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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Anfang Februar

Abgesehen davon, dass die grüne Komponente in der österreichischen Politik beziehungsweise in der neuen österreichischen Regierung noch sehr blass bleibt, man möchte von pastellfarben oder Rudolf-Steiner-haft sprechen, droht der alte Jungkanzler beziehungsweise der junge neue Alt­kanzler Kurz jetzt mit dem Veto, ...



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> Download ... falls die Europäische Union ihren Mehrjahresplan 2021 bis 2027 mit mehr als einem Prozent der Wirtschaftsleistung finanzieren will, und er behauptet, dass sich auch Deutschland, die Niederlande, Schweden und Dänemark gegen den Budgetvorschlag mit 1.1% der Wirtschaftsleistung zur Wehr setzen werden. Wir erwarten mit mehr oder eher weniger Spannung den Ausgang der entsprechenden Verhandlungen und gehen davon aus, dass der Unterschied zwar wohl ein paar Milliarden ausmacht, aber letztlich nicht über den Fortbestand oder den Untergang der Europäischen Union entscheiden wird, auch wenn dies im Moment nach dem Austritt Englands bei allen europäischen Diskussionen mitschwingt und auch von den Politi­ke­rin­nen in den Mitgliedstaaten kräftig instrumentalisiert wird. Dass Kurz allerdings schon jetzt Deutschland als Verbündeten zitiert, nachdem soeben Ursula von der Leyen als Kommissions­präsidentin instauriert wurde und voraussichtlich den Mehrjahresplan mit einem Vorschlag von 1.1% präsentieren wird, erscheint etwas vorlaut. Frau von der Leyen wird sich wohl auf Telegram eher mit Frau Merkel austauschen als mit Kollege Kurz. Aber alle wissen, dass Kurz für das österreichische Publikum spricht; niemand schert sich morgen noch darum. Dertweil meint der tschechische Premierminister Babis, dass es sinnlos sei, die Summe der verfügbaren Mittel für die zentralen EU-Programme auf 152 Milliarden Euro zu erhöhen, weil diese Gelder vor allem den EU-Nettozahlern zugute kämen. Die Visegrad-Länder verlangen mehr Geld für die Kohäsion und für Investitionen.

Der Brexit müsste eigentlich die verbliebenen Länder in der Europäischen Union stärker miteinander verbinden. Aber davon ist im Moment nichts spürbar. Unverändert deutlich tritt hervor,
wie die Interessen der einzelnen Länder beziehungsweise der einzelnen Sektoren, welche die Politik der Länder für sich instrumentalisieren, aufeinander prallen. Eben: Manchmal kommen noch unterschwellige Verweise auf einen möglichen Austritt dazu. Was England selber angeht, so bleibt der Europäischen Union nichts anderes übrig, als sich so gut wie möglich zu arrangieren, also in der Praxis den bisherigen Zustand weiterzuführen, auch nach Abschluss der Verhandlungen Ende des Jahres; die Länder und die Menschen sind derart intensiv miteinander verflochten, dass alles andere Unsinn wäre. Nun, wenn sich alles gleich bleibt, so kann man die EU sowieso grad auflösen, könnte man da argumentieren. Aber mehr als ein Gedankenspiel ist so etwas nicht. Jene Interessengruppen, die jetzt die EU-Politik der Länder für sich zurechtbiegen, würden in einer neuen Konstellation im Inneren der jeweiligen Länder schnell dafür sorgen, dass es wieder Zölle hagelt und dass umgehend wieder eigene Normen entwickelt werden, welche die nationale Industrie beziehungsweise den nationalen Handel schützen. Das wäre ein echter Rückschritt, aber man braucht damit auch nicht zu rechnen. Die erwähnten Interessengruppen haben sich unterdessen ganz anständig zurecht gefunden in der EU, wobei im Moment gerade mal wieder Umdispositionen anstehen, eben auch im Rahmen der Mehrjahresplanung, es geht um handfeste Auseinandersetzungen über Kohäsions- und Landwirtschaftsmilliarden und um die Einrichtung einer neuen Interessengruppe Umweltschutz. Dagegen wehrt sich wiederum Bulgarien, das die Produktionskapazitäten seiner Kohlebergwerke mit allen Mitteln verteidigen will. Trotzdem handelt es sich hier um Konflikte im Rahmen der üblichen Streitigkeiten, wie sie auch in den Mitgliedsländern an der Tagesordnung sind. Man sollte so etwas nicht überschätzen, auch wenn eben gerade im Moment das Musterbeispiel eines zentrifugalen Exzesses zelebriert wird.

