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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Teamsters

Laut der Weltbank ist die Verschuldung der Schwellen- und Entwicklungsländer von 2010 bis 2018 von 114 Prozent des Bruttoinlandprodukts auf 168 Prozent gestiegen, konkret auf 55 Billionen US-Dollar.



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> Download In diese Zahl eingerechnet ist seltsamerweise China, das für die Weltbank offenbar immer noch als Schwellenland gilt, vielleicht für die oberste Schnarchabteilung sogar als Entwicklungs­land. In China stieg die Verschuldung von 183 Prozent auf 255 Prozent. Gleichzeitig hält allerdings China, was weiß ich, einen Drittel der US-amerikanischen Schuldpapiere – um dieses Land braucht man sich wirtschaftlich keine Sorgen zu machen, im Gegensatz zu den anderen Volkswirtschaften auf der Entwicklungsstraße. Der Grund für die Zunahme der Verschuldung ist einfach: Es sind die tiefen Zinsen, welche auf der einen Seite die Verschuldung für die Schuldner attraktiv machen und auf der anderen Seite ausländische Kapitalien anziehen, welche nach noch halbwegs rentablen Anlagemöglichkeiten suchen. Somit stehen sich auf diesem Schauplatz der Zeitgeschichte einerseits eine unerhörte Verschuldung und anderseits eben ein Tiefzinsumfeld gegenüber, und niemand weiß so recht, ob sie oder er nun Alarm auslösen soll wegen einer unmittelbar, mittelfristig oder später bevorstehenden Schuldenkrise. Wer zu diesem Thema mehr wissen möchte, kann sich telefonisch direkt mit Joe Rebello von der Weltbank in Verbindung setzen unter der Nummer 001 202 458 8051.

Im Dezember präsentierten die beiden US-Senatoren Mitt Romney, früherer republikanischer Präsidentschaftskandidat, und Michel Bennet von den Demokraten ein Projekt für ein landesweites Kindergeld von 1500 US-Dollar pro Jahr bis zum Alter von 5 Jahren und 1000 Dollar von 6 bis 17 Jahren. Die Finanzierung soll unter anderem durch eine Reform der nationalen Erbschaftssteuer erfolgen, welche offenbar bisher regressiv ausgestaltet war, das heißt, je höher die Erbschaft, desto tiefer der Steuersatz. Neu soll dieser Steuersatz nun einheitlich ausgestaltet werden. Der Vorschlag der beiden ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert, nicht nur wegen der republikanisch-demo­kra­ti­schen Kooperation, sondern auch, weil das Kindergeld nicht an irgendwelche Bedingungen ge­knüpft ist und insofern die meisten Eigenschaften eines Grundeinkommens aufweist, bis auf die Höhe natürlich. In den USA bestehen bereits jetzt entsprechende Regelungen, aber nicht auf nationaler Ebene, sondern bei den Bundesstaaten; auch auf dieser Ebene, also der föderalistischen, ist der Vorschlag interessant. Und schließlich zeigt Mitt Romney, dass hinter der knüppeldicken oder stahlharten Fassade von evangelikaler Bigotterie und baumwurzeltiefer Ignoranz auch bei den Republikanerinnen ähnliche Tendenzen vorhanden sind wie bei den Demokratinnen. Gut, man kann sagen, dass es die Demokratinnen in letzter Zeit in keinem bekannten Fall geschafft haben, sämtliche Grundlagen der menschlichen Gesellschaft und nicht zuletzt der Naturwissenschaften zu verleugnen, im Gegensatz zum aktuell dominierenden Flügel der Republikanerinnen; sie haben dafür einen linken Flügel ausgebildet, vor allem um Bernie Sanders, von dem man einfach nicht weiß, was er in dieser Partei zu suchen hat. Können die nicht endlich mal eine eigene Partei gründen? Auch wenn sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht den Hauch einer Chance hat in diesem großen freien Land?

