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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Das Ende der Empörung

Ich würde an dieser Stelle gerne das endgültige Ende der Empörung ausrufen, wenn es denn ginge. Es hat sich aus-empört, geschätzte Kolleginnen und Kollegen, Zuhörerinnen aus nah und fern, Ge­nos­sinnen und Genossen und alle anderen; zieht eure gelben Westen aus, geht nach Hause und trinkt eine Tasse Tee.

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Die Dauer-Empörung ist noch schlimmer als eine Dauer-Erektion für Män­ner, es bekommt niemandem, dauernd vor dem Überkochen zu leben, vor allem, wenn dieses Über­kochen dann doch nie so richtig und vernünftig stattfindet, weil es nämlich gar nicht stattfinden kann. Eine Zeitlang war ich versucht, die Dauerempörung als Triebabfuhr zu interpretieren, als Ventil für überschüssige kritische Energien im Volkskörper oder in Teilen davon; aber unterdessen halte ich sie nur noch für eine entzündliche Reaktion eines Immunsystems, das außer Rand und Band geraten ist, das mit anderen Worten gar nicht mehr weiß, wogegen es sich wehren soll. Dem dauerempörten Immunsystem erscheint unterdessen alles als Erreger, weshalb auch die Erregung dauerhaft ist. Das ist schlecht, es ist ungesund, und vor allem ist es einem vernünftigen Funktio­nieren einer modernen Gesellschaft alles andere als zuträglich.

Es ist mir völlig klar, dass die Ungewissheiten rund um die Verbreitung des Corona-Virus einen maßgeblichen Anteil an der Dauerempörung haben. Die Unsicherheiten und vor allem das fehlende Vermögen, die Lage halbwegs distanziert zu betrachten, führen sowohl zur Ermattung als eben auch zur Empörung. Sie wird von den Medien, allen voran von den sozialen, auch tüchtig geschürt, weil diese Medien bekanntlich nach Anzahl Klicks funktio­nie­ren, also Werbeeinnahmen generieren, und längstens nicht mehr nach Inhalten. Die Impfungen funktionieren nicht, die neuen Bundeswehr-Gewehre schießen nach links statt geradeaus, Ursula von der Leyen ist eine Fehlbesetzung als Kom­missionspräsidentin, Andi Scheuers Rücktritt ist überfällig, der Erdopampel macht Osman Kavala zum dritten Mal den Prozess, Narendra Modi betreibt jetzt unverhüllt die Arisierung Indiens, die Visegrad-Staaten feiern den dreißigsten Jahrestag der Gründung ihres Bündnisses zusammen mit China, die serbische Nationalisten-Windfahne Vucic will von einer Anerkennung des Kosovo nichts wissen, aber vor allem und immer wieder funktionieren die Impfungen nicht, weil nicht genug Impfstoff vorhanden ist, worüber wir uns Tag für Tag empören.

Genug davon! Man kann ja die entsprechenden Meldungen auch zur Kenntnis nehmen, ohne gleich den moralischen Flammenwerfer einzuschalten, sozusagen mit steifer Oberlippe, wobei dieser Ver­gleich aus England stammt, also aus einem Land, das sich nun auch schon seit Jahren im Empö­rungs­zustand befindet und diesen so weit getrieben hat, dass es ganz und gar aus der EU ausgetreten ist. Frankreich sowieso, Frankreich ist sozusagen das Mutterland der Empörung und weist mit dem verstorbenen Stéphane Hessel auch den Chefideologen und Verfasser des Manifests «Empört euch» auf. Eine Zeitlang konnte man meinen, die entsprechenden kritischen Energien würden sich auf die Mühlen der politischen Linken ergießen, namentlich auf die nicht unterzukriegenden Ununterwerf­baren oder wie man «La France Insoumise» auch immer übersetzen will. Unterdessen hat auch die letzte Beobachterin gemerkt, dass die Schnittmengen der linken Empörung mit den Rechtsnationa­lis­tinnen viel größer sind als jene mit einem fortschrittlichen Programm, nämlich eben im Kern­bereich der puren Empörung. Tröstlich daran ist allenfalls, dass auch die rechtsnationalistische Empörung keineswegs direkt in ein faschistisches Programm mündet, sondern sich, bei allem völkischen und rassistischen Gedöns, letztlich doch in der Empörung selber erschöpft.

