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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Der März

Es ist nicht mehr wie früher. Jetzt verliert sogar die Schweiz fast 6 Milliarden Dollar jährlich durch Steuerflucht, wie die Organisation Tax Justice Network offenbar herausgefunden hat, und zwar nicht ganz eine Milliarde bei Unternehmenssteuern und fast 5 Milliarden durch die Verschiebung von Geldern durch vermögende Privatpersonen in Steuerparadiese, wie der Zürcher «Tages-Anzeiget» berichtet.

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Hauptprofiteure seien die Niederlande, Luxemburg und die Vereinigten Staaten. Es ist nicht mehr wie früher! – Immerhin, immerhin erzielt die Schweiz auch Steuergewinne durch die Steuerflucht aus anderen Ländern, und zwar fast 13 Milliarden Dollar, wodurch netto 7 Milliarden im neutralen Taxhafen Schweiz bleiben. Es ist doch nicht alles anders. Ich bin beruhigt. Die Europäische Union hat nach dem Bankgeheimnis auch noch weitere Steuerprivilegien in der Schweiz geknackt, damit ihre erwähnten Mitgliedstaaten Luxemburg und die Niederlande besser ins Geschäft kommen; denen ihre Aktivitäten werden mit jährlich 20 bis 200 Milliarden Schaden für europäische Staaten beziffert. Aber egal. In Brüssel sollte man Steuerlobbyist sein, nicht nur für die Niederlande, sondern auch für die Technologiegiganten Facebook, Google, Apple und Amazon, denen nicht nur Frau Verhagen endlich mal an den Kragen will. So wie es aussieht, packt auch der neue US-amerikanische Präsident die Sache jetzt energischer an als seine Vorgänger.

Überhaupt, Sleepy Joe! Nicht, dass ich die entsprechenden Erlasse und Maßnahmen im Detail kennen täte, aber es macht doch den Anschein, als würde der alte Herr ziemlich energisch durch die Gegend stapfen und am Schluss sogar so etwas wie ein soziales Sicherungssystem in den Vereinigten Staaten einführen, immer unter dem Deckmäntelchen der Corona-Hilfe, versteht sich. Aber man stelle sich das vor: breite Sozialversicherungen in den Vereinigten Staaten! Das Unterfangen scheint ähnlich gewagt wie die Besiedelung des Mars oder die Begrünung der Sahara. Und doch gibt es wieder mal einen Anlauf, diesmal möglicherweise mit höheren Realisierungs­chan­cen, weil die Republikaner nach dem Trump-Idioten einen weitgehend handlungsunfähigen Eindruck machen. Das wären echt gute Nachrichten und ein wichtiger Meilenstein bei der Sozialdemokratisierung der ganzen Welt.

Ebenfalls dem «Tages-Anzeiger» entnehme ich die Meldung, dass ein Beverly-Hills-Cop jüngst einen alten Pop-Hit laufen liess, als er auf seiner Polizeistation Besuch erhielt von einem Video-Journalisten, der sich auf Polizeigewalt spezialisiert hat. Der Zweck der musikalischen Darbietung bestand darin, dass es offenbar Algorithmen gibt, welche sich auf das unbefugte Abspielen von urheberrechtlich geschützter Musik spezialisieren und die Übertragung entsprechender Sendungen sofort abschalten von wegen Schutz geistigen Eigentums und so. Also: Kommt ein Investigativ-Journalist auf den Polizeiposten, sofort Beatles laufen lassen! Wir haben es hier wie bei den originalen Film-Cops mit einem intelligenten Exemplar der Gattung Bullen zu tun. Mich aber hat vor allem der Algorithmus aufgeschreckt. Ich weiß nicht, ob es in der Vereinigten EU je dazu kommen wird, aber in den Vereinigten Staaten stehst du wohl schon mit einem Bein im Grab, mindestens aber im Gefängnis, wenn Du Musik hörst, weil du ja dem Algorithmus nicht nachweisen kannst, dass du Rundfunkgebühren bezahlt hast oder was weiß ich. Dieses Rechts­system möchte man sich im eigenen Interesse lieber vom Leibe halten. Eben, wenn sich Joe Biden tatsächlich daran macht, die Unterhaltungs- und Technologie-Krake zu bändigen, sollte er sich gerne auch mit solchen Details beschäftigen. Der Artikel nennt übrigens Beispiele dafür, wie verschiedene Personen und Organisationen mit dem Mittel des Urheberrechtes Kritiker zum Schweigen bringt, namentlich die Scientology-Organisation. Naja.

