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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Moral und Menschenrechte

Der slowakische Unternehmer Boris Kollar hat in der Slowakei die Familienpartei gegründet und ist mit dieser an der Regierung beteiligt. Es ist auch seinem Einfluss zu verdanken, dass das Arbeits-, Sozial- und Familienministerium letzte Woche entschieden hat, von den Geldern, die für Genderfragen bereit stehen, ansehnliche Beträge umzuleiten an Antiabtreibungsorganisationen, welche der Regierungskoalition nahe stehen.

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Die größte Gruppierung in der Regierung ist die Olano von Igor Matovic, einem Korruptionsbekämpfer ohne weiter bemerkenswertes politisches Programm, während die Familienpartei immerhin solide rechts­populistisch ist und im Europaparlament in der gleichen Fraktion angesiedelt ist wie Matteo Salvini und Marine Le Pen. Die Deutsche Welle schreibt von ihm was folgt: «Kollar ist vor allem mit migrationsfeindlichen Aussagen aufgefallen und persönlich eine schillernde Figur. Er hat zehn Kinder mit neun Frauen» – nebenbei bemerkt wäre es mir lieber, er hätte neun Kinder von zehn Frauen, das fände ich überzeugender, vor allem für einen Populisten, aber sei's drum – «ihm wurden in den 1990er Jahren Kontakte zur slowakischen Unterwelt nachgesagt, außerdem pflegte er in den vergangenen Jahren regelmäßig Kontakt zu dem Geschäftsmann Marian Kocner, der als Auftrag­geber des Mordes am Journalisten Jan Kuciak und seiner Verlobten Martina Kusnirova angeklagt ist», und unterdessen freigesprochen wurde, klar doch, wer sitzt denn in der Regierung, eben Boris Kollar beziehungsweise seine Partei. Alles schön und gut, aber weshalb müssen jetzt diese Vögel immer rechtspopulistisch sein und auch noch gewählt werden? Was zum Teufel reitet die Menschen in einigermaßen entwickelten Ländern wie der Slowakei, solchen offen kriminellen Lügnern nachzueiern? Nicht dass es im Nachbarland Österreich mit der FPÖ viel anders wäre. Jetzt hat sich herausgestellt, dass ein FPÖ-Politiker dem Wirecard-Betrüger Jan Marsalek bei der Flucht geholfen hat, selbstverständlich zusammen mit einem Beamten des österreichischen Geheim­dienstes. Was soll das? Man kann bekanntlich unterschiedliche politische Auffassungen haben und damit an die Regierung kommen oder in die Opposition gehen. Ja, man kann konservative Positionen einnehmen, aus welchen Gründen auch immer, man kann auch reaktionäre Positionen einnehmen, aber dass in entwickelten Ländern eine Klasse von Betrügerinnen politische Geschäfte macht mit einer Klasse von Wählerinnen, die nicht für 50 Cent zu denken bereit sind, das ist doch sittenwidrig. Immer wieder kommt mir dieser ungarische Familienideologe in den Sinn, der Szajer Josef mit seinem Gezeter nicht nur gegen die gleichgeschlechtliche Ehe, sondern gegen die Schwulen insgesamt, den man in Brüssel bei der Flucht von einer Schwulenparty ertappt hatte – nicht wegen des Schwulseins, selbstverständlich, sondern wegen Verstoßes gegen Corona-Auflagen. Trotzdem. Man kann aus welche Gründen auch immer eine homophobe Politik betreiben – in der Regel verweisen solche Allergien auf ein gerütteltes Maß an unterdrückter Triebenergie in diese Richtung hin, aber was solls, man kann tatsächlich eine homophobe Politik betreiben, aber sich dann mehr oder weniger im selben Augenblick selber homosexuellen Ausschweifungen hinzugeben, das ist für mich zu viel, das haut mir den Schnuller raus.