Irritierend sind immer wieder die erwähnten Untertöne, die leisen Austrittsdrohungen, ohne welche eine anständige Politik in den Mitgliedstaaten unterdessen offenbar nicht mehr zu machen ist. Damit muss man sich abfinden, es sind Elemente, wie sie in Kriminalfilmen für Spannung sorgen. Allerdings hatte man sich Politik ursprünglich mal anders vorgestellt, und die Tatsache, dass ein ansehnlicher Teil der Bevölkerung auf dieser Ebene nicht nur angesprochen wird, sondern angesprochen werden muss, ist ein seltsames Phänomen unserer Zeit. Offenbar kann man in der Politik mit niemandem mehr in vernünftigem Ton sprechen. Nagut, was heißt das schon; wir machen seit Jahren die Erfahrung, dass der vernünftige Ton allein nicht für konkrete Ver­bes­serun­gen sorgt. Da mag eine Partei, nehmen wir als Beispiel die Linke, noch so vernünftige Einlassungen machen, Tag um Tag, und dort, wo sie an der Regierung ist, auch eine vernünftige konkrete Politik, soweit es in ihren Möglichkeiten steht, aber letztlich machen auch ihre Wählerinnen und ihre Vertreterinnen ständig die Erfahrung, dass sich am Grunde der Moldau oder im Kern der Sache nicht wirklich etwas ändert. Diese Erfahrung trägt maßgeblich dazu bei, dass man sich schließlich entnervt einfacheren Vergnügungen hingibt, was bis zum Aufsaugen populistischen Blödsinns gehen kann. Insgesamt erscheint das ganze Geschehen im Moment gerade im Bereich der demokratischen Willensbildung ziemlich unordentlich.

Ich für mein Teil bleibe dabei: Dringend notwendig ist ein neues politisches Programm, mit welchem die neue Organisation der modernen Gesellschaft unter den Bedingungen des Reichtums vorgeschlagen wird. Ganz neu wird man nicht beginnen müssen; die Gewaltenteilung ist ein mehr oder weniger unbestrittener Grundsatz, die Erhebung von Steuern ebenso, dagegen gibt die politisch-administrative Gliederung zu diskutieren, und noch weitgehend unbeackert ist der Komplex der Meinungsbildung unter den Umständen der modernen Kommunikationsmittel. Dies als Beispiel. Also könnte sich eine Gruppierung oder auch eine bereits bestehende Partei mal zur Aufgabe machen, so etwas in der Breite anzudiskutieren und dann mit Spezialistinnen zu verfeinern. Die Wahrheit ist konkret, heißt es doch schon seit eh und je.

