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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Maxim Biller

Jetzt haben wir also auch noch das Verdikt von Maxim Biller: Die österreichische Kabarettistin Lisa Eckart ist eine Nazi-Schlampe. Beweis:

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Marcel Reich-Ranicki hätte ihr das nachgewiesen und um die Nazi-Ohren geschlagen, wenn er noch lebte. Billers persönlicher Beweis: Sieht aus wie eine Ente, quakt wie eine Ente, watschelt wie eine Ente, ist also eine Ente; also ist Lisa Eckart eine Nazi-Schlampe, wobei Biller das mit dem Aussehen nicht ganz korrekt einordnet, denn Frau Eckart zitiert mit ihrer Erscheinung nicht die Nazi-Frauenerscheinung, auch wenn die in verschiedenen Nazi-Film­schmon­zet­ten gerne so gezeigt wurde, sondern die Femme fatale aus den Zwanzigerjahren. Die Nazi-Frau­en­er­schei­nung ist eine durchaus und durchwegs andere, nachzuschauen unter den Stichworten Bund Deutsche Mädels im großen Buch des Fähnleins Fieselschweif. Aber das tut für Meister Biller nichts zur Sache und schon gar nicht für den verblichenen Großmeister Reich-Ranicki, dem vermutlich eh alles egal ist.

Hätten wir das also auch noch erwähnt und damit das Thema hoffentlich für immer abgehakt. Zur anderweitigen Unterhaltung in den schwierigen Zeiten einer nicht einhundert-, aber doch fast ein­prozentig tödlichen Pandemie tragen bei, unter anderem die sogenannten Brits, die Briten und unter ihnen namentlich die Engländer und unter diesen wiederum mit Vorzug jene, die sich mit dem Pa­trio­tismus-Virus infiziert haben. Beim Verfassen dieses absolut neutralen und objektiven Kommen­tars weiß ich noch gar nicht, ob es heute Montagabend zu einem Kompromiss der letzten Minute kommen wird oder ob die Exekutionsfrist verlängert wird, mindestens zum Teil, was mit übrigens als wahrscheinlichste Variante erscheint, aber wie auch immer; was ich aber weiß, ist, dass mir dieses Schau-Verhandeln bis ins Morgengrauen auf den Keks geht, wo doch alle schon von Anfang an wissen, was am Schluss herauskommen kann. Aber nein, man muss dem Patriotismus-infizierten Heimpublikum beweisen, dass man auch auf diesem Schlachtfeld bis zum letzten Blutstropfen und bis zur letzten Druckerpatrone kämpft – ein richtiger Vergleich für elektronische Dokumenten ist mir bisher noch noch nicht untergekommen, «bis zur letzten Excel-Tabelle» oder «bis zum letzten PDF» tönt viel zu wenig dramatisch, man kann sich hier gar keine Schlacht bei Solferino vorstellen, welche ebenfalls bis am frühen Morgen geschlagen wurde, nein, das stimmt jetzt sowieso nicht, die hatten damals ja noch gar keine Schlachtfeld-Beleuchtung, wenn man in der Nacht gekämpft hätte, wäre das Risiko sehr groß gewesen, dass man die eigenen Truppen unter Beschuss nimmt. Immer­hin ist die Schlacht bei Solferino zum Sinnbild für herumliegende Bauchschüsse, Bein- und Arm­stümpfe, Gebrüll von Verletzten und Stöhnen von Sterbenden geworden in einer Zeit, in der im Krieg noch nicht immer die Ärmsten immer ärmer wurden und unschuldige Frauen und Kinder am meisten litten. Ja, damals starben die echten Soldaten noch auf dem Schlachtfeld, während sie heute in Rammstein sitzen und mit dem Joystick ihre Bomben auf unschuldige Frauen und Kinder werfen, die im Nachhinein als Al-Kaida-Zellen bezeichnet werden. Das wirft eine Frage auf, die auch kein internationaler Kriegsgerichtshof zu beantworten vermag: Was hat ein Marschflugkörper in einer ver­schis­senen Windel zu suchen? – All das also geht mir gewaltig auf den Keks, und insonderheit seine Simulation für ein massiv an Patriotismus leidendes Publikum, wobei Patriotismus wohl die einzige Krankheit ist, die man mit immer höheren Dosen des Erregers behandelt. In der Geschichte führte so etwas oft zu Ausbrüchen wie Krieg; die heutige Gesellschaft, die nach wie vor nach dem Prinzip Wirtschaft funktioniert, ist ein Krieg unter normalen Umständen nicht möglich, weil die Kriegsparteien am gleichen Prinzip Wirtschaft auf dem gleichen Spielfeld Anteile haben. Dem­ent­spre­chend bleibt der Patriotismus-Pandemie nach aktuellem Erkenntnisstand nichts anderes übrig, als in und an sich selber zu ersticken. Na, hoffen wir's auf jeden Fall.