Kürzlich kam der neueste Film von Martin Scorsese in die Kinos, «The Irishman», in welchem Al Pacino James Hoffa spielt, jenen Boss, welcher der Transportarbeiter-Gewerkschaft Teamsters in den fünfziger und sechziger Jahren zu einer unvergleichlichen Machtposition in den USA verhalf. Hoffa hatte gar nichts am Hut mit den sozialistischen Ursprüngen der Gewerkschaftsbewegung, vielmehr baute er die Organisation nach Mafia-Prinzipien auf, mit einem gewaltigen Erfolg, wie man sieht. Ein zentrales Element war die Regulierung des Marktzugangs der Transportunternehmen mit arbeitnehmerfreundlichen Anstellungs- und Kündigungsbedingungen für die Beschäftigten und dem Vertragszwang für die Arbeitgeber. All dies erfolgte in relativ enger Anbindung an die republikanische Partei, insbesondere an Richard Nixon, der auch finanziell unterstützt wurde und der dann folgerichtig auch James Hoffa begnadigte, als er zum US-Präsidenten gewählt wurde. – Ein Preis des Erfolgs war die richtige Mafia, welche sich mehr oder weniger nach Belieben bei der gewerkschaftseigenen Pensionskasse bedienen durfte und so unter anderem die Entstehung des Spielparadieses Las Vegas finanzierte. Die Teamsters blieben auch nach Hoffa eine mächtige Organisation bis ins Jahr 1979, als die Regulierungen abgeschafft wurden und vertragsfremde Unternehmen auf den Markt drängten. Anfangs der 1990-er Jahre kam eine fortschrittliche Führung an die Macht, welche die Teamsters politisch weg von den Republikanern führte, hin zu den Demokraten; 1996 gewann das Unternehmen einen historischen Arbeitskampf gegen UPS, verlor aber kurz darauf seine fortschrittliche Führung; an ihrer Stelle wurde niemand anders als der Sohn von James Hoffa zum Präsidenten gewählt, welcher die Gewerkschaft wieder von den Demokraten abwendete, und er ist noch heute an der Spitze und unter anderem Vorstands­mit­glied der Dachorganisation International Transport Workers Federation.

Eine schöne Geschichte, in erster Linie die Geschichte einer Arbeitnehmerinnen-Organisation ohne irgendwelche emanzipatorische Hintergedanken. In den Vereinigten Staaten haben progressive Gedanken keinerlei Einfluss auf die Gesellschaft, und das wird eben der Grund sein dafür, dass sich die meisten fortschrittlichen Bewegungen lieber einen Platz im Windschatten der demokratischen Partei suchen, statt als selbständige politische Kraft aufzutreten. In Europa nimmt man sie in der Regel während dem Schaulaufen im Rahmen der Vorwahlen für die Präsidentenwahl wahr und stellt dann im eigentlichen Wahlkampf fest, dass von irgendwelchen Prinzipien keine Rede mehr ist. Das gilt für die Republikaner genau gleich wie für die Demokraten. Auf der anderen Seite gilt die Verfassung der USA als nach wie vor sehr modern, und die Politikerinnen geben sich in allen Lagern als Verfassungspatriotinnen. Zwischen dem täglichen Leben und der Verfassung erstreckt sich wiederum ein gesetzgeberischer Dschungel, der vor allem im Bereich der Hochfinanz und des Industriekapitals den Vergleich mit dem aktuellen Russland kaum scheuen muss.

Die Weite des Landes bringt es wohl mit sich, dass die Vorstellung von Freiheit in den Vereinigten Staaten durchaus abweicht von jener in Europa, wo man Freiheit sehr stark im Zusammenleben mit anderen Menschen denken muss. Umgekehrt macht mir der herrschende Polit-Sprachgebrauch einen sehr europäischen Eindruck; die Forderung nach einem Zuwanderungsstopp setzt ja geradezu voraus, dass man keinen Platz mehr hat, sei es räumlich oder in den Institutionen. So fügt sich ein Rätsel ans andere. Mir bleibt vorderhand nur die Hoffnung, dass in meiner Umgebung nicht etwa ein Loch vorhanden sei, in das ich hineinfallen und unten in den Vereinigten Staaten heraus­kommen könnte.