Lasst uns etwas anderes machen, geschätzte Kolleginnen und Kollegen, lasst uns doch ganz einfach dafür sorgen, dass die Spitäler ausreichend dotiert sind mit den notwendigen Einrichtungen und dem notwendigen und anständig entlöhnten Personal; lasst und dafür sorgen, dass die Schulen ausreichend ausgestattet werden mit den notwendigen Einrichtungen, inklusive Computer für die Schülerinnen und sowieso für die Lehrpersonen, sowie mit dem notwendigen und anständig entlöhnten Personal. Zum Beispiel. Ich empfinde immer wieder Genugtuung, wenn ich höre, dass das System nach meinem Gusto funktioniert. Gestern traf ich zum Beispiel eine Eritreerin, die vor einem Jahr an einer ernsthaften Lungenerkrankung litt und unter anderem ihre Stelle verloren hat. Nun höre ich, dass sie als eine der ersten eine Corona-Impfung erhalten hat. Das ist hoch vernünftig und eben ein Beweis dafür, dass im Gesundheitssystem eine Grund-Rationalität vorhanden ist. Eine Woche zuvor hatte ich eine andere Story gehört, nämlich wie folgt: Der Gesundheitsdirektor des Kantons Thurgau hat vor seiner Wahl bei einer privaten Klinikkette gearbeitet mit dem Namen Hirslanden. Es versteht sich von selber, dass der neue Gesundheitsdirektor die Verantwortung für die Corona-Impfungen im Kanton Thurgau in die Hände dieser Privatklinik übertrug. Was sich nicht ganz von selber versteht, ist die Tatsache, dass einer der ersten Geimpften der Besitzer dieser privaten Klinikkette ist. Es handelt sich um den reichsten Südafrikaner, den Multimilliardär Johann Rupert. Dieser ist noch nicht einmal im Kanton Thurgau wohnhaft, sondern im Kanton Genf. Der erwähnte Regierungsrat heißt Urs Martin, politisiert selbstverständlich für die rechtsnationalistische Schweizerische Volkspartei, und seine Frau trägt den schönen und ur-schweizerischen Vornahmen Evgenia, will sagen, sie ist in Moskau aufgewachsen. Stoff für Empörung?

Eigentlich schon, nicht zuletzt deshalb, weil Regierungsrat Martin nach dem allgemeinen Aufschrei seinem ehemaligen Boss Rupert öffentlichkeitswirksam die zweite Impfung verweigerte. Man kann davon ausgehen, dass er sie in der Zwischenzeit in irgendeinem Hirslanden-Spital erhalten hat. An Heuchelei ist das nicht zu überbieten, aber das sind wir uns von den Rechtsnationalistinnen gewohnt, insofern brauchen wir uns auch nicht zu empören; und wenn wir uns wirklich empören möchten, dann eher darüber, dass der 8 Milliarden Dollar schwere Johann Rupert in Genf wohnt und nicht in Kapstadt. Aber ich sehe davon ab, weil mich die Tatsache, dass Hafte Freweini ihre Corona-Impfung erhalten hat, viel bedeutender dünkt als das ganze Tamtam um dieses Milliardären-Würstchen und seine medizinischen Zuhälter.

Doch, ich behaupte, dass das medizinische System in der Schweiz funktioniert. Es ist teuer, und es wird unter anderem mit Personal betrieben, das aus dem schönen Deutschland abgeworben wurde, was auch nicht schön ist; aber dagegen könnt ihr etwas tun, indem ihr selber euer System verbessert, da hat das Ärztinnen- und Pflegepersonal gar keinen Grund mehr abzuhauen. Übrigens gibt es demnächst vielleicht eine Art von Reflux, einen Rückfluss aus England, namentlich an polnischem Personal, das vielleicht in eurem System einen Zwischenhalt einlegt, wer weiß denn so etwas.

