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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Landwirte

Der italienische Umweltminister Roberto Cingolani ist ein bekannter Physiker, der sich oft ohne Rücksprache mit seinen Kommunikationsverantwortlichen äußert. So auch an einer Schulungs­ver­anstaltung von Matteo Renzis Partei Italia Viva. «Wir brauchen den Wechsel weg von fossilen Treibstoffen und CO2, aber wir müssen der Gesellschaft auch Zeit einräumen, um sich an diesen Wechsel anzupassen», sagte er.

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Wenn man zum Beispiel die Automobilfabriken von einem Tag auf den anderen dicht machen würde, würden tausende von Familien auf den Straßen stehen. Der ökologische Umbau müsse nachhaltig sein, sonst würden wir nicht an Luftverschmutzung oder am Klimawandel sterben, sondern verhungern. Dies allerdings ist eine extraphysikalische Aussage, wenn man mich fragt, denn die aktuelle Menge an Lebensmitteln und Kalorien, welche von der globalen Landwirtschaft erzeugt wird, übersteigt den Bedarf um zirka 50% – ein Weltwunder, genauer: Es ist ein Weltwunder, dass trotzdem Menschen Hunger leiden unter solchen Verhält­nis­sen. Aber das ist eine andere Debatte. – Dann meinte Cingolani noch, dass einige Umwelt­akti­vis­tin­nen das größere Problem seien als der Klimawandel: «Menschen auf der ganzen Welt betreiben Umweltschutz aus Gründen des Radical Chic. Es gibt überall extremistische, ideologische Umwelt­akti­visten, die schlimmer sind als die Klimakatastrophe.» Und zum Schluss gab er zu bedenken, dass die Atomkraftwerke der vierten Generation eine Lösung für die Energiefrage sein könnten. Thja – dafür muss man nicht Physik studieren, das hören wir seit Jahr und Tag von den Lobby­orga­ni­sationen der Erdöl- und der Atomindustrie, wenn sie sich gegen die Einführung von CO2-Abgaben und dergleichen zur Wehr setzen mit den ihnen gegebenen Mitteln – zum Beispiel eben dem Verweis auf die Atomkraft. Immerhin muss das nicht zum vornherein bedeuten, dass die Haltung bar jeglichen wissenschaftlichen Gehalts wäre, denn auch hier wird immer weiter geforscht. Ich nehme mal zugunsten von Cingolani an, dass er aus echter Besorgnis heraus spricht und nicht mit dem Hintergedanken, den ökologischen Umbau so lange als möglich hinauszuzögern. Objektiv gesehen tut er es aber trotzdem, indem solche Äußerungen von den Gegnerinnen des ökologischen Umbaus instrumentalisiert werden, wenn es darum geht, um die Gunst der einfachen Bürgerinnen und Bürger zu werben. Statt dass sich die Gesellschaft möglichst schnell an den Wechsel anpasst, verzögert der Umweltminister diesen Prozess mit solchen Äußerungen.

Die spanische Provinz Murcia hat gegen das spanische Umweltministerium Klage eingereicht, weil dieses Ministerium es unterlassen habe, die Einleitung von Düngemitteln in die Salzlagune Mar Menor zu unterbinden, die im Sommer zu einem Massensterben von Fischen in diesem Gewässer geführt hat. Das nationale Umweltministerium zeigte keine Begeisterung und verwies auf verschie­dene Anordnungen, welchen die Provinz nicht Folge geleistet habe. Ich kann zwar etwas Spanisch, aber ich kenne die gesetzlichen Grundlagen und die genaue Aufgabenteilung zwischen Provinz und Zentralstaat nicht und bin aus diesem Grund nicht in der Lage, ein Rechtsgutachten dazu zu erstellen; aber dass die Einleitung von Düngermitteln durch die Landwirte in Murcia ins Mar Menor zunächst einmal die lokalen Behörden betrifft, welche durchaus in der Lage sind, unabhängig vom Zentralstaat irgend etwas zu unternehmen, das sehe ich vom Schiff aus beziehungsweise von den mehrere tausend Kilometer entfernten Alpengipfeln herab. Dass die Provinzregierung politisch rechts steht, also ebenso wenig von Umweltschützerinnen hält wie der italienische Umweltminister, versteht sich von selber.