In Punkto Sozialdemokratisierung haben wir übrigens in der neutralen Schweiz ebenfalls Kenntnis genommen von den Wahlergebnissen in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz. In beiden Fällen wird behauptet, dass die Erfolge auf die Persönlichkeit der regierenden Minister­präsiden­tinnen zurückzuführen seien, also von Malou Dreyer und von Kamerad Kretschmann. Letzterer hat mir schon immer gefallen, nicht zuletzt wegen seiner kommunistischen Jugendzeit, während der ihm sogar ein Berufsverbot drohte; jetzt nennen ihn alle Kommentatorinnen einen Konservativen, was ich nicht beurteilen kann, ich weiß nur, dass ein grüner Ministerpräsident für das Mercedes-Benz-Bundesland Baden-Württemberg ganz genau die richtige Figur ist. Übrigens wird ja auch euer geschätzter Ministerpräsident Ramelow von allen Seiten als rechter Sozialdemokrat betitelt, das liegt höchst wahrscheinlich an der Funktion, die die betroffene Person auszuüben hat, wenn sie oder er einmal in solch ein Regierungsamt gewählt wurde. Da kann man nicht mehr groß revoluzzen. Es sei denn, man heiße Joe Biden und wäre gleich nach der Besetzung des US-Präsidentenamtes mit einem Vollidioten an die Macht gekommen. Da ist die Sehnsucht der Menschen nach etwas Vernunft und eben auch Fortschritt nicht zu unterschätzen.

Ja, was macht er überhaupt und eigentlich, unser Volltrottel? Einige seiner Anhänger haben ihm, soweit ich weiß, die Stange gehalten, weil sie davon ausgingen, dass irgend eine geheime unterirdische Macht ihn im Monat März wieder an die Macht spülen würde. Es ist jetzt Mitte Monat, es sind die Iden des März, und wir haben noch gar nichts gesehen von der Trumpschen Gegen-Verschwörung. Eines aber kann man sagen: In einer gewissen Art und Weise fehlt er uns, so wie einem alten Ehepaar, das sich gegenseitig ständig bekriegt hat bis aufs Blut, die Hassfigur fehlt, wenn der eine dann mal stirbt. Aber dieses Defizit wollen wir mit Fassung tragen.

Letzte Woche hatte ich die Intervention der kroatischen Kulturministerin zum Schutz eines Denkmals aus der Hand eines kroatischen Künstlers in Chicago erwähnt. Nun lese ich etwas Ähnliches aus dem Kongo: Der Bürgermeister von Kikwit Leonard Mutangu ließ anfangs März ein Denkmal entfernen, das an den vor sieben Jahre3n in Paris verstorbenen Musiker King Kester Emeneya erinnerte. Der Grund: Die Figur entspreche in keiner Art und Weise dem tatsächlichen Aussehen des verstorbenen Leiters der Victoria-Eleison-Band. Das Denkmal wurde nur elf Tage nach seiner Einweihung von seinem Platz in der Öffentlichkeit in ein Museum überführt. Die Anhänger von Emeneya haben dieses Vorgehen begrüßt.

Und wenn wir schon dabei sind: Am 7. März ist in Kinshasa der populäre Musiker Josky Kiambukuta gestorben. Auch er emigrierte vor zwanzig Jahren nach Frankreich und hatte dort wohl einigen Erfolg; vor zehn Jahren aber kam er zurück in die demokratische Republik Kongo, wo er jetzt 72-jährig gestorben ist. Nicht, dass ich seine Musik in- und auswendig kennen täte, aber der Kongo-Rumba «Chandra» ist doch ein ganz lüpfiges Stück Musik.

