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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Der 6. Januar

Im Jahr 2018 gab der sozialdemokratische Ministerpräsident der Slowakei, Robert Fico sein Amt auf, nachdem Vizepremier und Innenminister Robert Kalinak zurückgetreten war; die Untersuchungen zum Mord an Jan Kuciak waren dem inneren Machtzirkel der Regierung zu nahe gekommen, um ohne Konzessionen ans Publikum weiter zu wurschteln.

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Immerhin war er noch wirkmächtig genug, um seinen Parteifreund Peter Pellegrini als Nachfolger zu bestimmen. Im letzten Jahr verlor die Sozialdemokratische Partei allerdings ihre Mehrheit, jetzt besteht die Regierung aus einer bürgerlich-rechtspopulistisch-liberalen Koalition unter Igor Matovic. Peter Pellegrini trat aus der Smer aus, um eine eigene Partei zu gründen, welcher unterdessen 11 der anfänglich 38 Smer-Parlamentarierinnen angehören. Im Januar 2020 gestand der Mörder von Jan Kuciak die Tat und gab den Namen des Anstifters Marian Kocner preis; dieser wurde umgehend freigesprochen. Ende Dezember hat sich nun der ehemalige nationale Polizeichef des Landes Milan Lucansky umgebracht; er saß in Untersuchungshaft wegen Korruption und der Gründung einer Verbrecherbande. Die beiden sozialdemokratischen Parteien von Fico und Pellegrini sind ebenso von Lucanskys Unschuld überzeugt wie davon, dass George Soros das Land destabilisieren will. Ein Untersuchungsausschuss wurde eingesetzt. Das Theater geht weiter.

Ein anderes Theater geht seinem Ende zu, und zwar auf außerordentlich faszinierende Art und Weise. Die von Trump mobilisierten Eindringlinge in das Kapitol erinnerten mich in ihren Fantasiekostümen und mit den langen Bärten stark an Anti-Vietnam-Demonstrationen mit Hippies und Rockern; eine Zeitlang leuchtete mir sogar die Polizeitaktik ein, die ich als Deeskalation sah – man malt sich gar nicht aus, was geschehen wäre, wenn die Polizei das Feuer auf die Demonstranten eröffnet hätte, wie dies bei einem schwarzen Demonstrationspublikum mit Sicherheit der Fall gewesen wäre, aber das wurde schon zu genüge abgehandelt, bei einer Black-Live-Matters-Veranstaltung wäre erneut ganz Washington voll gewesen mit allen Arten von Polizei, welche das Land jemals produziert hat, und auch die Armee hätte wahrscheinlich einen Sicherheitsring um Washington geschlossen. Hier nicht; weiß zu weiß gesellt sich gern, die Demonstrantinnen im Parlament zeigten sich mehrheitlich treu vereint mit den Sicherheitskräften, man wollte sich nicht weh tun. Überhaupt dachte ich eine Zeitlang, ein paar von den trumptreuen Senatoren oder Kongressabgeordneten hätten die Protestierenden ins Haus gelassen, eben wie kürzlich die AfD ihre Lieblinge in Berlin. Das Ganze hatte einen sehr starken Happening-Charakter, was die Irrealität ins Gewaltige steigerte. Da ich kein Amerikaner bin, bringe ich dem US-Parlament auch keinerlei Ehrfurcht entgegen; ich teile die Einschätzung der Demonstranten voll und ganz, wonach es sich hier um ein wahres Bordell von Lobbyistinnen und übelsten Vertreterinnen von Partikularinteressen ohne jede Rücksicht aufs Allgemeinwohl handelt, und zwar hüben, also bei den Republikanerinnen, wie drüben, also bei den Demokratinnen, da mache ich mir nun wirklich überhaupt nichts vor. «Haus des Volkes», dass ich nicht lache! Dass für einmal normale Leute diesen gigantischen Misthaufen stürmten, war eine wunderbare Abwechslung, das sollten sie öfter tun, die US-Amerikanerinnen. Da war es zeitweilig durchaus egal, dass es sich um Leute von der echten Lügenpresse handelte, Verschwörungstheoretikerinnen, Alt-Right- und Q-Anon-Anhängerinnen; es war ja schon immer die große Ironie an diesem bescheuerten Showmaster und Clown, dass seine Kritik an der Elite in der Sache zu hundert Prozent gerechtfertigt war. Nur hat er die Politik dieser Elite selber zu einhundert Prozent fortgesetzt, und dazu brauche ich nicht auf die Bildungsministerin Betty DeVos zu verweisen, deren Bruder Eric Prince als Gründer der Söldnertruppe BlackWater ebenso die Privatisierung des Militärs betrieb wie sie selber jene der Ausbildung; Donald Trump begnadigte im Dezember denn auch konsequenterweise vier Blackwater-Mitarbeiter, die wegen Massenmordes an Zivilisten zu milden Haftstrafen verurteilt worden waren. Und wie hat sie es ihm gedankt, die treulose Betty? Sie hat ihm, als alle anderen treulosen Fahnenflüchtigen das sinkende Schiff verließen, ebenfalls den Bettel vor die Füße geworfen und ist auf die letzten Meter Trump hin noch zurückgetreten! Oder die Verkehrsministerin: Wessen Ehefrau war diese Elaine Chao jetzt schon wieder, die sich ebenfalls noch kurz vor Ladenschluss abgesetzt hat? Ja, richtig: Es handelt sich um die angetraute Ehebraut von Mitch McDonnell, dem republikanischen Mehrheitsführer im Senat. Donald Trump, der einsame Kämpfer gegen den tiefen Staat, wie er sich selber immer wieder gerierte und wie ihn nicht nur die Alt-Right-Bewegung, sondern auch verschiedene libertäre Oppositionelle ansahen, war nichts anderes als ein in einer Clownmaske eingekleideter Hohepriester dieses Tiefen Staates. Allerdings ohne es selber zu bemerken, muss man auch noch anfügen; dieser Idiot hat vermutlich nicht einmal die Qualifikation als solcher, das heißt als Idiot, er ist einfach ein von einem unerforschlichen Verlauf der Weltgeschichte vorübergehend an die Oberfläche und an die Spitze des mächtigsten Landes gespültes Schnipsel des kollektiven Unterbewusstseins aus der Abteilung Kloake.

