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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - McKinsey Global Institute

Eine Bemerkung im Bericht zur Lage der Weltwirtschaft des Global Institute von McKinsey hat mein besonderes Interesse geweckt. «Die globalen Wertschöpfungsketten verändern sich, zum Teil wegen der technologischen Entwicklung und der Automatisierung. Dies verstärkt den Trend hin zu einer stärkeren Regionalisierung der Warenproduktion, näher bei den Endkonsumenten.»



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> Download Will heißen: Globalisierung und Automatisierung führen nicht zur vollständigen Konzentration der Warenherstellung in einer Fabrik an einem Standort pro Produkt weltweit, wie man das ursprüng­lich befürchtet hatte, sondern die Transport- und Vertriebskosten sowie die politischen Kosten sind unterdessen höher geworden als die Produktionskosten, sodass man die Produktion per Saldo gescheiter wieder vor Ort ansiedelt. Das dünkt mich eine gute Nachricht für eine an Arbeitsplätzen orientierte Gesellschaft: Sie kann ihr Bier tendenziell wieder im Dorf brauen und das Brot im Nachbardorf backen und die Pillen im nächsten städtischen Zentrum drehen. Naja, bei der Chemie und der Pharmaindustrie sowie zum Beispiel bei Technologiekonzernen dürfte dieser Trend nicht so schnell einsetzen, aber als Trend ist er erkennbar, und das wiederum müsste die Regionalpoliti­ke­rin­nen erfreuen, welche nach Mitteln gegen die Abwanderung und die anhaltende Zentralisierung suchen. Einfach gute Verkehrsanbindungen schaffen, selbstverständlich mit der Eisenbahn, und dann irgendwelche Produktesorten auswählen und schnell einen Produzenten suchen und eine Fabrik auf die grüne Wiese stellen, so einfach geht das in unserer Zeit. Das ist nicht Kapitalismus 4.0, sondern ungefähr 17.2, den wir da heraufdämmern sehen.

Daneben enthält der McKinsey-Bericht, der zuhanden des Weltwirtschaftsforums im Januar dieses Jahres erstellt wurde, noch ein paar andere Angaben, zum Beispiel über das Wachstum des Süd–Süd-Handels, welches mit Sicherheit einer der wichtigsten Parameter für die Emanzipation der ehemaligen Drittweltstaaten darstellt. Wir unterteilen sie seit einiger Zeit in Entwicklungs- und Schwellenländer, und letztere sind für den Hauptanteil der Zunahmen verantwortlich. Neben den bekannteren Ländern nennt McKinsey auch Aserbaidschan, das völlig unter unserem Radar liegende Weißrussland, Kambodscha, Äthiopien, Indien, Kasachstan, Laos, Myanmar, Turkmenistan, Usbekistan und Vietnam, die in den letzten 20 Jahren ein durchschnittliches Wachstum ihres BIP von über 5% erzielt hätten. Gleichzeitig seien zahlreiche wettbewerbs­starke Großunternehmen in den Schwellenländern entstanden. In Bezug auf China spricht McKinsey dagegen von einem Wendepunkt, indem Chinas Außen-Engagement seit mehreren Jahren rückläufig sei, im Gegensatz zu den zunehmenden Investitionen von Drittländern in China. Diese Aussage erstaunt insofern ein wenig, als die Öffentlichkeit erst vor Kurzem begonnen hat, die gewaltigen Investitionen von China namentlich in Afrika überhaupt wahrzunehmen.

Daneben spricht McKinsey von einer massiven Zunahme der datengetriebenen Wirtschaft und damit im Zusammenhang zunächst vom reinen Datenaustausch, wo übrigens die Schwellenländer von Beginn weg mithalten – ich nehme mal an, mit Ausnahme der Geheimdienste und der Technologiegiganten –, sowie von der Durchdringung von Wirtschaft und Gesellschaft mit künstlicher Intelligenz. Hier stünden riesige Produktivitätsgewinne bevor, nicht zuletzt im Bereich von Verkauf und Marketing, wo das Konsumverhalten immer genauer analysiert wird beziehungs­weise wo die künstliche Intelligenz dem Kaufpublikum immer genauer maßgeschneiderte Angebote zuspielt.

