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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Usbekistan

Die Webseite der usbekischen Botschaft in Deutschland meldet derzeit vier Telefongespräche zwischen dem usbekischen Präsidenten Shawkat Mirziyoyew und den Amtskollegen Kassym-Jomart Tokayew und seinem Vorgänger Nursultan Nasarbajew, Wladimir Putin aus Russland sowie dem kirgisischen Präsidenten Sooronbay Jeenbekow, die alle am 24. Juli abgewickelt wurden.



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> Download Als ich dagegen die Investitionskarten der Regionen Usbekistans anklicken wollte, um zu schauen, ob ich die Guthaben auf meinem Sparheft angesichts der Negativzinsen vielleicht doch in den Osten schaufeln könnte, zeigte mir mein Computer ein leeres weißes Feld, was aber vielleicht daran liegt, dass ich mit einem Macintosh und dem ihm zugehörigen Browser Safari arbeite, auf jeden Fall kam ich in dieser Sache nicht weiter und eben nach Usbekistan hinein. Dabei befindet sich dieses Land mitten in einem tiefgreifenden Öffnungsprozess, nachdem der langjährige Präsident Islam Karimov im Jahr 2016 im Amt gestorben war. Anders hätte man den auch nicht weggekriegt von der Spitze des Landes; Karimov wurde schon 1989 erster Sekretär der KPdSU in Usbekistan, 1990 bis 1991 ein Jahr lang Vollmitglied im Politbüro und Präsident des Obersten Sowjets in Usbekistan, erklärte im August 1991 die Unabhängigkeit Usbekistans und wurde am 29. Dezember 1991 mit 86% der Stimmen zum ersten Präsidenten des Landes gewählt. Da laut der usbekischen Verfassung die Verlängerung der 5-jährigen Amtszeit nur einmal zugelassen ist, musste Karimov anschließend immer wieder tricksen, um nach 1996 auch 2002, 2007 und zuletzt 2015 die Wahlen erneut zu gewinnen. Wie gesagt: Wäre er 2016 nicht gestorben, so wäre er auch heute noch Präsident. Übrigens mit wohlwollender Unterstützung des Westens, weil Karimov der Nato Flugplätze und Logistik zur Verfügung stellte im Afghanistan-Krieg. Aber auch er musste dahin.

Sein Nachfolger Mirziyoyew war zwar lange Zeit Premierminister, hatte aber als solcher unter Karimov nichts zu sagen. Seit seiner Machtübernahme hat sich vieles verändert, vor allem wurden die zahllosen Regimekritiker aus den Gefängnissen entlassen. Als Anerkennung dafür ernannte ihn der Verband der asiatischen Journalistinnen zum Asiaten des Jahres 2018. Allerdings ist die Liberalisierung noch nicht so richtig konsolidiert; nach wie vor riskiert man gerade als Journalist seinen Job, wenn man kritisch über den Vorgänger Karimov berichtet. Aber auch Meldungen über Zwangsarbeit auf den Baumwollfeldern und über Kinderarbeit, welche unter Karimov gang und gäbe waren, halten nach wie vor an. Es gibt noch viel zu tun. Der Außenhandel soll angekurbelt werden; unter anderem unterzeichnete Mirziyoyew anfangs dieses Jahres in Berlin entsprechende Verträge im Umfang von 4 Milliarden Euro. Auch der Tourismus soll in die Gänge kommen; es gibt heute kaum mehr Probleme bei den Reisevisa, und der islamische, aber laizistische Staat hat einiges an Historie zu bieten mit verschiedenen wichtigen Knotenpunkten an der ehemaligen, vielleicht bald auch an der neuen Seidenstraße. Über das Erbe der Sowjetunion gehen die Meinungen auseinander. Die einen beschweren sich über die Sowjetarchitektur, welche die neuen Siedlungen und Quartiere prägt; die anderen verweisen auf den hohen Bildungsstand und unter anderem die Selbstverständlichkeit, mit der Frauen in der Gesellschaft Spitzenpositionen einnehmen. Allerdings habe ich kaum Spuren von Frauen in der Politik gefunden, wenn man mal von den früher aktiven Töchter von Karimov absieht; im Moment sehe ich nur die Wirtschaftsministerin Galina Saidowa, die schon unter Karimov aktiv war.