Das ist naiv, zugegeben; solch eine Naivität kann man sich nur leisten, wenn man nichts zu bestimmen hat. Oder vielleicht ist es moralisch, und Moral kann man sich nur leisten, wenn man nichts zu bestimmen hat. Moral ist etwas für die einfachen Menschen, aber eben: Wieso sitzen dann gerade diese einfachen Menschen wie du und ich den dümmsten Moralbetrügern auf? Offenbar taugt die Moral nicht viel im demokratischen Prozess, im demokratischen Schauspiel. Das ist auch soweit in Ordnung, schließlich geht es um handfeste Interessen und nicht um Moral; diese ist ein allgemeines Schmiermittel im Alltag der Gesellschaft und soll in erster Linie verhindern, dass die Menschen im Alltag beginnen, sich über den Tisch zu ziehen. Die Moral benötigt man dringend, um Gesellschaften in Städten von mehreren Millionen Einwohnerinnen friedlich am Funktionieren zu halten; fürs Geschäft kann man sie sich sparen. Und eben, dort, wo es am Platz erscheint, unter­mauert man seine Handlungen mit irgendwelchen moralischen Scheinargumenten, wobei die Vaterlands­liebe mit Sicherheit immer am besten zieht, was auch Wladimir Putin immer wieder bestätigt im Umgang mit seinen politischen und geschäftlichen Konkurrenten. Aber lassen wir Putin im Moment beiseite, der steht grad sowieso im Kreuzfeuer der Kritik, und zwar der Kritik der westlichen Medien, welche sich unter dem Vorwand von Menschenrechten sowieso überall einmischen, auch in Hongkong, als ob sie dort oder eben auch nur schon dazu etwas zu sagen hätten. Haben sie eigentlich nicht, ist nicht ihr Bier, nicht ihre Gesellschaftsstufe, nicht ihre Form der Organisation von Wirtschaft, Macht und Politik. Trotzdem berufen sie sich immer wieder auf die universelle Gültigkeit dieser Menschenrechte. Na gut, die meisten Länder haben die entsprechende Charta ja auch unterzeichnet, aber letztlich ist sie ein Papier aus westlicher Hand und damit aus der Hand der ehemaligen Kolonialisten und Imperialisten; man kann es durchaus so ansehen, als ob die Menschenrechte das letzte Instrument der Hegemonie des Westens sind.

Und wenn schon. Die Chinesen und die Russinnen und alle anderen verwenden ja auch die anderen Attribute des globalen Kapitalismus, da könnten sie sich auch an diesen Wurmfortsatz halten, es würde sie nicht besonders viel kosten. Aber das post- und antikoloniale Bewusstsein schlägt halt seltsame Kapriolen, bis hinein in die Rassismus- und Rassen-Debatte; habe ich kürzlich doch einen Vorwurf an einen Film über Schwarze gelesen respektive an dessen deutscher Version, dass die Synchronsprecherin nicht über eine ausreichend schwarze Stimme verfüge oder sowieso keine Schwarze sei. Das geht mir dann doch um mehrere Meter zu weit.

Ansonsten möchte ich in dieser Woche mal auf die, sozusagen menschenrechtliche Kommentierung verschiedener Anlässe auf der ganzen Welt verzichten, zum Beispiel des Berichts zu den Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien, den der Historiker Benjamin Stora dieser Tage dem französischen Präsidenten Macron vorgelegt hat. Ich weiß ja auch nicht, ob dieser zum Beispiel auf die französischen Atomtests in der algerischen Sahara eingeht, die von 1960 bis 1967 durchgeführt wurden. Oder auf das Wiederauftauchen der senegalesischen Studentin Diary Sow, die anfangs Januar aus dem Nobel-Gymnasium Louis-le-Grand in Paris verschwunden war und scheinbar bloß eine Auszeit genommen hat, im Gegensatz zu all den Vermutungen, die ihr Abtauchen ausgelöst hat. Sie war in den Jahren 2018 und 2019 als beste Schülerin Senegals ausgezeichnet worden. Oder von der Verurteilung des israelisch-schweizerischen Geschäftsmannes Benny Steinmetz, der ganz unmoralisch die guineische First Lady geschmiert hatte, welche ihm darauf hin die Förderlizenz für das größte Eisenerzvorkommen im Land zugehalten hatte, habt ihr sicher gelesen oder gehört und auch von seiner Verteidigung, dass ihm seine eigene Firma zwar gehöre, er aber nichts damit zu tun habe. Oder die jüngsten Scherze des serbischen Ministerpräsidenten Vucic. Die besten Scharaden unseres Erdopampels, der nach der antiarmenischen Triebabfuhr in Berg-Karabach nun doch wieder bessere Beziehungen zur EU herstellen will, weil er nämlich weiß, dass die für die Türkei deutlich profitabler sind als die Wirtschaftsoffensive im Maghreb. Und so weiter.