Ein weiteres prägendes Element sieht McKinsey in der Zunahme der durchschnittlichen Lebens­er­war­tung, vor allem in der Ersten Welt, wo die Pensionierten in der Regel über sichere und zum Teil sogar recht hohe Einkommen oder Vermögen verfügen. Die Pensionierten werden so zum Para­debeispiel der reinen KonsumentInnen, die nichts mehr produzieren, ein erstklassiger Wirtschafts­motor im Kapitalismus 17.3. Auf diese Altersklasse wird laut McKinsey bis im Jahr 2030 51% des Konsumwachstums in den städtischen Regionen der entwickelten Länder entfallen, nämlich 4.4 Billiarden Dollar. Für die über 75-Jährigen in den gleichen Regionen prognostiziert McKinsey eine durchschnittliche Zunahme der Konsumausgaben um 4.5% pro Jahr zwischen 2015 und 2030. Auf der Gegenseite steht der Rückgang der Geburtenquote, den nur eine zunehmende Einwanderung auszugleichen vermöge. Das sei für die Finanzierung der Rentensysteme in Ländern wie Kanada, Deutschland, Spanien und Großbritannien geradezu unumgänglich.

Daneben hält sogar McKinsey fest, dass die Schere zwischen arm und reich weiter auseinander klaffen werde, wobei McKinsey nicht von arm und reich spricht, sondern von jenen, welche mit dem Wandel Schritt halten und von den Opportunities profitieren, und den anderen, welche abgehängt werden, einmal abgesehen davon, dass die Entwicklung nicht in allen Sektoren gleich schnell und gleich gründlich verläuft. Wesentlich sei auf jeden Fall der Aufbau von beruflichen Fähigkeiten im Bereich Automation, Informatik und Künstliche Intelligenz. McKinsey schätzt in einer Simulation die Anzahl von Stellen, welche der Automation bis 2030 noch zum Opfer fallen werden, weltweit auf 400 Millionen. Gleichzeitig sollen durch Produktivitätsgewinne, Innovation sowie durch die Nachfrage nach neuartigen Arbeiten und Dienstleistungen 500 bis 900 Millionen neue Jobs entstehen. Aber insgesamt sei mit steigenden Ungleichheiten und mit einem Bruch des Sozialvertrags zu rechnen.

Es folgen dann einige Empfehlungen zur Behebung bzw. Bekämpfung solcher Probleme, denen ich mich hier nicht weiter zu widmen brauche; für mich ist sowieso der zuerst genannte Punkt der wichtigste, weil er etwas bestätigt, das in mein Weltbild passt: nämlich dass die Logik des wild tosenden Kapitalismus doch nicht so schrecklich und unbeherrschbar ist, wie sie uns manchmal erscheint, sondern dass kleinere, sogar regionale Einheiten tatsächlich wieder eine gewisse Herrschaft über die Produktion erringen können, wenn sie sich dies nur bewusst zum Ziel setzen. Damit reduziert sich das dauernde große Rätsel des Kapitalismus nicht mehr auf den Bereich der Produktion, sondern auf eine andere Frage, nämlich: Wie entsteht Kaufkraft? – Und diese Frage ist für mich nur mit Spekulationen zu beantworten, die auf Beobachtungen gründen; für mich sind, wie ich an dieser Stelle bereits erwähnt habe, die explodierenden Mieten in gewissen Städten ein deutliches Anzeichen für Kaufkraft, die eine Tendenz hat, sehr stark im Bereich neuer Dienstleistungen zu entstehen, neben den bekannten IT-, Marketing- und Beratungsaktivitäten. Jedenfalls entsteht sie beziehungsweise besteht bereits, und zwar sind hierfür nicht die bekannten reichen Säcke relevant, sondern eine wachsende Schicht von Angestellten und Freiberuflerinnen und Freiberuflern mit guten Aufträgen im Rahmen von Netzwerken, die ich nicht mal im Ansatz kenne, aber die vorhanden sein müssen, sonst gäbe es nämlich eben diese Phänomene der explodierenden Mietpreise nicht.

