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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Eine freche Sixt-Werbung

Eine mir ansonsten unbekannte Internetpublikation mit dem Namen «Horizont» gibt jenen, die es bereits wissen, den notwendigen Feedback, um ihr Wissen validiert zu wissen (wozu der fragile Durchschnittsmensch
offenbar für sich selber nicht in der Lage ist, sonst würden solche Feedback-Meldungen nicht die Push-Meldungen
aller unbekannten und bekannten Internetpublikationen nicht einfach überschwemmen, sondern geradezu ausmachen)...

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...mir aber, der ich es nicht wusste, war es eine echte Neuigkeit, eine sogenannte Nachricht, eine News, oder eine Information oder was auch immer: Die Internetpublikation «Horizont» lockte das Leserinnen-Interesse am 9. Juli 2021 mit dem Leimzweig «Plagiatsvorwürfe: Sixt knöpft sich Annalena Baerbock vor». Bin ich also auf diesem Leimzweig kleben geblieben. Wie kommt eine Autovermietungsfirma dazu, Annalena Baerbock wegen Plagiatsvorwürfen vor Gericht zu ziehen? – Denn dies und nur dies konnte die Aussage des Titels in der Internetpublikation «Horizont» sein. Hatte Frau Baerbock in ihrem Buch auch noch bei Sixt abgeschrieben? Das war außerordentlich merkwürdig.

Tatsächlich handelt es sich aber um eine, Zitat: «gewohnt freche Anzeige», nicht bei der Staatsanwaltschaft eingereicht, sondern in den Social Media geschaltet, in welcher Frau Baerbock neben ein Automobil montiert ist zur Schlagzeile: «Sie verwenden ungern Eigenes?»

Oh, Haha. Oha. Wenn dies die gewohnte Frechheit von Sixt ist, dann brauchen wir uns um diesen Autoverleih weiter keine Sorgen zu machen. Dagegen frage ich mich, so auf dem Leim sitzend, doch nach den neuronalen Aktivitäten im Rahmen dieser mir unbekannten Internetpublikation «Horizont». Hat sich Sixt mit dieser mager lustigen Aktion auch nur in der leisesten Form Frau Baerbock vorgeknöpft? Aber nicht die Spur. Aufs Korn genommen mag sie sie haben oder mindestens haben wollen, milde veräppelt vielleicht, aber vorgeknöpft?

Nun, ich kratze den Leim von meinen Füßen und flattere weiter, wie so oft, und beschwere mich nur mit einem lauen Keckern über diese Form des Haschens nach Aufmerksamkeit, nämlich mit einer kessen Schlagzeile über einer Meldung, die einen völlig anderen Inhalt hat als die Schlagzeile. Hinter meinem Keckern flattert die niemals beantwortete Frage nach dem Warum durch die Lüfte. Wieso muss die Schlagzeile, dieses arme Schwein, einen anderen Inhalt vorspielen, als ihn der ihr zugeordnete Text enthält? Jaja, ich weiß schon, Aufmerksamkeitsökonomie, und noch eindeutiger ist der Fall, wenn ich nachreiche, dass ich den Text auf Xing entdeckt habe, einer doch ordentlich und wohl genutzten Plattform. Es handelt sich also um einen geglückten Abstecher der unbekannten Internetpublikation «Horizont» ins Reich der Halböffentlichkeit, eine momentane Reichweiten-Überschreitung, für welche man den Preis der Halbwahrheit gerne in Kauf nimmt, und wenn dies denn die Währung ist, in welcher die Aufmerksamkeitsökonomie bezahlt, dann müssen halt noch weitere typgleiche Meldungen aus dem Boden gestampft werden, bis wir damit auch den richtigen Journalismus infiziert haben. Ihr erinnert euch vielleicht an mein Paradebeispiel für echten Journalismus aus dem Jahr 2019, ich meine, ich hätte damals schon davon gesprochen: In der Walliser Gemeinde Chamoson ging eine Schlammlawine nieder und begrub zwei Menschen unter sich, worauf die Tessiner Lokalausgabe des Gratisblattes 20 Minuten einen Augenzeugen erfand, welcher das Geschehen von einem Pass zwischen Tessin und dem Wallis aus beobachtet haben sollte, was unglücklicherweise rein geografisch nicht möglich ist. Aber die Gratispublikation musste unbedingt einen Lokalbezug für die Tessiner Leserinnen herstellen. Daraus entstand eine pure Lüge, wenn man dramatisieren will: über der Leiche von zwei Opfern einer Schlammlawine.