Das erste Massensterben im Mar Menor fand bereits vor 5 Jahren statt und löste eine erste Welle an Kritik aus. Nicht aber von Maßnahmen. 2019 kam es zum zweiten Vorfall; damals wurden 3 Ton­nen tote Fische eingesammelt. In diesem Jahr waren es über 5 Tonnen. Die Ursache ist immer die gleiche: Eintragung von Düngemitteln, welche bei hohen Temperaturen den Sauerstoff im Wasser gänzlich zum Verschwinden bringen, wodurch der Bestand an Meerestieren verendet. Das gibt es nicht nur in Spanien; in der Schweiz ist mir ein See bekannt, der seit Jahr und Tag künstlich beat­met werden muss, weil die in der Region tätigen Landwirte sich von der Schweinezucht ernähren. Das allein wäre vielleicht noch nicht das Drama an sich, aber die Bäuerinnen und Bauern sehen sich nicht imstande, anständige Kläranlagen für ihre Betriebe zu bauen. Das würde ihnen finanziell an die Substanz gehen. Die Interessenabwägung ist schnell gemacht: Lieber einen See verrecken lassen als zwei Landwirtschaftsbetriebe mit Umweltauflagen belasten. Diese Rechnung zieht sich übrigens mindestens in der Schweiz durch die gesamte Landwirtschaftspolitik und durch jene Bereiche, in welchen die Landwirte etwas zu sagen haben, also in erster Linie selbstverständlich die Umwelt. Vor einem Vierteljahr haben diese Kreise ein ziemlich harmloses Gesetz zur Reduktion des CO2-Ausstoßes, unter anderem durch eine Verteuerung von fossilen Brennstoffen, in einer Volks­abstim­mung der Ablehnung zugeführt. «12 Rappen mehr pro Liter Benzin?», lautete das Hauptargument gegen das Gesetz. Das geht ja gar nicht. Da mag die Tundra und die Taiga brennen, die Gletscher mögen schmelzen, der Permafrost in Sibirien wie in den Schweizer Alpen, sodass die Berge ins Rutschen kommen, Waldbrände in Frankreich, Spanien, Sardinien, Griechenland, der Türkei, in Kalifornien und so weiter mögen ganze Landstriche vernichten, aber der Bauer darf nicht in seinem Tun, sprich in seinem Düngen beeinträchtigt werden, wenn es ihn etwas kostet. Es ist eine ziemlich unangenehme Gruppe geworden, ich denke, nicht nur in der Schweiz, sondern in der ganzen Europäischen Union, wo die gemeinsame Agrarpolitik immer wieder auf große Schwierigkeiten stößt, halbwegs verbindliche Ziele im Umweltbereich zu realisieren. Dass es unter den Bäuerinnen und Bauern auch vernünftige Menschen gibt, welche große Anstrengungen unternehmen, um eine natur- und tiergerechte Landwirtschaft zu betreiben, versteht sich von selber; aber in diesem Zusammenhang kommt ihnen höchstens die Funktion eines Feigenblattes zu, welches von den offiziellen Bauernverbänden immer dann hochgehalten wird, wenn es darum geht, die von den Landwirten betriebene Vernichtung der Natur zu beschönigen. – Und jetzt entschuldige ich mich gleich für diesen Ausrutscher: Auch der dümmsten Landwirtschaftspolitik wird es nicht gelingen, die Natur zu vernichten, versteht sich von selber, aber ich finde es schon ein echtes Paradox, wie genau jene Leute mit jenem Gut umgehen, das für sie doch die Lebensgrundlage darstellt und das sie ideologisch ganz und gar wie Heiden mystifizieren.

Daneben nimmt die türkische Außenpolitik immer mehr Gestalt an, wie ich finde. Neben den lange nicht wahrgenommenen Ambitionen in Nordafrika, womit ich nicht die militärische Initiative in Libyen meine, welche die türkischen Bestrebungen erst sichtbar gemacht hat, sondern die unterdessen recht intensiven Exportbemühungen der türkischen Industrie in den Maghreb-Staaten, wird auch die Position Afghanistan neu überdacht. Dabei muss man allerdings sagen, dass Afghanistan geopolitisch keine weitere Bedeutung hat, es sei denn als Pufferstaat zwischen Pakistan und dem Iran, aber ansonsten spürt man dem Land das mangelnde Interesse aller denkbaren Fraktionen des internationalen Kapitals deutlich an. Seine gegenwärtig wichtigste Ressource sind die Flüchtlinge, mit welchen auch die Türkei Geschäfte zu machen versuchen wird. Diese Ressource wird übrigens schon lange bewirtschaftet, das heißt, die Flüchtlinge sind kein Produkt des Sieges der Taliban, sondern der westlichen Besetzung des Landes, welche die Menschen nicht als solche in die Flucht getrieben, ihnen aber die Fluchttüren geöffnet hat. Im Iran sind meines Wissens nicht viele Afghaninnen hängen geblieben, und so spielt sich der Basar tatsächlich in der Türkei ab. Gegen Westen baut der Erdopampel also Staudämme für Flüchtlinge und gegen Südwesten solche für Wasser. Bei aller Abneigung gegen diesen Despoten muss man anerkennen, dass er beziehungsweise seine Regierung die Lage recht gut nutzt, trotz allen kritischen Berichten über die schlechte Wirtschaftslage – die ich im Übrigen nicht in vollem Umfang zu beurteilen vermag. Militär und Exporte scheinen jedenfalls zu funktionieren, und das sind neben den erwähnten Fließressourcen schon mal recht solide Grundlagen für die Nationalökonomie, auch wenn die Berichte über erratische Personalentscheidungen mit entsprechenden Folgen für Währung und Wirtschaft auch wieder ziemlich glaubhaft erscheinen.

