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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Pause

Man hat auch in dieser Ausnahmesituation noch Gelegenheit, sich über die angeblichen Neo­libe­ralen, konkret über die verstocktesten und allerdümmsten Konservativen aufzuregen, und damit meine ich nicht einmal den Grenzfall von Nationalismus, nämlich die Schließung der Grenzen, das kann ich einigermaßen nachvollziehen, oder das Geheule von den Ausländerinnen, welche für das Coronavirus verantwortlich sind, nein, konkret meine ich die tatsächlich bei blonden Locken­köpf­chen wie Boris Johnson vorhandene Idee, man müsse jetzt die ganze Bevölkerung schnellstmöglich mit dem Virus infizieren, damit alle in ihrem persönlichen Körper ihre persönlichen Anti­viren­pro­gramme entwickelten, das sei die effizienteste Bekämpfung der Epidemie oder Endemie oder Pan­demie.



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> Download Dass sie dabei das Gesundheitssystem zum Kollabieren bringen täten, kommt ihnen nicht in den Sinn, weil sie dem Gesundheitssystem sowieso noch nie mehr als Verachtung entgegen ge­bracht haben, wir erinnern uns an die affektive und allergische Kampagne nur schon gegen Obama­care in den Vereinigten Staaten oder an die Verheerungen eben in Großbritannien, wo demnächst im Rahmen des vollständigen Vollzugs des Brexit wenigstens das polnische Pflegepersonal abge­zogen wird, was für euch in Deutschland wieder gewisse Hoffnung aufkeimen lässt, ihr, die ihr im selben Spital krank seid wie zahlreiche weitere Länder, was die Versorgung mit Ärztinnen und Spitälern und so weiter angeht. Bei euch hat die angeblich neoliberale, in Tat und Wahrheit aber nur bürokratische Regulierung mit Fall­pau­scha­len und allem, was dazu gehört, für eine drastische Unterfinanzierung gesorgt und für missliche Löhne und katastrophale Arbeitszeiten, was bekannt­lich die idealen Voraussetzungen sind für den Kampf gegen die aktuelle Supergrippe. Ja, man möchte, kann und darf sich aufregen über das Missmanagement der öffentlichen Hand im Gesundheitswesen, ein Verhalten, das angeblich dazu dienen sollte, die steigenden Kosten in Griff zu bekommen, in Tat und Wahrheit aber nur einmal mehr die weit entwickelte Fähigkeit der deutschen Verwaltung abspiegelt, sich in ein autopoietisches Organ zu verwandeln, wie man bei den Regularien im Bewilligungs- und Baurecht noch fast besser beobachten kann als im Gesund­heits­wesen.

Ja, auch dies! Man kann sich auch ärgern. Aber vor allem ist Staunen angesagt, ein fast ehr­fürch­tiges Staunen über den verordneten Stillstand, der ganz Europa erfasst. Zugegeben, so hatten wir uns das nicht vorgestellt mit der Wachstumskritik und mit der Senkung des CO2-Ausstoßes, eben­so­wenig mit der Kritik der international aufgeblasenen Finanzmärkte und überhaupt; aber dass das ganze System nun innerhalb von wenigen Tagen auf ein echtes Minimum herunter gefahren wird, ohne dass es zu weiteren Verwerfungen kommt außer jenen Ausstülpungen der Massenpsyche, die sich im Hamstern von Klopapier äußern, und natürlich dem massen­psycho­tischen Abstürzen der weltweiten Aktienmärkte, die sich mit Sicherheit erholen werden, sobald irgendwelche Anzeichen irgendeiner Normalität sichtbar werden, das finde ich absolut bemerkens­wert. Das ultimative Zei­chen für diese außergewöhnliche und außergewöhnlich positive Entwicklung findet sich in Bel­gien, wo sich die verstockten und verbockten politischen Parteien darauf geeinigt haben, mindestens für die Dauer der Corona-Krise dem Übergangsparlament volle Unterstützung zuzusichern, nachdem sich die französischsprachigen und die flämischsprachigen Parteiteile in den Wochen zuvor nicht entblödet hatten, auch dieses Thema zum Gegenstand ihrer Auseinandersetzungen zu machen. Jetzt haben sie eingesehen, dass auch die eigene Borniertheit an ihre Grenzen stößt im Fall eben von Endemien, Epidemien und Pandemien. Und das will wirklich etwas heißen.