Ich weiss nicht, ob die Reporter ohne Grenzen solche Werte mit verteidigen, wenn sie jeweils ihr Pressefreiheits-Rating erstellen. In anderen Ländern werden Journalistinnen mundtot gemacht oder erschossen, bei uns ersticken sie in einer umfassenden Public-Relations-Umarmung. Was machen die Polen im Moment gerade wieder? Sie wollen per Gesetz jenen ausländischen Fernsehanstalten die Lizenz entziehen, die ihren Stammsitz nicht in Europa haben, wobei Jaroslaw Kaczinski das Wort «Europa» sowieso kaum über die Zunge bringt: «Polnische Medien müssen polnisch sein», ist seine Meinung in diesem Zusammenhang, wie in anderen Zusammenhängen auch, nehme ich an. Es wäre dumm, wenn polnisches Bier zum Beispiel finnisch wäre oder polnisches Brot spanisch, polnische Milch griechisch und polnische Krankenschwestern ukrainisch. Und so droht nun, falls das Gesetz im Parlament angenommen wird, dem US-amerikansichen Sender TVN die Enteignung, wobei als Begründung die Angst der Polen vor einer Übernahme der polnischen Medienlandschaft durch Russland zitiert wird. Die Polen spinnen.

Und die Turkmenen? Präsident Berdimu­ha­me­dow hat Annadurjew Merdan Ovesowitsch von seinen Ämtern als Vertreter Turkmenistans beim Internationalen Währungsfonds und bei der Asiatischen Entwick­lungsbank entbunden und durch den Vorsitzenden der Turkmenischen Zentralbank Muschikow Gadyrgeldi Muschikowitsch ersetzt, der bisher Vertreter Turkmenistans in der Gruppe Unab­hän­giger Staaten gewesen war. Auf der Internetseite des IWFs findet man die Mitteilung, dass am 7. Juni dieses Jahres der Bericht zur Länderkonsultation zu Turkmenistan gemäss Artikel IV abge­ge­ben worden sei. Dieser wird in der Regel jährlich erstellt und beruht auf den Angaben von Ökonomen des IWF, welche sich zum Behufe seiner Erstellung ins Land begeben und die allge­meine wirtschaftliche und politische Situation überprüfen und Gespräche führen mit Vertretern der Regierung und der Zentralbank. Anschließend wird der Bericht im IWF-Aufsichtsrat diskutiert und dann den Behörden im Land zugestellt. Bei Turkmenistan steht für die diesjährige Ausgabe, dass die turkmenischen Behörden die Publikation des Berichts sowie der dazu gehörigen Presse­mit­tei­lung nicht bewilligt hätten. Im letzten zugänglichen Bericht aus dem Jahr 2019 hält die Missionschefin Natalia Tamirisa fest, dass die Abhängigkeit vom Erdöl und seinen Preis­fluk­tua­tio­nen mittelfristig das größte Problem für Turkmenistan darstellten, abgesehen von der über­be­wer­te­ten Währung beziehungsweise den Devisenkontrollen, welche die Attraktivität für ausländische Investoren reduzierten. Die Dominanz des Staates in der Wirtschaft müsse reduziert und die Wirtschaft geöffnet werden. Der Bericht des Jahres 2020 fiel der Corona-Pandemie zum Opfer; der diesjährige Bericht ließ offenbar ein paar Wünsche offen.

Daneben habe ich anlässlich der Berichterstattung über einen Besuch von Präsident Berdimu­ha­me­dow im Balkan festgestellt, dass damit durchaus nicht Serbien, Kroatien, Bulgarien und Rumänien gemeint waren, sondern eine Provinz, die ihren Namen vom Großen Balkan bezieht, einem Gebirgs­zug im Westen Turkmenistans mit als höchstem Gipfel dem Arlan mit 1880 Metern über Meer.