Wirtschaftlich hat das Land vor allem Energie und Gold zu bieten neben verschiedenen Agrar­pro­dukten, unter anderem Seide und Baumwolle, die von verschiedenen Unternehmen boykottiert wird wegen der erwähnten Zwangsarbeit. Allerdings können 70% des Territoriums gar nicht land­wirt­schaft­lich genutzt werden, Usbekistan ist ein Wüsten- und Steppen-Land. Weiter gibt es zwei Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitslinien, die ausnahmsweise von der spanischen Talgo-Gesellschaft erstellt wurden. Das Bruttoinlandprodukt liegt bei etwa 2000 Dollar pro Kopf, in Kaufkraftparität 4000 Dollar, das Pro-Kopf-Einkommen bei ungefähr der Hälfte. Die Ausland­verschuldung ist gering.

Der Grund für den heutigen Exkurs nach Usbekistan ist ein doppelter. Einerseits haben in Zentralasien, also neben Usbekistan namentlich in Kasachstan die neuen Generationen die Macht übernommen, was sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch in der Liberalisierung der Gesellschaften niederschlagen wird; mindestens verändern sich die bisherigen Clansysteme, die aus dem Untergang der Sowjetunion hervorgegangen sind. Das kann durchaus Auswirkungen auf die Nachbarstaaten haben, neben Kirgisien und Turkmenistan durchaus auch auf Afghanistan, soweit dessen Fühler nicht nach Pakistan und dem Iran, sondern auch in den Norden hinauf reichen. Und vor allem ist die Region zentral für die neue Seidenstraße Chinas.

Zum anderen ist es mir aber einfach widerwärtig, dauernd über Wladimir Putin zu sprechen. Einesteils habe ich einen gewissen Respekt vor der Aufgabe, ein derart unerforschliches Konstrukt wie Russland steuern zu müssen; die meisten Vorwürfe des Westens, vor allem im Zusammenhang mit der Annexion der Krim, halte ich für puren, ahistorischen und ignoranten Blödsinn, vor allem dann, wenn man sich wieder mal vergegenwärtigt, wie der Westen die Sowjets über den Tisch gezogen hat vor dreißig Jahren mit leeren Versprechungen im geopolitischen und militärischen Bereich. Ich führe einen guten Teil der antirussischen Vorwürfe auf das schlechte Gewissen der alten antikommunistischen Ideologen zurück.

Auf der anderen Seite zwingt doch einfach niemand den Gospodin Putin, seinen Kritikern derart schrankenlos Recht zu geben. Jetzt hat der doch dem Nawalny im Knast einfach Gift vorgesetzt. Und ich dachte bereits, der Nawalny sei dem Putin sein Parade-Oppositioneller, dem er mit anhaltenden Verhaftungen umso sicherer den Weg in den Kreml ebne, wenn die Zeit einmal reif sein wird. Aber ein Vergiftungsversuch spricht da eine andere Sprache, und ich gehe nicht davon aus, dass da einfach eine subalterne Knallcharge eine originelle Idee hatte; neinnein, das Dossier Alexander Nawalny ist Chefsache, der Gospodin Putin ist offensichtlich durch den Wind. Das zeigen auch andere idiotische Äußerungen, die schon fast die Qualität seines amerikanischen Pendants erreichen. Was soll das? Auch wenn das nur für die russische Öffentlichkeit gedacht ist: Strebt Putin ein Land voller Idioten an? Leute ohne Denk- und Urteilsvermögen? Dass so etwas auf lange Sicht nicht gut kommt, sollte er selber wissen. Und deshalb entziehe ich diesem Vollidioten nun den Rest meiner Unterstützung, ohne sie den Idioten bei den antirussischen Hetzern zukommen zu lassen und natürlich noch viel weniger den Idioten bei der versammelten nationalistischen Rechten in Europa.