In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, weshalb die Diskussion über die Verteilung von Einkommen und Vermögen im Moment weitgehend verstummt ist. Einesteils ist es eine Folge des allgemeinen Wohlstandes, das versteht sich von selber; wenn alle genug zu essen haben, auch wenn sie es sich im Aldi beschaffen müssen oder zur Not auch an der Tafel, wenn alle über warme Kleidung und über ein Dach über dem Kopf verfügen, sind die Verteilungsfragen in der alten Form schon mal abgehakt. Auch hier ist eine neue Form zu entwickeln, welche sich nicht einfach an den Beträgen orientiert, sondern an den Möglichkeiten, die mit den großen Vermögen verbunden sind, mit dem gesellschaftlichen Einfluss, aber auch schon ganz bescheiden bei den Möglichkeiten, welche einem Menschen mit höherer Bildung und damit mit höheren Fähigkeiten zur Erkenntnis und zum Genuss offen stehen. Seltsamerweise wird heute eher das Vermögen, auch anspruchsvollere Dinge zu genießen, als elitär angesehen, während verschiedene Figuren des öffentlichen Interesses zeigen, dass man auch ohne Stil und Geschmack stinkreich sein kann. Das ist ja auch in Ordnung, aber es ist keine Schande, wenn man zum Beispiel die Entwicklung eines musikalischen Themas in einer Symphonie nachverfolgen kann. Das ist auch nicht elitär, und zwar insofern nicht, als solche Strukturen grundsätzlich von allen Menschen erfasst werden können, wenn sie nur daran herangeführt oder darin geschult werden, so wie man sie in anderen Bereichen des Lebens zum Beispiel in Motorentechnik schult. Ich sage nur: Auch so eine Symphonie kann zur Not ganz schön brausen und orgeln, nicht nur ein Ferrari-Motor.

Dass die Verteilung der Vermögen etwas aus dem Licht der Öffentlichkeit gerückt ist, hat sicher auch damit zu tun, dass die modernen Kapitalistinnen nicht mehr wie vor 100 Jahren klar identifizierbare Besitzerinnen der Produktionsmittel sind. Vielmehr sind praktisch alle Firmen unterdessen Publikumsgesellschaften, an welchen die reichen Mitbürgerinnen und Mitbürger zwar Anteile halten und von denen sie Dividendeneinnahmen erzielen, die sie aber kaum mehr selber führen. Ganz abgesehen von dieser Dimension sehen wir mit einer gewissen Konsternation, die daher rührt, dass die Mechanismen wirklich nicht einsehbar sind, wie das Finanzkapital mit dem Realkapital Verbindungen eingeht und sie aber auch schnell wieder löst, deren Auswirkungen auf das Leben der Menschen zwar real sind, deren Ursprünge man aber kaum einmal nachvollziehen kann. Und insgeheim wissen die meisten, dass kaum mehr eine Gruppe in der Lage ist, die Kontrolle über solche Vorgänge zu erlangen; die haben unterdessen auch die tatsächlichen Eigentümer der Firmen seit geraumer Zeit nicht mehr.
Volkseigene Betriebe oder auch nur schon volkseigene Abläufe sind keine Perspektive mehr. Die wichtigsten Steuerungsmöglichkeiten liegen im Bereich, ja genau, der Steuererhebung, wobei dies etwas eigenartig bleibt, weil es eine Steuerkonkurrenz gibt unter den Staaten, auch in der Europäischen Union, und dann ist es intrikat, weil die mit den Steuern gewonnenen Einnahmen an den Staat gehen, und damit stellt sich die Frage nach der staatlichen Organisation, welche eben auch nicht in jedem Fall modernen Ansprüchen genügt. Wo dies nicht der Fall ist, weiß man immerhin, was man zu tun hat; wenn der Einsatz moderner Informatikmittel allein schon in Russland zu einer Verdreifachung der Steuereinnahmen in den letzten paar Jahren geführt hat, so wird doch mit ähnlichen Informatikmitteln auch eine halbwegs rationelle Abwicklung der administrativen Tätigkeiten möglich sein. Und mit rationell meine ich selbstverständlich ebenso speditiv wie bürgerinnenfreundlich. – Und dann bleibt die große offene Frage jene nach der Emanzipation, nicht nur der Arbeiterinnenklasse, sondern überhaupt aller Mitglieder der Gesellschaft. Das ist die Kernfrage in der Demokratie.

Aber eben, diese Themen werden im Moment nicht prioritär diskutiert. Da muss man halt etwas Geduld haben.



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Albert Jörimann
04.02.2020

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