Aber sprechen wir von etwas anderem! Einigermaßen erstaunt hat mich die Meldung, dass die nationalistischen Parteien bei den Wahlen in Bulgarien voraussichtlich die 4%-Hürde für den Einzug ins Parlament nicht schaffen würden. Weshalb eigentlich? In der Regel gehen Korruption und Nationalismus Hand in Hand, weil man den Staat am besten dann aussaugen kann, wenn man dem Ausland dafür die Schuld in die Schuhe schieben kann. Bulgarischer Wein muss bulgarisch bleiben, bulgarische Milch darf nicht polnisch werden, in bulgarischen Schulen wird der Fremdsprachenunterricht eingestellt, Bulgarien will zum Weltmarktführer bei der Produktion von Spiegeln werden, damit man nur noch sich selber sieht. Aber nichts davon! Sollte Bulgarien bereits derart leer geplündert sein von Präsident Bojko Borissow und seinen Banden, dass man es als gescheiterten Staat bezeichnen kann, wie zum Beispiel Bosnien und Herzegowina oder den Libanon? Oder, in etwas größerer Entfernung, Haiti, das allerdings schon lange kein richtiger Staat mehr ist oder vielleicht gar nie einer wurde, wer kann so etwas schon wissen. Was man auch nicht weiß, ist, wie es in Bulgarien jetzt weitergeht. Die systematische Korruption ist nicht mit einem Federstrich zu beseitigen, sie umfasst per Definition erhebliche Teile von Wirtschaft, Bevölkerung und Politik, was ihre Bekämpfung beziehungsweise Zerstörung so schwierig macht. Ein korrupter Staat ist in der Regel noch besser als ein gescheiterter Staat, weil im korrupten Staat oder Land die Dinge immerhin noch gegen Schmiergeld funktionieren, während im gescheiterten Staat überhaupt nichts mehr funktioniert. Umgekehrt ist es einfacher, einen ordentlichen, funktionierenden Staat von Grund auf neu zu gestalten als gegen gut verwurzelte Korruptionsnetzwerke. Die Spannung in Bezug auf Bulgarien wächst.
Übrigens in gewissem Maß auch in Bezug auf Ungarn. Der Druck auf Urban Orban hat im letzten Jahr spürbar zugenommen. Man muss hoffen, dass dies auch im Land selber verzeichnet wird und dass die Bewohnerinnen irgendwann in nächster Zeit mal aus ihrem nationalistischen Tiefschlaf aufwachen und die nationale Spiegelproduktion einstellen. Dass der Anstoß von außen kommen muss mit der Drohung, die europäischen Gelder einzufrieren, ist an und für sich unbefriedigend; umgekehrt sind die einzelnen Länder nun mal in ein Geflecht von Staaten und Verträgen eingebunden, die Außenbeziehungen sind schon längstens Teil der inneren Organisation geworden. Es ist bloß schade, dass die Ungarinnen derart lange brauchen, um dies zu bemerken.

Sodann haben wir Kenntnis genommen vom Urteil des Landgerichtes Erfurt zum Fall Ballstädt, namentlich von der Einschätzung des Gerichts, es bestünde kein politischer Hintergrund bei dieser rechtsextremen Racheaktion, bei welcher 20 Menschen zum Teil schwer verletzt worden waren. Die Frankfurter Zeitung schreibt, dass dem Urteil auf Anregung der Staatsanwaltschaft Absprachen mit den Angeklagten vorausgegangen seien, denen im Gegenzug für ihre Geständnisse vom Gericht Bewährungsstrafen in Aussicht gestellt worden waren, nachdem im ersten Prozess vor vier Jahren noch Gefängnisstrafen von drei Jahren und sechs Monaten verhängt worden waren. Bei dieser Gelegenheit habe ich mir einen Spaziergang auf der Webseite der Neuen Stärke erlaubt, wo diese sich über einen Rechtsbruch am 1. Mai in Erfurt beschwert, während die Jungs unmittelbar daneben mit einem Spruchband posieren, auf dem «Kommunisten Töten» steht, was sie juristisch mit Sicherheit so interpretiert haben möchten, dass es die Kommunisten sind, welche töten, de facto aber so meinen, dass man Kommunisten töten soll. Daneben heißt ihre Parole «Kein Frieden mit Staat und Kapital», und das ist nun derart draller Antifa-Jargon, dass man sich wirklich in die Faust beißen muss. In die Faust, hört ihr, nicht in die gestreckte flache Hand! An die kommt man mit dem Maul sowieso gar nicht mehr ran.


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Albert Jörimann
13.07.2021

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