Pause ist angesagt, selbstverständlich eine Pause vor einem teilweise tödlichen Hintergrund, indem das Coronavirus lebensgefährdend sein kann für ältere Menschen und Menschen mit schweren gesundheitlichen Problemen; für die Mehrheit der Bevölkerung halten sich die Risiken aber in Grenzen, wenn ich das richtig verstanden habe, und somit bedeutet es für sie eben eine Pause. Auch hier ist wieder zu relativieren, dass über dieser Pause die komplette Ungewissheit schwebt, wohin das Ganze führen soll, ob die Arbeitsplätze erhalten bleiben und die Löhne weiter bezahlt werden, und so weiter und so fort; aber insgesamt sieht es vorderhand einfach nach einer Pause aus. Das ist für diese hektische, auf stetige Steigerung angelegte Gesellschaft nicht nur neu, sondern auch wohltuend. Eine Woche, zwei, vielleicht mehr ganz unverplant – ich will nicht sagen, dass man diesen Unterbruch zur Gewinnung von welchen Einsichten auch immer nutzen sollte, aber er bedeutet schon eine einzigartige Zäsur. Das gefällt mir. Seltsamerweise zeigen sich hier auch die immensen Vorteile der elektronischen Kommunikationsmittel, welche ich unter normalen Umständen eher von der kritischen Seite her betrachte, aber hier sind sie es, welche einerseits den perfekten Virenschutz bieten, sogar unter Windows 10, und anderseits ermöglichen sie die Teilhabe am geistigen Leben in der großen weiten Welt, falls jemand die Lust verspüren täte, sich daran auch tatsächlich zu beteiligen, sie oder er könnten dann bei Reuters oder bei der Frankfurter Allgemeinen oder zur Not auch auf der affirmativen Seite euractiv.com die aktuellen politischen Vorgänge nach­vollziehen. Man hat Zeit zum Lesen, zum Filme kucken, in beschränktem Ausmaß auch zum Spa­zieren in kaum bevölkerten Naturgegenden... man möchte von idyllischen Zeiten sprechen, selbst­verständlich immer mit dem Pandemie-Vorbehalt, aber eben. Vorausgesetzt ist wie gesagt, dass die Löhne über die nächste Zeit hin weiter ausbezahlt werden, dass die öffentliche Hand Hilfs­struk­turen einrichtet, und zwar keine autopoietischen, für jene Menschen und Betriebe, deren Lebens­grund­lagen unmittelbar und sofort betroffen sind, zum Beispiel im Gastgewerbe; ich gehe mal davon aus, dass der moderne Staat bei all seinen autopoietischen Macken in der Lage ist, in solchen Situationen kurzfristig Hilfe anzubieten. Das ist ja auch eine Voraussetzung dafür, dass man den ganzen Laden wieder hochfahren kann, wenn die erste Gefahrenlage einmal ausgestanden ist.

Vorbehalten bleiben sodann all die weiterhin kritischen Verhältnisse neben dem Coronavirus, wel­che uns als Welt­bürgerinnen mehr oder weniger direkt betreffen, man kann sich hier einen richtigen Themenstrauß zusammenstellen. Mehr als anderswo fragt man sich in Bezug auf Italien nach dem Zustand des Gesundheitswesens, seiner Finanzierung und seiner Organisation; man fragt sich nach Zustand, Finanzierung und Organisation des Gesundheitswesens im Iran, dessen hohe Fallzahlen darauf hinweisen, dass doch einigermaßen flächendeckend auf COVID-19 getestet wird; man kann sich die Frage stellen, ob die Einstellung der großen Pilgeranlässe in Mekka und Medina nicht etwa einen Verstoß gegen den Koran darstellen, der Islamische Staat müsste sofort seine Attentate gegen die verantwortlichen Stellen in Saudiarabien richten, wobei mir hier allerdings noch vorher die griechisch-orthodoxe Kirche in den Sinn kommt, welche sich bis vor einer Woche geweigert hat, die Ausgabe von Wein und Oblaten aus gemeinsamen Gefäßen beim Abendmahl einzustellen mit der, religionstechnisch korrekten Bemer­kung, dass gegen Krankheiten jeglicher Art sowieso in erster Linie Beten hilft und nicht irgend­welche Medikamente; dies erinnert mich übrigens daran, dass im Moment in Montenegro ein ähn­licher Konflikt zwischen der serbisch-orthodoxen Kirche und Staat im Gange ist, wie er in Grie­chen­land schon längstens laufen sollte, nämlich in Bezug auf die Kirchensteuer, also die Steuern, welche die Kirche dem Staat auf ihren gewaltigen Besitztümern schuldet, während sie, man erinnert sich, in Griechenland nach wie vor die Einrichtung eines Grundbuches sabotiert, damit man auch ja und bloß nicht ihre Eigentümer zu Gesicht kriegt, welche sie wie Heiligtümer hütet beziehungs­weise wohl als die eigentlichen Heiligtümer. Wenn die Religionskritik sich hierzulande an den spröden und philosophisch mit ziemlich vielen Wassern, mit Ausnahme wohl des Weihwassers, gewaschenen protestantischen Theologinnen die Zähne ausbeißt, bei der Orthodoxie und auch im Vatikan findet sie nach wie vor überreichlich Futter, wobei hier noch anzufügen ist, dass die zweifellos fortgeschrittenste Theologie, eben die protestantische, gerade wegen ihrer Einsichten, unter anderem in die Religionskritik, auf einen schönen Teil ihres klassischen Einflussbereiches verzichtet hat, was vielleicht mit zur Verrohung gewisser Bevölkerungsteile beiträgt, wer weiß.