Die neuesten Kapriolen des Erdopampels beschlagen den Balkan, was im Falle von Serbien nicht weiter erstaunt, da der dortige Vukic-Clown sowieso mit allen und allem herumkaspert, was ihm gerade durch den Frontalhirnlappen schießt. Unter anderem schließt er regelmäßig Blutsbrüder­schaft mit dem Russen Wladimir Wladimirowitsch, was sicher eine besondere Form der Belus­tigung darstellt angesichts der offiziellen Bemühungen um einen EU-Beitritt Serbiens. Die letzte Errungenschaft scheint ein Konsulat in Novi Pazar zu sein; Außenminister Cavusoglu eröffnete die Vertretung höchstpersönlich und sagte bei der Gelegenheit, dieser Sandschak besetze einen speziellen Platz im Herzen der Türken. Als ob sich die Serben mit dem Amselfeld nicht schon mit genügend speziellen Türken-Plätzen herumschlagen müssten! Nun gut, der historische Sandschak von Novi Pazar umfasste praktischerweise eben dieses Amselfeld mit, womit die Dinge doch wieder ihre Ordnung haben. Interessanter dünkt mich des Erdopampels Engagement in Bosnien und Herze­gowina, wo ich die Türkei bisher überhaupt nicht wahrgenommen hatte als Akteur; ich war der festen Überzeugung, dass sich die bosnischen Gebiete mehr oder weniger stabil in den Händen der saudiarabischen Wahabiten befinden. Wenn jetzt der theologisch trotz allem nicht besonders beschlagene Erdopampel hier auf die Bühne tritt, so nötigt mir das erst mal ein Lächeln ab. Die Frage stellt sich: wo gibt es noch weitere zweitrangige Gebiete, wo der Mann aus Ankara einen Kraftauftritt hinlegen kann? Vielleicht hat er die diplomatischen Vertretungen in Budapest und in Warschau bereits verstärkt, wer weiß denn so etwas, und in irgendeinem der arabischen Emirate ist sicher auch noch ein Haus frei. Tatsächlich: Die Türkei gibt in den letzten Monaten außerordentlich viele Lebenszeichen außerhalb ihrer eigenen Grenzen von sich, was allerdings noch nicht heißt, dass sie ihre Positionen auf Dauer stabilisieren kann in dieser Großregion, die immer wieder von Erdbeben heimgesucht wird, in welchen die gegensätzlichen Kräfte eben ihre Positionen neu austarieren. Mal sehen.

Daneben spricht alle Welt von der 4. Welle an Corona-Infektionen. Meine, und wohl nicht nur meine Frage ist: Wo ist denn die dritte Welle abgeblieben? Die zweite habe ich mitgekriegt, die rollte im Oktober/November letzten Jahres an und zog sich hin, bis die Impfungen eingesetzt haben. Das war mindestens meine Wahrnehmung. Jetzt wäre mit anderen Worten die dritte an der Reihe. Aber egal. Hauptsache, in Texas verbietet der republikanische Gouverneur den Schulen, eine Maskenpflicht zu verhängen, und der Gouverneur von Florida kündigt an, er werde jenen Schulen die Finanzmittel streichen, die eine solche einführen. Ich halte das für viel zuwenig gründlich; sie sollten das Tragen von Masken unter Strafe stellen. Todesstrafe für Maskenträgerinnen! – Man sieht den Typen an, dass sie das eigentlich sehr gerne tun möchten. Und der normal kultivierte Mensch stellt sich die Frage, was in solchen Köpfen abgeht. Ich meine, noch wenn man in Betracht zieht, dass die Politikerinnen vom Schlag eines Trump nur darauf achten, was möglichst viel Lärm erzeugt, und zwar Lärm, der sie als die Super-Lösungsträgerinnen des herbei geschrienen Problems ausweist, noch dann müsste bei genauem Nachforschen eine inhaltliche und logische Argumentationskette irgendwo verborgen liegen. Sonst wird uns dies ganz und gar frustrierend, und wir sind inhaltlich verpflichtet, Amok zu laufen gegen solche Vögel. Wenn ich Logik als solche nicht ganz falsch verstanden habe.

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Albert Jörimann
07.09.2021

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