Übrigens will ich dem Patriotismus seine historischen Verdienste an dieser Stelle nicht absprechen. Die Abschaffung des Feudalismus fand zuallererst im Namen des Patriotismus statt, und noch heute kleiden sich auch fortschrittliche Forderungen da und dort ins patriotische Kleid, wer weiß, viel­leicht sogar in Rumänien und Bulgarien, wo die korrupten Eliten im Namen des Patriotismus gestürzt werden sollen. Allerdings haben diese Eliten ihre Betrügereien ebenfalls im Namen des Vaterlandes begangen oder bemühen sich mindestens, ein vaterländisches Mäntelchen darum zu hängen. Rumänien und Bulgarien sind patriotische Grenzfälle, Bulgarien sogar mit seiner Grenze zu Makedonien, von dem einige bulgarische Politiker offenbar behaupten, es existiere in der Praxis gar nicht. Das gefällt mir zunächst vom Prinzip her: Wenn ich zum Beispiel ein Restaurant betrete, also natürlich erst nach dem Ende der Corona-Einschränkungen, versteht sich, und da auf der Speise­karte ein Gericht sehe, das mir nicht behagt, egal, welches, es könnte also auch Gänsekeule sein, dann sage ich einfach: dich gibt es gar nicht, Gericht, und wenn es die Leute an allen Nebentischen noch tausendmal zu sich nehmen, es gibt dich nicht. So eine Haltung zur Grundlage einer patrio­ti­schen Politik zu machen, ist Patriotismus in Reinkultur. Wenn ich schon nicht die Macht habe zu verbieten, was mir nicht in den Kram passt, so habe ich doch die Macht zu behaupten, dass diese Dinge gar nicht existieren.

Ihr habt, geschätzte Hörerinnen und Hörer, sicher auch das Video gesehen mit jenem US-amerikanischen Pastor, der fast eine Minute lang künstlich und laut herauslacht über die Meldung der Lügenpresse, dass Joe Biden die Präsidentschaftswahl gewonnen habe. Das Publikum geht voll mit. Der Pastor heißt Kenneth Copeland, und an ihm lassen sich verschiedene Elemente der US-amerikanischen evangelikalen Kirchenfürsten beob­ach­ten, zunächst sein Vermögen, das auf 300 Millionen Dollar geschätzt wird, was ganz ansehnlich ist für einen, der in seiner ursprünglichen Karriere als Schlagersänger ganz und gar nicht reüssiert hat. Dann seine Streitereien mit dem Finanzamt, welches die Flüge in seinen drei Privatjets nicht immer als Geschäftsreisen anerkennen will. Und verschiedene andere Dinge, zum Beispiel die Möglichkeit, beim Shopping am Black Friday auf Amazon einen kleinen Prozentsatz der Kaufsumme als Spende an die Kenneth Copeland Ministeries abzudrücken über das Programm Amazon Smile, und zwar ohne Aufpreis für den Käufer und die Käuferin! Das ist schön. Und besonders schön erschien mir ein Aufruf, den die KCM am 6. November auf ihrer Webseite vom Stapel lassen, nämlich eine Gebetsvorlage, die von der ehemaligen Kongressabgeordneten und ebenso ehemaligen republikanischen Präsident­schafts­kandidatin Michele Bachmann verfasst wurde und die nun eine jegliche Gläubige nicht nur nachbeten, sondern auch an weitere 10 Gläubige weiterleiten sollen, die das Gebet ihrerseits nachbeten und dann an weitere jeweils 10 Gläubige weiterleiten sollen. Ein Gebets-Kettenbrief oder ein Kettengebet oder was weiß ich. Es sind 5 Punkte, die jeweils von einem Bibelzitat eingeleitet werden mit nachfolgender Botschaft beziehungsweise der anschließenden Bitte an den Lieben Gott, die immer die gleiche ist: Lieber Gott beziehungsweise Herr Jesus gib oder mach, dass die Auszählung der Wählerinnenstimmen in den fünf Battleground-Staaten von Pennsylvania, Georgia, Wisconsin und Nieder- und Obervolta zugunsten von Donald Trump ausfällt! – Und im Kommentar dazu heißt es, dass man die Kraft des Gebetes nicht unterschätzen sollte. Wenn also so ein paar zehntausend oder sogar hunderttausende von Gebetskriegern an die Tore des Himmels pochen, dann werden die Ringmauern des Paradieses bald fallen und der Herr wird Donald Trump den Wahlsieg verleihen!

