende Lachnummern sind, Aufführungen von Clowns, die sich als Artisten geben.



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> Download Gleichzeitig muss man sich immer wieder neu an der eigenen Nase fassen und sich sagen: Wie bitte? Dagegen haben wir mal im Ernst protestiert? So quasi, dass die Mächtigen der Erde ihre Macht so unwidersprochen zelebrieren können? – Nun ja, schreiben wir es unserer romantischen Veranlagung zu, und sagen wir es so, wie es ist: Mit diesen Protestveranstaltungen haben wir immerhin ein gewisses, kleines Publikum weltweit für die Fragen der globalen Politik sensibilisieren oder sogar mobilisieren können, und zudem haben wir für kurze Momente das Gefühl der Solidarität geschaffen, was auch nicht zu unterschätzen ist. Die Existenz des modernen Menschen ist nur eine halbe ohne dieses Gefühl, ohne die Gewissheit, dass die Fragen, Freuden und Lasten des Alltags nur im globalen Rahmen verstanden und behandelt werden können, und dass es tatsächlich fast überall auf der Welt Leute gibt, welche dies auch so sehen und ähnliche Ansätze verfolgen wie wir selber. Das gehört tatsächlich zum großen Spiel. Bloß die Inszenierung der Gipfeltreffen behauptet etwas anderes, kurz gesagt, dass irgendwelche Lösungen nicht um der Lösung willen zu finden sind, sondern damit dabei die einzelnen Akteure ihren Einflussbereich nach Möglichkeit ausdehnen können, ganz unabhängig von der Aufgabe, die vorliegt.

Und dann gibt es noch ein paar Vollidioten wie der brasilianische Präsident, der, wohl nicht im Ernst, aber trotzdem behauptet hat, die Umweltorganisationen hätten jene Waldbrände angefacht, welche die Vorhut der organisierten Agrarunternehmen auslösten, kaum hatten sie von Bolsonaro den Wink dafür erhalten. Was kann man gegen solche Figuren unternehmen? Abgesehen von Amok und Terror, die man angesichts von Bolsonaro und Konsorten vielleicht doch besser begreift als verzweifelte Versuche des Individuums, sich gegen die eigene Ohnmacht zu wehren, von welchen aber trotzdem grundsätzlich abzuraten ist aus verschiedenen Gründen, davon abgesehen also lässt sich das Übel nur so anpacken, dass man solche Typen gar nicht erst an die Macht kommen lässt. Dies wiederum ist eine idiotische Aussage angesichts der Tatsache, dass Bolsonaro soeben von der brasilianischen Wahlbevölkerung ins Amt gewählt worden ist. Das eröffnet dann wieder die Möglichkeit für eine Demokratie- und Volksschelte. Funktioniert Demokratie eigentlich erst dann richtig, wenn der Kapitalismus die ganze Welt zugrunde gerichtet hat, während zuvor die mächtigen und umweltzerstörenden Interessen dank ihren unbeschränkten Geldmitteln die öffentliche Meinung komplett im Griff haben? Sind Phänomene wie Bolsonaro, Trump und Johnson so erklärlich und eben mit dem Konzept der Demokratie zwangsläufig verbunden?

Der Hausarzt oder die Hausärztin rät in solchen Situationen zu gewissen medizinischen Präparaten, namentlich aus dem philosophischen Bereich. Eine Portion Stoizismus kann nicht schaden, wenn sie gleichzeitig eingenommen oder abgesondert wird mit der Bereitschaft, weiterhin an eine grundsätzlich positive Zukunft zu glauben und daran zu arbeiten. Eines Tages werden wir so weit sein, dass alle Menschen nicht nur genug zu essen, sondern auch eine individuelle Perspektive haben, und sie werden nicht zuletzt in regen Austausch miteinander treten, um sich an ihren Unterschieden zu ergötzen und davon zu lernen. In diesem Zusammenhang könnte zum Beispiel die UNO ein Programm einführen, welches einen regelmäßigen und sogar obligatorischen Austausch ganzer Bevölkerungsschichten, na, sagen wir mal immerhin von Schulklassen oder meinetwegen, weil es die in der Regel ja schon gibt, von Armeeeinheiten zwischen den Ländern betreibt. Das stelle ich mir ganz besonders reizvoll vor, wenn zum Beispiel die Bundeswehr mit einer Division nach Kamtschatka reist, während der Russe eine Panzerdivision in der Lüneburger Heide stationiert, alles mit friedlichen Zwecken und im Dienste der Völkerverständigung. Über die Details lasse ich selbstverständlich mit mir reden.