Tut nichts zur Sache. Wie gesagt: Das Kapitol wurde durchaus nicht von den Trump-Truppen profaniert, sondern von seinen üblichen Bewohnerinnen, damit das nochmals in aller Klarheit festgehalten wird. Daneben boten die sechs Stunden, die ich am Stück vor dem Fernsehapparat verbrachte, natürlich reinste und beste Unterhaltung. Sie brachten die allgemeine Sprachlosigkeit angesichts der unsystematischen Dauerlügen von Clown Trump auf ein neues Niveau. Der wird doch nicht... die werden jetzt doch nicht... Und jeder Schritt, den die Truppe dann doch tat, ohne auf Widerstand zu stoßen, führte einen in neue Abteilungen der Fassungslosigkeit und des Unglaubens, das zum ersten Mal zu einem vernünftigen Wort fand mit der Fernsehansprache von Joe Biden, in welcher er den sitzenden Präsidenten ultimativ dazu aufforderte, sich jetzt an seine Anhänger zu wenden und sie nach Hause zu schicken. Was dieser dann ja auch tat, wenn auch sichtbar widerwillig und mit viel Liebe für seine kleinen Aufrührerinnen.

Zwei Tage später hatten ihn seine Familienmitglieder dann doch so weit weich geklopft, dass er den von ihm angerichteten Aufruhr verurteilte, und zwar in genau jenen Worten, die der schläfrige Joe sonst jeweils an seine Mitbürgerinnen richtet. Jetzt ist es Zeit, die Wunden zu heilen und so weiter.

Was mich angeht, so bin ich durchaus nicht der Auffassung, dass es die wichtigste Aufgabe des neuen Präsidenten sein wird, das Land zu einen oder zu heilen – hört doch auf mit diesem Bullshit. Was soll denn da geeint und geheilt werden? Will irgendjemand einen Dialog beginnen zum Thema, ob die Erde flach sei oder nicht? Geht irgendjemand davon aus, dass mit dem Trump-Clown auch nur ein halbes vernünftiges Wort zu wechseln ist, geschweige denn mit einem seiner Anhängerinnen? Die haben ja schon behauptet, der ganze Sturm aufs Kapitol sei ein Werk der Antifas, als die Rechtsextremen, Rassisten und sonstwie geistig Umnachteten noch voller Stolz ihre eigenen Social-Media-Posts aus dem Parlament sandten. Das kann doch nicht euer Ernst sein, Kolleginnen und Kollegen!

