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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Anti-EU-Vokabular

Die Corona-Epidemie ist grundsätzlich vorbei, Gottseidank. Wir schlagen uns noch mit den Restbeständen herum, räumen auf, was es aufzuräumen gibt, wir betrauern die Toten und pflegen die Schwererkrankten, aber den Kern der Krankheit haben wir wohl besiegt, auch wenn wir uns möglicherweise im Herbst oder im Winter noch einmal nach-impfen müssen.

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Für einen kurzen Moment herrscht so etwas wie Euphorie, bevor wir uns schnell genug wieder an unser missliches oder auch nicht missliches normales Leben machen. Wir werden bald wieder grummeln und motzen, aber auch uns freuen und das Leben genießen als wie zuvor, und welchen Entwicklungs­schub dieser eigenartige Ausnahmezustand der Gesellschaft als Ganzes gebracht hat, wird sich erst aus der Distanz zeigen. Immerhin hat sich mit Sicherheit die Einstellung gegenüber dem Staat verändert, und auch die Arbeitswelt wird verändert aus der Lockdown-Serie hervorgehen. Und dann wird sicher die Verteilung der EU-Kredite spannend, nicht nur, aber vor allem in Italien.

Ich glaube, ich habe es schon einmal gesagt: Unseren Mitgeschöpften und Mitbürgerinnen, welche die Pandemie, aber vermutlich nicht nur sie, sondern überhaupt das ganze Leben als eine einzige Verschwörung ansehen, ihnen wollen wir vergeben und ihre Torheit vergessen, soweit sie nicht auf anderen Viruserkrankungen im Hirn beruhen, welche Tatsachen zuerst zu Meinungen erklären und diese dann leugnen. Die ebenfalls verbreiteten Geisteskrankheiten wie Rassenhass und Rechtsnationalismus sind nicht direkt mit den Covid-Geisteskrankheiten verwandt, sie versuchen sich in der Regel eher dort anzuhängen, aber die werden uns länger erhalten bleiben als die Covid-Behämmerung, der man eigentlich eine spezielle Ausstellung im naturhistorischen Museum widmen sollte.

Mittelfristig spannend wird die Frage, ob sich die EU als Geld- und Goldesel dort durchsetzen kann, wo sie politisch an ihre Grenzen stößt. Nachdem ich mich über Jahre hinweg gefragt habe, wie es möglich ist, dass in praktisch allen Mitgliedländern unter der Flagge eines einigen Europas eine derart zentrifugale und nationalistische Politik betrieben wird, bin ich geneigt, die Waffen zu strecken und zu neuen Arbeitshypothesen zu greifen. Die plausibelste erscheint mir im Moment die, dass der Nationalismus die aktuelle und insofern moderne Form ist, das gesellschaftliche Mehr­produkt im Rahmen bekannter Interessensgeometrien zu verteilen. Die Linke, vor allem jene links der Sozialdemokratie, hat von Anfang an moniert, das EU-Projekt sei ein Projekt der Großkonzerne. Selbstverständlich war es das auch, aber je länger es dauert, desto stärker ging das Projekt in die Breite und erfasste mit seinen, eben weiterhin nationalen Verteilungsstrukturen die mittleren und unteren Strukturen der Mitgliedländer, und zwar je länger, desto mehr im Rahmen des erwähnten zentrifugalen, letztlich antieuropäischen Diskurses, der wohl gar nicht denkbar ist ohne ein solides Gleichgewicht unter den BezügerInnen. Für den Diskurs selber bedeutet das, dass in absehbarer Zeit in Europafragen nie wieder jemand das sagen wird, was sie oder er tatsächlich meint; die europäische Stabilität und die europäischen Institutionen sind immer schon vorausgesetzt, wenn man sich über sie beschwert und immer wieder eine latente Austrittsdrohung herauf beschwört. Auf eine verschrobene Art und Weise ist dies wohl der aktuelle und akute Stand der Aus­ein­an­der­set­zungen. Das zu verteilende Mehrprodukt ist so groß geworden, dass man die Verteilung nur noch real im Hinterzimmer und in der Öffentlichkeit mit einem Anti-EU-Vokabular realisiert.