A proposito nationalistische Rechte: Ich gehe nicht davon aus, dass ihr in Thüringen bei den Landtagswahlen im Herbst die Ergebnisse der Europawahlen wiederholen werdet, dass also die Allianz für Deutschland die zweitstärkste Partei im Land wird, wie überhaupt in der ganzen ehemaligen DDR. Es ändert nichts an der Tatsache, dass man einen Fünftel eurer Einwohnerschaft in den Verdacht der Strunzdummität rücken muss. Aus neutraler Sicht räume ich ein, dass der entsprechende Anteil in der Schweiz ausweislich des Wahlergebnisses der Schweizerischen Volkspartei bei 30% liegt. Anderseits gibt es bei der SVP kaum eine bedeutende Schicht an Sympathisanten mit Leuten, welche anderen Leuten Löcher in die Köpfe machen, bloß weil sie anderer Ansicht sind. Dies ist bei der AfD deutlich anders. Ich habe bereits früher einmal davor gewarnt, dass sich dies bei Gelegenheit auch gegen AfD-Politikerinnen wenden könnte. Aber im Grunde genommen bleibt mir einfach die Spucke weg angesichts eines rechtsnationalistischen Weltbildes, das vielleicht für gewisse Gebiete auf dem Mars oder für die hintere Seite des Mondes zutrifft, aber sicher nicht für diese unsere entwickelte Gesellschaft, welche trotz den zahlreichen ungelösten Problemen und offenen Fragen ganz eindeutig auf dem Gipfel des historisch jemals realisierten Wohlstandes für alle Bewohnerinnen angelangt ist. Respektive: Gerade hier müssen ernsthafte Politikerinnen und Politiker ansetzen und Reform- und Revolutionsmöglichkeiten untersuchen, wie die überkommene gesellschaftliche und politische Organisationsform den neuen Gegebenheiten anzupassen sei, sodass restlos alle Mitglieder der Gesellschaft, und zwar einer Gesellschaft, welche weder an der Grenze des Bundeslandes noch an der Landesgrenze halt macht, sondern ganz einfach der ganzen internationalen Gemeinschaft, dass also restlos alle Mitglieder dieser Gesellschaft in die Lage versetzt werden, die ungeheuren Chancen und Versprechungen dieser neuartigen Situation auch auszunutzen, und zwar nicht einfach mit der Verdoppelung des Bierkonsums, sondern in erster Linie mit der Aktivierung zusätzlicher Regionen im Hirn und in den Lustzentren desselben. «Das ist es, wovon wir träumen müssen!», schrieb schon Lenin, aber was hat die Allianz für Deutschland in dieser Beziehung zu bieten? Das pure Nichts, die Negation jeglicher Zukunft, die Verwandlung von Potenzialen in Abschaum, das ist so ziemlich alles, was ich zu sehen vermag.

Wirklich, auch unter Anerkennung der Probleme und des Unmuts, die sich nach der Wieder­vereini­gung in Ostdeutschland aufgestaut haben, irgendwann reicht es dann einmal. Es ist genau wie bei Putin: Irgendwann kippt das Verständnis um in Ärger, in einen Ärger darüber in erster Linie, dass die Menschen in einem derartigen Ausmaß sich weigern, einen vernünftigen Gedanken zu fassen, dass sich immer mehr Menschen wieder in der altdeutschen Tradition des Brüllens üben, statt sich ganz unaufgeregt dem Studium der Fakten zu widmen und auch dem kontroversen Gespräch darüber. Denn das gibt es selbstverständlich nach wie vor, dass man nicht gleicher Meinung ist, egal, ob aufgrund unterschiedlicher Quellenlage oder aufgrund unterschiedlicher Interpretation.

Denken, auch wenn es manchmal weh tut – das ist die Herausforderung der Stunde. Und für die anderen: Hände weg von der Pistole! Sonst kommt der Moment, an dem zurückgeschossen wird!



Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
30.07.2019

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