Stattdessen mache ich mir Gedanken zum, quasi inner-imperialistischen Schuldenberg beziehungs­weise zur Möglichkeit, dass die moderne kapitalistische Gesellschaft, nachdem ihr der produktive Schnauf ausgegangen ist, komplett auf Kreditgeschäfte umstellen könnte. Man hat solche Ansätze und Anläufe schon verschiedentlich beobachtet, aber kein Versuch hatte einen derart realen und umfassenden Hintergrund wie aktuell die Finanzierung der Wirtschaft unter Corona-Verhältnissen. Nachdem sich gezeigt hat, dass die verschiedenen Wirtschaftsstimulantien der letzten Jahre praktisch ohne Umwege in die Börsenkurse geflossen sind, kommt jetzt die andere Seite zum Zug, ohne welche das System halt doch nicht funktioniert: der Konsum und damit, sehr zum Missfallen von konservativen und anderweitig ideologisch geschlagenen Idioten, die weniger bemittelten Bevölkerungsschichten – es ist ja nicht nur die Angst davor, dass sich bei Gelegenheit auch die mal auf die Hinterbeine stellen könnten, sondern es ist eine pure wirtschaftliche Notwendigkeit, hier endlich mal ordentlich Kaufkraft zu schaffen. In den mittleren und gehobenen Schichten ist diese Kaufkraft schon längst verpufft, sie fließt seit geraumer Zeit und in zunehmendem Maß ebenfalls in die Kapitalmärkte; aber in den mittleren und unteren Einkommensklassen, da gibt es noch gewaltiges Potenzial. Wie sich so etwas organisiert, nachdem verschiedene ideologische Abwehr­dispositive aus, wie gesagt: Corona-Gründen durchlöchert und erodiert sind, das wird spannend zu beobachten sein. Der Zusatzcheck, den der US-amerikanische Präsident seinen lieben Mitlandleuten demnächst ausstellen wird, sofern er die entsprechenden Mehrheiten im Parlament findet, dürfte da nur ein kleines Müsterchen sein. Man muss diese Sache von Grund auf überarbeiten, vielleicht nicht einmal zuerst in den USA, welche bekanntlich dauernd unter der Drohung stehen, dass die Hälfte der Bevölkerung Lateinamerikas Migrationspläne dorthin schmiedet, sondern vielleicht realisiert sich das jetzt tatsächlich einmal in Kanada, nachdem dort seit Langem von einem Grundeinkommen die Rede ist. Ich denke, in dieser Debatte kann die Kreditfinanzierung ebenfalls eine neue Dimension erlauben, indem man nicht mehr von Beträgen an der Armutsgrenze spricht, sondern von richtigen, tauglichen Summen, mit denen die Unterprivilegierten nicht einfach nur abgespiesen und ruhiggestellt werden, sondern welche ihnen tatsächlich bessere Ernährung, bessere Wohnungen und Kleider und insgesamt eine bessere Lebensführung erlauben, einschließlich der positiven Auswirkungen auf ihr Selbstverständnis. In Zürich werden gegenwärtig Unterschriften gesammelt für eine Initiative, die einen Pilotversuch auf dem Gebiet der Stadt erzwingen will, nachdem sich die Stadtregierung bisher geweigert hat, auf solche Forderungen einzugehen. In diesem Pilotprojekt ist nun nicht mehr die Rede von 2500 Franken pro Person und Monat, was ungefähr der staatlichen Altersrente entspricht und in der Stadt Zürich selbstverständlich nirgends hin reicht und wie ich es selber meinen Finanzierungsrechnungen noch zugrunde gelegt habe, sondern von über tausend Franken mehr. Das scheint mir echt ein zeitgemäßer Schritt zu sein.


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Albert Jörimann
26.01.2021

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