Neinnein, Joe Biden braucht dieses Land nicht zu einen und zu heilen, und das braucht es auch gar nicht. Was es braucht, sind Mechanismen, mit denen der tiefe Staat im Kern umgebaut werden kann, sodass er eben kein tiefer Staat mehr ist, in welchem alles zu seinem Recht kommt, was 5 Milliarden Dollar und mehr sein eigen nennt und alle anderen kategorisch nicht, sondern ein Staat für die Bevölkerung und von der Bevölkerung. Ein einfacher Indikator dafür sind nicht die Besitzverhältnisse, sondern die Besitzmengen. Elon Musk, euer deutscher Elektroautomobil-Pionier aus Brandenburg, war Ende 2020 188 Milliarden Dollar wert, wovon 150 Milliarden allein im Pandemie-Jahr 2020 entstanden sind. Als Vorauszahlung dafür hat er immerhin im Oktober 2019 die nennenswerte Summe von einer Million US-Dollar gespendet, mit denen 1 Million Bäume gepflanzt werden sollen. Vermutlich steht die Hälfte davon später in Berlin.

Von dieser Art sind die Probleme, und da gibt es nichts zu kitten. Da gibt es nur zu beschneiden, zum Beispiel durch eine Steuerreform in Joe Bidens Heimatstaat Delaware. Hahaha! War ein Scherz! Joe Biden wird nicht im Traum daran denken, jene Steueroase auszutrocknen, die seine Heimat ist. Nein, im Ernst: Was hat die politische Linke in den Vereinigten Staaten denn so für Projekte für diese echten und offensichtlichen Probleme, für dieses verrottete Scheiß-System? Aus der Distanz kann ich es sagen: Sie begnügt sich mit der Rhetorik einiger vermeintlicher Politikerinnen wie Bernie Sanders oder Alexandria Ocasio-Cortez, eine Rhetorik, welche noch nie in der jüngeren Geschichte zu einer echten Verbesserung der Lage der Bevölkerung geführt hat. Der einzige Fortschritt beschränkt sich auf die Legalisierung von Cannabis in immer mehr US-Bundesstaaten, nachdem die Opioid-Hersteller wie Purdue Pharma das ärmste Viertel der Bevölkerung in die Abhängigkeit getrieben hat und jetzt tatsächlich, wie im Fall von Purdue Pharma, fast 10 Milliarden Dollar an Straf- und Entschädigungszahlungen ausrichten wird, nachdem sie ein Jahr zuvor Konkurs gegangen war angesichts von Forderungen über 12 Milliarden Franken. Die Purdue-Besitzer-Familie Sackler war vor fünf Jahren noch 13 Milliarden Dollar schwer, jetzt sind es nur noch zehneinhalb. Ach, du liebes bisschen.

Nein, das kann man deutlich sagen: Die vermeintliche Linke innerhalb der demokratischen Partei ist seit Jahr und Tag auf eine Art und Weise zahm und domestiziert, dass man nur noch feststellen kann, dass all die vermeintlichen Rebellen in Tat und Wahrheit ebenso auf ihren Sesseln kleben wie auf der anderen Seite die idiotischen Realitätsleugnerinnen. Zugegeben: Mit den Linken kann man wenigstens noch einigermaßen vernünftig sprechen, sie sind noch nicht in den Zustand des vorkindlichen Lallens verfallen wie die Ultrarechten. Aber eine handfeste Strategie zur Modernisierung und Demokratisierung der Vereinigten Staaten von Amerika ist von dieser Seite her nicht zu erwarten. Seltsamerweise geht der Diskurs trotz streckenweise vernünftiger Argumentation offensichtlich an den echten Grundtendenzen und möglichen Ansatzpunkten und Hebeln völlig vorbei.

Gut, eines ist gewiss: Mit einem Besuch im US-amerikanischen Parlament wird man dies auch nicht ändern.


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Albert Jörimann
12.01.2021

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