Das heißt gleichzeitig, dass die Macht der Konzerne zwar nicht verschwunden ist, dass aber an ihre Seite andere, ähnlich mächtige Akteure getreten sind. Wirtschaftlich gesehen sind dies im Moment die Umwelttechnologien, welche noch nicht von einzelnen Konglomeraten beherrscht werden; die globalen Kommunikationsakteure haben ihren Sitz meistens in den USA und versuchen im Moment, in der Europäischen Union lieb Kind zu machen mit verschiedensten Kooperations­angeboten, von denen mir einfach jenes nicht aus dem Kopf will, das ich ebenfalls bereits einmal erwähnt hatte, nämlich das fantastische Hilfsangebot von Facebook an die spanische Regierung zur Unterstützung beim Kampf gegen die Corona-Epidemie, nämlich die Bereitstellung ihrer Datenbank für die Hospitäler, womit der Konzern dann auf allen Kanälen wunderbare Werbung betrieben hat und was ich nach wie vor für eine Scharlatanerie ersten Ranges halte, vergleichbar nur mit der nach wie vor prächtigen Stiftung myclimate, bei welcher man auf privater Basis jene Umweltabgaben entrichten kann, welche die Staaten sich nun anschicken, auf gesetzlicher Ebene zu erheben. Facebook, Google, Amazon und so weiter scheinen nicht nur zu wissen, was auf dem Spiel steht, sondern sie haben eine größere Angst vor der EU-Kommission als die EU-Bevölkerung Respekt vor ihr hat, und das sollte die EU-Bevölkerung doch auch mal überlegen. Und es ist auch ein Hinweis für Typen wie mich, dass man sich von der Anti-EU-Rhetorik nicht nur in den Visegrad-Staaten nicht von den tatsächlichen Verhältnissen und Entwicklungen ablenken lassen sollte.

Was ansteckende Krankheiten angeht, können wir uns in dieser Woche mit dem Jubiläum 40 Jahre AIDS befassen, wenn wir wollen. Es dauerte damals gut 15 Jahre, bis man wirksame Therapien auf den Markt brachte, 15 Jahre, während deren AIDS richtige Schneisen schlug in die Künstlerinnen- und Partylandschaft der entwickelten Welt – und anschließend den Blutzoll in den ärmeren Ländern eintrieb.