Ich war schon immer ein begeisterter Anhänger von solchen Formen des Austausches und stelle mir die sogar vor als konstituierenden Bestandteil einer jeden modernen Biografie auf dem ganzen Erdball. In regelmäßigen Abständen, sagen wir mal alle zehn Jahren, werden die Menschen zusammengerufen und für eine bestimmte Zeit in eine andere Weltregion verfrachtet, wo sie gewisse Aufgaben zu erfüllen haben, meinetwegen beim Haus- und Straßenbau, meinetwegen aber auch nur in der Form von ausgedehnten Reisen durch die Zielregion, wo sie von den lokalen Behörden und vor allem von der lokalen Bevölkerung enthusiastisch empfangen werden und an den jeweiligen Gebräuchen teilhaben, soweit das möglich und sinnvoll ist, also zum Beispiel auf Schafsaugen in der Mongolei würde ich dann verzichten. Aber so etwas lässt sich ja einrichten.

Mal was anderes: In Brandenburg geht die Allianz für Deutschland mit Willy Brandt auf Wahlwerbetour. Das ist nun aber schon hochgradig interessant. Es verweist auf ein Problem, das die SPD befallen hat, seit die CDU sozialdemokratische Politik betreibt. Die SPD ist keine erkennbare SPD mehr, und in der ehemaligen DDR kann sie auch nicht auf eine Stammwählerschaft zurückgreifen, die sich noch an die politischen Kämpfe um Arbeitnehmerinnen-Rechte, Frauen-Rechte und so weiter und so fort erinnert; im Osten kennt man die SPD-Praxis eigentlich nur von Gerhard Schröder her, und das heißt halt Hartz IV und Konsorten. Wo ist Willy Brandt geblieben, dem ja auch Radio F.R.E.I. immer mal wieder Reverenz erweist? Man kann es tatsächlich nicht so einfach sagen. Anderseits zeigt die bunte Mischung aus der Sehnsucht nach einer echten sozialdemokratischen Partei auf der einen Seite und den Versatzstücken einer Neonazi-Politik, wie sie zum Beispiel Adolf Höcke immer wieder formuliert, dass die Allianz für Deutschland ihre eigene Identität durchaus noch nicht gefunden hat. Und dann wird auch deutlich, dass auch die CDU am rechten Rand einen gewissen Preis für ihre Sozialdemokratisierung zu bezahlen hat, den sie aber offenbar leichter verkraftet als die inhaltslos daher taumelnden ursprünglichen Sozialdemokraten. Dass dagegen das AfD-Kuddelmuddel überhaupt möglich ist, in erster Linie in seinen nationalsozialistischen Bestandteilen, kann man nicht anders werten als Beleg dafür, dass die Nazi-Vergangenheit im Westen eben doch deutlich gründlicher aufgearbeitet wurde als in der DDR, welche sich per Definition als antifaschistisch gab und es so gar nicht nötig hatte, sich mit den eigenen Mitläuferinnen und Mitläufern und vor allem mit der nationalsozialistischen Ideologie auseinanderzusetzen. Ich kann es mir nur so erklären, dass man heute in Dresden Punker sieht, die nationalistische und ausländerfeindliche Parolen brüllen und von sich im Ernst meinen, sie seien Systemgegner. Das ist ein Irrtum, dear Punks. – Immerhin verspricht der offensichtliche Mangel an Kohärenz in der AfD für die nächste Zukunft recht gute Unterhaltung, wenn man die Sache aus der gebotenen Distanz von 1000 Kilometern anschaut.