Was wir in der Schweiz übrigens ebenfalls haben, ist das Frauenstimmrecht. In diesen Tagen feiern wir den 50. Jahrestag seiner Einführung. Mit einer gewissen Verzögerung setzt sich die Gleichberechtigung nicht nur auf Gesetzesebene, sondern im gelebten Alltag nun tatsächlich auch bei uns durch. Der Frauenanteil im Nationalrat ist bei den letzten Wahlen vor zwei Jahren auf über 40 Prozent geklettert; im Ständerat, was bei Euch der Bundesrat wäre, sind wir bei etwa einem Fünftel, aber das war schon immer die konservativere Kammer. Dass auch in diesem Zusammenhang Erscheinungen festzustellen sind, für die sich keine rationale Erklärung finden lässt, versteht sich von selber, zum Beispiel der Artikel «50 Jahre Frauenstimmrecht – Eine Hommage an fünf Kochbuchautorinnen» im Zürcher «Tages-Anzeiger». Was das Verfassen von Kochbüchern mit dem Frauenstimmrecht zu tun hat, kann man auch mit außerirdischer Intelligenz nicht erklären, aber Hauptsache, wir haben wieder mal ein paar Zeitungsspalten gefüllt.

Der «Tages-Anzeiger» ist übrigens ein Musterbeispiel dafür, wie nicht nur eine Zeitung und ihre Redaktion, sondern auch das journalistische Niveau ausgeblutet wird. Die Verleger-Familie hat über zwanzig Jahre hinweg mehr oder weniger den gesamten Zeitungsmarkt der Schweiz aufgekauft, Titel eingestellt oder zusammengelegt mit anderen Titeln und die Redaktionen geschrumpft; daneben produziert sie in den gleichen Newsräumen auch noch ein Boulevardblatt mit dem Titel «20 Minuten», das nur noch reinen Klick-Journalismus betreibt. Aber auch das Flaggschiff-Blatt, eben der «Tages-Anzeiger», überschlägt sich mit Skandal-Meldungen aus dem Corona-Bereich, wo man im Interesse der geistigen Verfassung der Bevölkerung eben alles, bloß keine Skandalisierung vornehmen sollte. Im Moment wird vor allem die Notlage im März vergangenen Jahres breitgewalzt, als fast keine Corona-Schutzmasken vorhanden waren und der Staat bei der Beschaffung auf alle möglichen und durchaus auch lusche Lieferanten angewisen war; unter anderem haben sich zwei Mitglieder der SVP-Jungpartei eine goldene Nase verdient, welche solche Masken für 10 Franken pro Stück verkauften, wobei es sich anschließend herausstellte, dass die Hälfte davon sowieso aus einer anderen Fabrikation stammte als angegeben, nämlich aus Ägypten statt aus China, und ein schöner Teil war undicht und setzte innerhalb von nützlicher Frist Schimmel an. Und daran ist jetzt selbstverständlich der Staat schuld, während sich die beiden Jungunternehmer keiner Schuld bewusst sind. Gleichzeitig wettert ein Mitglied nicht der Jung-, sondern der Altpartei SVP, dass der Bundesrat bei der Beschaffung von Corona-Schutzmasken im letzten März Scheiße gebaut habe.

Wenn man will, kann man sich empören, durchaus. Ein bisschen Empörung soll übrigens auch gut sein für die Verdauung, habe ich mir sagen lassen. Aber eben: ein bisschen. Ansonsten empfiehlt es sich, vernünftig zu bleiben, Politik zu machen und hin und wieder ein Buch zu lesen. Bei mir war das unlängst «Der Überdruss» des chinesischen Literatur-Nobelpreisträgers Mo Yan. Es handelt sich um die Geschichte der Seelenwanderung eines chinesischen Grundbesitzers in einer Landprovinz, von der großen Hungersnot der 50-er Jahre bis zur Jahrtausendwende, durchaus kunstvoll geschrieben beziehungsweise komponiert unter stetem Verweis auf die dörfliche Geister- und Götterwelt; aber in der zweiten Hälfte geht ihm ein wenig der Saft aus, wie ich finde, was vielleicht ganz einfach damit zu tun hat, dass das Leben nicht mehr so einfach und ländlich ist wie zu Beginn, sondern, bei allem Bemühen, die traditionellen Akteure in der Moderne weiter agieren zu lassen, doch zu komplex wird, als dass man es noch in der Form erzählen könnte, welche Mo Yan hier gewählt hat.

Lesen kann man das selbstverständlich trotzdem mit Genuss und Belehrung, und sei es auch nur als Erinnerung daran, dass auch in China nicht einfach eine Einparteien-Diktatur herrscht, sondern dass es auch unter den aktuellen chinesischen Lebensumständen Millionen, ja Milliarden von Individuen gibt, welche ihr jeweiliges Leben leben. Dies geht bei allen Pauschalisierungen und bei aller Empörung gerne vergessen.


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Albert Jörimann
09.02.2021

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