Analytisch gesehen, ist dies eine mehr als magere Aussage, und trotzdem bin ich sicher, hier eine Spur entdeckt zu haben, die möglicherweise auf einer alten Vermutung beruht, nämlich dass das Finanzkapital nach der Krise vor zehn Jahren zu seiner alten Form zurückgefunden hat zum einen, dass es ihm nun aber zunehmend gelingt, in die reale Welt hinein zu strahlen, das heißt, Kapitalvorräte werden zunehmend in recht seltsame Bereiche gepumpt, wo sie aber durchaus für das Schauspiel der Wertschöpfung beziehungsweise der Entstehung von Kaufkraft sorgen können, solange die Regeln halbwegs eingehalten werden. Fragt mich nicht, welche Regeln das sind; aber wenn ich feststelle, dass zum Beispiel Trendgetränke von Kleinunternehmen aus dem Boden schießen und diese ebenso ernähren wie zahlreiche In-Restaurants, muss ich auf das Vorhandensein von solchen Geldmitteln schließen. Zum Teil kann man das auch damit erklären, dass die klassischen Konsumgüter, sozusagen jene des primären Gebrauchs, halt tatsächlich unterdessen nahe bei null kosten, man bezahlt, wenn man noch richtig Geld ausgeben will dafür, nur noch den Markennamen, aus welchen Gründen auch immer; das heißt aber gleichzeitig, dass tendenziell mehr Geld für andere Vergnügungen zur Verfügung steht, und zwar, wie ich vermute, für eine immer stärker wachsende Bevölkerungsschicht. Oder, um auf den McKinsey-Bericht zurückzukommen: Die globalen Wertschöpfungsketten verändern sich in der entwickelten Welt auch insofern, als die Erträge des Finanzkapitals die Entstehung neuer, regionaler Wertschöpfungsmechanismen erlauben, die bisher ganz und gar außerhalb jeglicher Ökonomie stattfanden.

Reine Vermutungen, ich gebe es zu, aber was will man denn heutzutage noch sonst anstellen in einer Zeit anhaltender Nullzinsen und gleichzeitig der Vollbeschäftigung in praktisch allen entwickelten Ländern. Dass Vollbeschäftigung einher geht mit dem Jammern über drohende Gefahren und Konjunktureinbrüche und Rezessionen, versteht sich ganz von selber, das war schon immer so und wird es auf absehbare Zeit hinaus bleiben.

Davon mal abgesehen möchtet ihr von mir vielleicht noch wissen, was ich von der neuen Kandidatin für den Posten einer Chefin der Europäischen Kommission halte. Die Antwort ist einfach: das gleiche wie ihr, nämlich nichts. Dass dieser Posten derart bedeutungslos ist, dass man ohne Problem zunächst einen unbekannten und bedeutungslosen deutschen Provinzpolitiker dafür nominieren kann, der dann sogleich dem absehbaren Ränkespiel geopfert wird, worauf dann die zwar bekannte, aber ausgewiesenermassen europapolitisch von keinerlei Wissen beleckte deutsche Verteidigungsministerin hervor getrickst wird, das hätte ich mir nicht gedacht. Ich will damit nicht mehr oder weniger gegen Frau von der Leyen einwenden, als tatsächlich gegen sie einzuwenden ist, eigentlich muss man es ja schön finden, dass eine Frau als Kandidatin zuoberst steht, aber eben, diese Frau, die in Europa noch kein einziges Staubkörnchen bewegt hat, soll nun plötzlich die gesamte EU-Maschinerie leiten? Das ist wohl ein schlechter Witz, vielleicht weniger wegen Frau von der Leyen selber als vielmehr wegen der totalen Bedeutungslosigkeit, welche dem Posten mit einem Male zuzuschreiben ist.

Scherz beiseite, möchte man da rufen, und man wartet gespannt, ob diese Kandidatin nicht erneut eine Schein-Kandidatin ist, hinter welcher dann in den letzten Wahl-Runden plötzlich der oder die richtige Kandidatin auftaucht, wovon ich eigentlich ausgehe. Und wenn es dann doch Frau von der Leyen werden sollte, hoffen wir einfach inständig, dass sie entweder das richtige Format oder dann ganz simpel das persönliche Unvermögen hat, eine ähnliche Performance an den Tag zu legen wie der Juncker-Vorgänger, die Brühwurst Barroso. Der ist allerdings in jeder Beziehung schwierig zu toppen, und sei es nur das Kunstwerk mit dem Krieg in der Ost-Ukraine, das ich nach wie vor zu hundert Prozent auf das Konto von José Manuel Barroso verbuche.



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Albert Jörimann
16.07.2019

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