Übrigens haben wir rund um den letzten Zirkus-Gipfel in Biarritz doch noch zwei Ereignisse vermerkt, die mittelfristig gewisse Auswirkungen haben könnten, zum einen den Besuch des iranischen Außenministers, welcher möglicherweise den Auftakt für eine neue und befriedigendere Definition der Kräfteverhältnisse zwischen Teheran und Tel Aviv sein könnte; zum anderen die Anstrengungen von Emanuel Macron, die Isolation Russlands aufzubrechen. Während ich in Bezug auf den Nahen Osten skeptisch bleibe, da die korrupte Regierung Netanyahu alles unternimmt, um Israel zu Groß-Israel auszubauen, was auch die größten Israel-Freunde nicht mit Begeisterung feststellen werden, halte ich die Entdiabolisierung Russlands für dringend geboten. Die Repressionen in Moskau sind zwar unter aller Sau, aber mit Sanktionen und dergleichen bringt man sowieso nichts zuwege, während die Annexion der Krim nun endlich einmal anerkannt werden sollte. Russland hat sich hier mit einem absoluten Minimum an Eingriffen das genommen, was ihm aus verschiedenen, in erster Linie weltpolitisch-militärischen Gründen auch tatsächlich zusteht. Vielleicht gelingt es dem ukrainischen Komiker, der seit kurzem an der Macht ist, dem Krieg in der Ostukraine ein Ende zu setzen, indem er dies anerkennt, dann steht der Normalisierung der Beziehungen zwischen Russland und dem Rest Europas hoffentlich nichts mehr im Wege. Ich denke, dass diese Normalisierung früher oder später auch eine Entspannung im innenpolitischen Bereich in Moskau mit sich bringt. Gleichzeitig würde dies für das Dreieck Russland–EU-China eine neue Ära einläuten, die man fast eine Ära der Vernunft nennen möchte, wenn man sich die schlechten Clowns auf den amerikanischen Kontinenten als Gegenstück ansieht.

Aber machen wir uns nichts vor: Der Weltgeschichte ist es weitgehend egal, welche Nummern im Politikzirkus gespielt werden; sie betreibt ihr großes Geschäft der Automation und Globalisierung mit großer Stetigkeit, und seit ein paar Jahren bringt die Digitalisierung zusätzliche Aromastoffe in die Debatte, über welche wir uns noch verschiedene Male unterhalten werden. Für mich ist es besonders wichtig, in dieser Debatte einerseits die Gefahren im Auge zu behalten, namentlich jene der vollständigen Überwachung und auch der Vertrottelung durch verschiedene Dienstleistungen, welche Computer und Roboter demnächst in voller Blüte anbieten werden; anderseits drängt es sich auf, die schönen Seiten zu sehen, namentlich der Wohlstand und die Befreiung von tendenziell allem, was uns nicht gefällt. Die Automatisierung und Digitalisierung unterstützt uns tatsächlich auf dem Weg hin zu einer Gesellschaft, in welcher praktisch alle Menschen ihre Bedürfnisse befriedigen können und ihre Fähigkeiten pflegen und auf- und ausbauen können. Im Moment sieht es eher so aus, als läge hier das größte Problem, nämlich dass das durchschnittliche Individuum im Moment gar nicht so viele Bedürfnisse und Fähigkeiten ausgebaut hat, wie man sie tendenziell befriedigen könnte. Was all jene Menschen tun sollen, die von Rechnern und Robotern von ihren Arbeiten befreit wurden, das müssen wir erst noch aushandeln, und zwar tun wir dies am besten nicht im Rahmen dessen, was uns die ökonomischen Zwänge von Arbeitsplatzsicherung und dergleichen vorzuschreiben meinen. Ich bin überzeugt davon, dass die Arbeitsplätze ganz automatisch entstehen werden, wenn wir uns nur darauf einigen, in welchen Bereichen. Ökologie ist im Moment ein ziemlicher Heuler, aber wir können uns auch die Intensivierung der zwischen­mensch­lichen Beziehungen zum Ziel setzen, eben, wie schon gesagt, durchaus auch auf einer absolut internationalen Ebene.



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Albert Jörimann
27.08.2019

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