Zu größeren Diskussionen kommt es wieder im Zusammenhang mit den Syrienflüchtlingen, nach­dem der Erdopascha versucht hat, die EU mit der Öffnung der türkischen Grenzen für diese Flücht­linge unter Druck zu setzen und damit sozusagen ein Ventil zu schaffen für die ausbleibenden militärischen Erfolge im Südosten, in Idlib. Erdogan versucht schon seit längerer Zeit, wenigstens ein bisschen politisches Kapital zu schlagen aus den Flüchtlingsströmen in die Türkei, wobei er sie auch noch künstlich verlängert, indem er die Islamisten in Idlib militärisch unterstützt. Unabhängig von allen Fragen nach den Ursachen des Bürgerkriegs und dem Verschulden der Kriegsparteien ist im Moment die einzige Möglichkeit, diesen Krieg zu beenden, jene, dass die Regierung Assad zusammen mit ihren kurdischen Alliierten wieder die volle Kontrolle über das gesamte Land übernimmt, also auch über Idlib. Erst dann kann man den Wiederaufbau und die Rückführung der Bevölkerung an die Hand nehmen, und dies scheint mir die echte Lösung des Flüchtlingsproblems in Syrien zu sein, nichts anderes. Dass Erdogan, mit seiner Unterstützung der islamistischen Rebellen den Krieg und damit das Flüchtlingselend verlängert, hat sicher mit dem Kalkül zu tun, daraus Zugeständnisse der EU zu gewinnen, abgesehen von ein paar Quadratkilometern Land von den Kurdinnen und Kurden.

Auf der anderen, nämlich unserer Seite streitet man sich über die humanitären Grundsätze, welche Griechenland und die EU mindestens vorübergehend außer Kraft gesetzt haben. Ich halte das Vorgehen der EU mindestens für begreiflich, einesteils als Reaktion auf den Druckversuch der türkischen Regierung, anderseits aber auch mit Bezug auf die politische Lage innerhalb der einzelnen Länder der Union und nicht zuletzt zwischen diesen Ländern, vor allem, was die Ausbildung der Visegrad-Gruppe angeht. Innenpolitisch gesehen stellt sich die Frage, ob man humanitäre Grundsätze aufrechnen kann gegen die Skepsis gegenüber der Aufnahme weiterer Flüchtlinge. Das ist keine banale Frage. Fest steht, dass man jene Leute loben muss, welche sich weiterhin für die Flüchtlinge engagieren; ihre Stimme ist extrem wichtig in diesem ganzen Prozess. Daneben hat man triftige Gründe dafür, die erwähnte Skepsis ernstzunehmen. Es nützt nichts, im humanitären Sinne Recht zu haben, während die Mehrheit der Einwohnerinnen in eine andere Richtung davon galoppiert. Dass der türkische Staatspräsident aus genau diesem Dilemma Profit zu schlagen versucht, macht die Lage nochmals komplizierter.

Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
17.03.2020

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