Man weiß auch nie so genau, ob man in Österreich herauskommen möchte. Im Moment haben die da einen schwarz-grünen Testlauf eingeleitet, dem ich durchaus Chancen einräume, da der Jungkanzler Kurz schon beim anderen Testlauf mit dem Sauhaufen der Freiheitlichen keinerlei Hemmungen oder Grundsätze an den Tag gelegt hatte – weshalb sollte es mit den Grünen anders sein, zumal das Umweltthema auch in Österreich zur Kenntnis genommen worden ist. Die Grünen werden sich einigermassen zurückhalten, weil sie die erstmals gewonnenen Posten in Regierung und Verwaltung nicht sofort wieder aufs Spiel setzen wollen, und die ÖVP wird keinen Grund haben, eine gemäßigte Umweltpolitik zu bekämpfen, zumal man ja auch damit Geld machen kann. Eine gute Freundschaft für ein paar Monate sehe ich da voraus und einen schweren Stand sowohl für das Freiheitlichen-Pack als auch für die Sozialdemokratinnen, denen bereits ein paar Felle stromaufwärts in Richtung der Grünen davon geschwommen sind.

In Italien habe ich nach dem Wahlsieg der Lega die umbrische Hauptstadt Perugia unter die Augen genommen mit einem mehrtägigen Besuch. Besonders aufschlussreich war das nicht bis auf die Tatsache, dass unter unserem Hotelzimmer die Sardinen in der Nacht zum Freitag Krach schlugen bis morgens früh um vier Uhr, wobei Krach vielleicht etwas irreführend ist, sie waren einfach guter Laune und sangen ihre Lieder in abnehmender Qualität und zunehmender Lautstärke der Darbietung. Wo aber diese Organisationsform der Nichtorganisation hinführen soll, diese Frage stellt sich nicht nur anhand von Gegen-Erscheinungen wie der Gewerkschaftsbewegung. Es handelt sich, chemisch gesprochen, um sehr flüchtige Verbindungen, die anderseits jederzeit an jedem Ort neu entstehen können. Die traditionellen stabilen Elemente dagegen lösen sich offenbar auf beziehungsweise werden in eine neue Form übergeführt, über deren definitive Gestalt für mich noch keine Aussagen möglich sind. Anhand von Figuren wie Kurz, Macron oder Salvini kann man vermuten, dass Führungsfiguren oder sogar Führer durchaus eine Rolle spielen können, aber ihrem Herrschaftsraum wohnt das Ende bereits inne.

Wie aber organisieren sich jenseits der Politik die Wirtschaft und die Gesellschaft unter den Bedingungen des allgemeinen Reichtums? Woher kommt der Zaster, wenn die Arbeitsplätze in der Automobilindustrie verschwinden? Auf diese ewigen Fragen habe ich nach wie vor keine vernünftigen Antworten. Ich weiß nur, dass das Instrumentarium der Klassenanalyse hier keine vernünftigen Antworten liefert, wie ich schon verschiedentlich betont habe. Und ich weiß auch, dass die Publikationen zur Vermögens- und Einkommens-Ungleichheit von Thomas Piketty und all den anderen zwar unbedingt notwendig sind, aber eben auch keine Antworten über diese Ungleich­heit hinaus bieten. Eine Vermutung habe ich, nämlich dass ein Teil der Wahrheit konkret ist, das heißt, dass die Institutionen und Infrastrukturen der postkapitalistischen Gesellschaft anständig mit Geld ausgestattet werden und modernisiert werden müssen, sodass die Kommunen auch ihre Straßen und Abwasserleitungen ausbauen und reparieren können und dass es möglich ist, ein Gebäude zu erstellen, ohne dass zweitausenddreihundert Behördengänge zu erledigen und ebenso viele Formulare auszufüllen sind. Aber das ist nur ein Teil des Ganzen.



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Albert Jörimann
07.01.2020

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