Ebenfalls eine ansteckende Krankheit scheinen sexuelle Übergriffe von Mitarbeitenden westlicher Hilfsorganisationen auf Frauen in den be-holfenen Gebieten zu sein. Am letzten Freitag trug die kanadische Delegation bei der Jahresversammlung der Weltgesundheitsorganisation einen entsprechenden Bericht über Vorkommnisse in der Demokratischen Republik Kongo vor, konkret in der Stadt Butembo, in welcher 22 Frauen Stellen angeboten worden waren als Gegenleistung für Sex. Ähnliche Vorfälle hatten sich bereits 2019 in der Stadt Beni abgespielt. Als Täter wurden Mitarbeiter der WHO, der Uno-Organisation für Migration, der Unicef, der medizinischen Hilfsorganisation Alima, des International Rescue Committee, des International Medical Corps sowie des kongolesischen Gesundheitsministeriums genannt. Die Weltgesundheitsorganisation zeigte sich sehr betroffen und versprach lückenlose und transparente Aufklärung, übrigens wie schon bei den ersten Vorfällen. Unter uns gesagt: Als ich diese Meldung in «Le Monde» gelesen habe, war meine erste Reaktion Verwunderung darüber, dass nicht noch weitere Organisationen zu den Schuldigen gezählt wurden, zum Beispiel die Weltbank oder der Internationale Währungsfonds, vor allem aber das im Kongo durchaus präsente Welternährungsprogramm oder wer auch immer. Wegen dieser Reaktion bin ich sofort vor den Spiegel geeilt und habe mich sehr verwundert angeschaut. Was ist mit dem neutralen Beobachter los, dass er solche Symptome offensichtlichen Desinteresses an sexuellen Übergriffen auf Dutzende von Frauen im Kongo zeigt? – Nun, für eine direkte Betroffenheit fehlt es mir an Nähe, muss ich doch sagen, und ich habe auch den Eindruck, dass es in dieser Weltgegend wohl dringendere zugrunde liegende Probleme gibt als diese, selbstverständlich durch nichts zu entschuldigenden Übergriffe. Weiter denke ich mir, dass die Anklageschrift der auf humanitäre Angelegenheiten spezialisierten Nachrichtenagentur The Humanitarian, der angesehenen Reuters-Stiftung, bei der ich mich selber hin und wieder eindecke, sowie der französischen Nachrichtenagentur AP eine bestimmte Funktion bei der Berichterstattung über Afrika beziehungsweise den Kongo einnimmt; sie befriedigt gewisse Klischee-Vorstellungen, worauf dann auch das klischeehafte Versprechen einer seriösen Untersuchung folgt. Vor Ort sieht die Sache in der Regel aber insofern etwas anders aus, als die Mitarbeitenden von internationalen Organisationen, sowohl die internationalen als auch die lokalen Mitarbeitenden, allein durch ihre Anstellung bei diesen Organisationen oft in einer Art und Weise privilegiert sind gegenüber den Be-Holfenen, dass es keiner Belästigung irgendeiner Art und Weise bedarf, um das Verhältnis als obszön zu umschreiben – nach unseren Maßstäben im geheizten Europa, selbstverständlich! Die, ich weiß nicht wie vielen tausenden von Mitarbeitenden, vom medizinischen Personal bis zur Spitzen-Ärztin, bewegen sich wie kaum jemand sonst in diesem Spannungsfeld, und es wäre ausgesprochen seltsam, wenn daraus nicht tatsächlich regelmäßig Spannungen entstünden. Die Präsenz eines oder einer vom Gerechtigkeitssinn beflügelten Journalistin in einem solchen Falle kann dann recht leicht zum eigenen Kraftfaktor beim entsprechenden Verhältnis werden, egal, ob es als Verhältnis ausgebrochen ist oder nicht. Das ist nun mal einfach so, und zwar nicht erst seit Mai 2019 in der Demokratischen Republik Kongo, sondern seit es Dinge wie Entwicklungshilfe überhaupt gibt, und die entsprechende Diskussion kann man gerne immer wieder führen, respektive man muss sie ja immer wieder führen; aber ich habe aus neutraler Sicht meine Vorbehalte, auch wenn es sich um Berichte von absolut unabhängigen und neutralen West-Medien wie «Le Monde», übrigens auch die Neue Zürcher Zeitung und eben auch die Nachrichtenagenturen The Humanitarian, Reuters und AP handelt.

Afrika ist fucking groß, es ist viel zu groß für unseren Moralkodex, aus den verschiedensten Gründen. Was selbstverständlich nicht heißt, dass verantwortungsvolle und aufrichtige Journa­lis­tinnen nicht weiterhin diesen Kontinent auf der Suche nach Machtmissbrauch durchstreifen sollten. Mich selber würden allerdings eher die Machtstrukturen und die Geldflüsse interessieren; davon verspreche ich mir mehr Einblicke in die Probleme auf dem Kontinent. Oder die Berichterstattung über den Vulkan Nyirago in der gleichen Demokratischen Republik Kongo. Die Stadt Goma wurde zum Teil evakuiert; hier leben 2 Millionen Menschen an der Grenze zu Ruanda. In der Nähe der Stadt starb im Februar dieses Jahres übrigens der italienische Botschafter im Kongo, Luca Attanasio, mit einem Leibwächter bei einem Überfall auf einen Konvoi des Welternährungs­programms.


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Albert Jörimann
01.06.2021

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