Mangels theologischer Ausbildung und Interesses bin ich nicht in der Lage, die solchen Kampagnen zugrunde liegende Auffassung vom lieben Gott richtig zu würdigen. Insgeheim halte ich die Vorstellung für etwas frivol, dass sich der Allmächtige von hunderttausend Gebetskriegern, also sozusagen von einem Gebets-Djihad, einschüchtern lässt und Donald Trump in einem aus­ge­wach­se­nen Wunder ein paar tausend Stimmen in den entsprechenden Battleground-Staaten hinüber wachsen lässt. Was ich zu Michele Bachmanns Gebetspunkten äußern kann, ist bloß eine Anmerkung zu den Bibelzitaten, die stammen nämlich alle aus dem Alten Testament. Ich schließe daraus, dass der durchschnittliche Evangelikalist kein Interesse hat an den prägenden Elementen des Neuen Testaments, namentlich an so Dingen wie Vergebung oder Liebe oder auch nur am fundamentalen Umstand, dass wir es hier mit einem Gott zu tun haben, der sich von den und für die Menschen ans Kreuz hat schlagen lassen. Der Evangelikale ruft zwar dauernd den Herrn Jesus an, den Lord Jesus, aber in Tat und Wahrheit bildet das Alte Testament seinen Horizont.

Michele Bachmann ist sowieso so eine Nudel. Sie hat sich schon in den siebziger Jahren bei den Abtreibungsgegnern engagiert, also bei den Polinnen Amerikas, und in ihrem Kampf gegen Präsident Barack Obama hat sie diesem antiamerikanische Umtriebe, mindestens aber vollständigen Mangel an Patriotismus vorgeworfen, was aber in den Vereinigten Staaten von Amerika ein derartig übler und fast schon strafrechtlich justiziabler Vorwurf ist, dass sie sich dafür entschuldigen musste. Daneben erwies sie sich in verschiedenen Dossiers als ungefähr gleich sattelfest wie Mister Trump, was ja keine Bedeutung hat, sofern man nur den richtigen Glauben in sich trägt und ihn in fünf Gebetspunkte zu fassen vermag.

Trotzdem ist Kenneth Copeland das Lachen unterdessen wohl vergangen, mindestens in Bezug auf die Wahl von Schlafmütze Biden; der Gebets-Djihad hat nichts gefruchtet, und wenn man daraus Rückschlüsse ziehen darf auf die religiöse Potenz von Michele Bachmann und Kenneth Copeland, so fallen diese derart vernichtend aus, dass beide umgehend ins Kloster ziehen müssten, was sie aber mit Sicherheit nicht tun werden, ihr Geschäftsmodell bleibt offensichtlich einträglich, und weshalb sollte man so etwas aufgeben, das nach wie vor ein paar hundert Millionen Umsatz bringt im Jahr?

Ich verstehe es nicht. Menschen müssen meine Auffassungen durchaus nicht teilen, aber die Grundmechanismen des Verstandes sollten bei allen gleichermaßen funktionieren. Tun sie offensichtlich nicht, in den Vereinigten Staaten von Amerika bei einer guten Hälfte der Bevölkerung und in Deutschland und in der Schweiz bei gutem einem Drittel. Ich versteh's nicht.

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Albert Jörimann
08.12.2020

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