Der Mo-Ibrahim-Preis für afrikanische Regierungschefs, welche freiwillig und auf demokratische Art und Weise aus ihrem Amt scheiden, wurde in diesem Jahr an Mahamadou Issoufou verliehen, den bisherigen Präsidenten des Niger. Letzte Preisträgerin war die ehemalige liberianische Präsidentin Johson Sirleaf im Jahr 2017. Am Jury-Entscheid mitgewirkt hat übrigens auch ein Deutscher, nämlich der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler.

Kommen wir zurück zu den Technologie-Riesen. Nach dem EU-Medienservice Euractiv hat Facebook nun auch in der Schweiz – vermutlich auch in Deutschland und anderswo in Europa – den großen Zeitungsverlagen ein finanzielles Angebot vorgelegt, mit welchem sie die kostenlose Nutzung deren journalistischer Inhalte irgendwie abgelten wollen; damit würden sie wohl auch so etwas vermeiden wie auf der vorher erwähnten Polizeistation in Beverly Hills, wenn nämlich solche Abgeltungen dereinst einmal im Gesetz festgeschrieben werden sollten. Hier geht es dann nicht um einzelne Individuen, sondern eben um Facebook, das Geld macht mit verschiedenen Dienstleistungen, die nicht zuletzt auf der Gratisnutzung von anderer Menschen Arbeit beruhen. Also hat Facebook wie gesagt jetzt ein freiwilliges Angebot zusammen geschustert und kalkuliert offensichtlich darauf, dass so vermieden werden kann, dass die Abgeltungspflicht ins Gesetz gemeißelt wird. Zu meinem Erstaunen haben sich die großen Verlage geweigert, das Angebot anzunehmen. Vielleicht war es ihnen zu schäbig, vielleicht regt sich doch noch ein Rest von journalistischem Gewissen, nachdem es den meisten unterdessen doch ziemlich schnuppe ist, womit sie ihre Kröten verdienen. Und zum journalistischen Gewissen möchte ich jenen Chefredaktor zitieren, der kürzlich gesagt hat, seine Zeitung sei dazu verpflichtet, darüber zu berichten, was das Publikum interessiere. Bullshit, muss man da rufen, eben gerade nicht. Genau das ist das Gegenteil von wirklichem Journalismus. Der Journalismus muss übrigens auch nicht alle fünf Minuten einen Primeur liefern oder einen Skandal aufdecken; der Journalismus soll einfach möglichst neutral und objektiv darüber berichten, was läuft, und wenn es dann noch gelingt, hin und wieder Informationen zu den Hinter- und manchmal auch Abgründen zu liefern, umso besser. Aber was das Publikum interessiert, das kommt ganz weit hinten auf der Traktandenliste. Sonst müssen wir uns tatsächlich noch darüber zu streiten beginnen, ob Harry und Meghan bei Oprah nun wirklich einen weiteren Skandal am britischen Königshof aufgedeckt haben oder ob Meghan nur einen Beitrag im Ähnlich-wie-Lady-Diana-aus-der-Wäsche-Blicken, nämlich mit Augenaufschlag von schräg unten herauf, geleistet hat. – Ach, die Royals! Als roter Faden für eine TV-Serie, eben das Netflix-Teil «The Crown», haben sie zweifellos ihre Verdienste. Was den Rest angeht, hege ich nach wie vor gut begründete Zweifel. Mich ärgert nur schon das an die neutrale Schweiz angrenzende Kleinstfürstentum Liechtenstein, und zwar vor allem deshalb, weil die Hauptstadt Vaduz wirklich genau unten an den Felsen hingeklebt ist, auf dem das Schloss des Landesfürsten prangt. Ein deprimierender Anblick, wenn sich die Einwohnerinnen derart vor dem Adel bücken, auch im neuen Jahrtausend.

Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
16.03.2021

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