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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Lügen und Grundlügen

Was der Erfurterin die «Thüringer Allgemeine», ist den Baden-Württembergerinnen die «Stutt­gar­ter Zeitung». In ihrer Ausgabe vom letzten Mittwoch berichtet diese ausführlich über einen Prozess gegen neun Italiener, denen Drogenhandel, Erpressung und Mordversuch in Süddeutschland vor­ge­worfen wird, und zwar im Rahmen einer Mafia-Zelle.



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Frank Nordhausen schreibt über die Bau­ar­bei­ten am neuen Flughafen in Istanbul, ein Prestigeprojekt, das seit Baubeginn laut der «Cum­hur­riyet» mindestens 400 Todesopfer unter den Arbeitern gefordert haben soll. Eine Statistik zeigt, dass die Selbstmordrate in Baden-Württemberg im Jahr 1985 den Rekordwert von 21.4 Menschen pro 100'000 Einwohnern erreichte und seither deutlich zurückgegangen ist auf 11.9 Tote pro 100'000 Einwohnerinnen im Jahr 2015. Es gibt einen Artikel über die Feiern zur Halbzeit der grün-schwarzen Regierungskoalition im Bundesland, und dann macht auch die Allianz für Deutschland ihre Schlagzeile. Und zwar wie folgt: Die Landtagspräsidentin Muhterem Aras hatte bei einem Besuch eines ehemaligen Nazi-Kon­zen­tra­tions­lagers im Elsass den AfD-Supergauland kritisiert, weil der vom Nationalsozialismus, seinen Opfern und einem Weltkrieg als «Vogelschiss» in der Geschichte Deutschlands gesprochen hatte. Darauf warf der stellvertretende Fraktionschef der AfD im Landtag, ein gewisser Herr Rüdi­ger Klos, der Parla­ments­präsidentin vor, den Holocaust für ihre parteipolitischen Machenschaften zu instrumen­tali­sieren. Das ist allerdings von einer kalten Schönheit, die ich hier nochmals heraus­streichen möchte. Wer die industrielle Ermordung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden nicht einfach einen Nebensatz der Geschichte, sondern abscheu­lich findet, betreibt damit parteipolitische Machenschaften. Ich habe da mal eine Frage, geschätzte Zuhörerinnen und Zuhörer in Deutschland: Gibt es bei euch nicht Gesetze, welche solche Äußerungen unter Strafe stellen? – Und damit wir uns richtig verstehen, ich meine jetzt nicht die Äußerungen des Abscheus vor dem Holocaust, sondern die geschichtsrevisionistischen Schweinereien von Rüdiger Klos. Ist das nicht schlicht und einfach verboten, Supergauland hin oder her?

Der zweite AfD-Fraktionsvizevorsitzende Emil Sänze «legte noch ein Scheit mehr ins Feuer», schreibt die Stuttgarter Zeitung. Er sagte offenbar, dass Aras als Migrantin gar nicht für die Deut­schen reden könne; sie benutze zwar das Wort «wir», als wäre sie hier voll integriert, sie wird aber nie integriert sein qua Herkunft. Aus diesem Grund hatte die Allianz für Deutschland offenbar schon vor den Sommerferien eine Sondersitzung zur Amtsführung der Parlamentspräsidentin beantragt, neben einer Rüge wegen nicht neutraler Amtsführung. Beides wurde abgelehnt.

Sowohl Rüdiger Klos als auch Emil Sänze sind Rüpel, die sich freuen, wenn sie Anstoß erregen. Es geht nicht um historische Tatsachen, sondern um den Bruch von Konventionen, und in Deutschland ist die Verdammung der Nazi-Vergangenheit nach wie vor eine mächtige Konvention. Vor allem in Westdeutschland, wo die Jugend vor fünfzig Jahren mächtig gegen ihre Eltern rebelliert hatte und damit auch gegen deren Verdrängung der eigenen Mitläufer- und Mittäterschaft während der Regie­rungszeit der deutschen Faschisten. Dass Klos, Sänze und ihre Mit-Brüllaffen mit solchen Tabu-Brüchen einen gewissen Erfolg verzeichnen, hat aber nicht nur mit den Neonazis zu tun, sondern mit den Konventionen insgesamt. Ein Mensch, ein Individuum, das sich nicht hin und wieder gegen die Konventionen zur Wehr setzt, ist nicht normal. Das heißt nun zwar nicht, dass dies ein Grund dafür ist, den millionenfachen Mord an den Jüdinnen und Juden, an Zigeunerinnen und Homo­sexuel­len, die Zerschlagung der Opposition, die faschistische Indoktrination und als logische Kon­se­quenz den Weltkrieg mit seinen Millionen Toten gut zu finden. Wer das tut, ist in erster Linie dumm. Und wenn sich der Bruch von Konventionen mit Dummheit paart, dann hat die Gesellschaft Anlass genug, sich darum zu kümmern und dafür zu sorgen, dass diese Dummheit nicht um sich greift. So, wie man gewisse Pariser Vororte mal mit dem Militär durchkämmen und mittelalterliche, antidemokratische Strukturen zerschlagen müsste, so muss man die dummen Brüllaffen ebenfalls mit autoritären Mitteln an der Verbreitung der Dummheit hindern, sobald dies ein gewisses Ausmaß annimmt.

Ein minder bemittelter Minderjähriger wird den Verstoß gegen Tabus und Konventionen aber zunächst einmal einfach als Normalität der Adoleszenz betrachten, unabhängig von den Inhalten. Diese kommen in den richtigen, also in den Brüllaffen-Kreisen dann bald dazu, und schnell beginnt die Lügenpresse eine Rolle zu spielen. Der sozialdemokratische Medienkonsens war bis zum Ausbruch von Social Media tatsächlich ein wichtiger Träger aller Konventionen in den Ländern Europas. Am schönsten ausgebaut erscheint er uns in Fernsehsendern wie «Arte» oder allenfalls 3sat. Dort bemüht man sich um eine ganz besondere und ganz besonders typisch sozial­demo­kratische Konvention, nämlich um die Pflege des kritischen Journalismus, und den muss man einfach in seiner ganzen zwiespältigen Pracht anerkennen: Einer­seits leisten die betreffenden Fachleute unbedingt hervorragende und notwendige Arbeit, auf sie ist Verlass, wenn sie über die Offshore-Steuergeheimnisse und über Absprachen der kapita­lis­ti­schen Unternehmer, aber auch über die Ausbeutung der Dritten Welt und über die Sauereien berich­ten, welche unserem Wohlstand endemisch zugrunde liegen. Die kritischen Journalistinnen nehmen a priori auch eher Partei für die Lohnabhängigen und die Gewerkschaften, weil sie die Macht des Kapitals im Land und seine internationalen Verstrickungen in- und auswendig kennen; anderseits räumen sie in der Regel ein, dass grundlegende Sachverhalte der kapitalistischen Wirtschafts­ord­nung zu respektieren und die entsprechenden Sachzwänge einzuhalten sind; genau dies ist die Substanz des sozialdemokratischen Medienkonsens. Eine dunklere Seite dieser Konvention ist die, dass die systemkritische Haltung auch dann bedient werden muss, wenn ausnahmsweise mal gar kein Material vorliegt. Da die systemkritische Haltung eine Grundvoraussetzung des sozial­demo­kratischen Medienkonsens ist, muss sie auch ernährt werden. Wenn einem dann mal gar nichts einfällt, wenn zwischendurch mal all die Skandale durchgenudelt sind, die gerade in greifbarer Nähe liegen, dann muss man halt etwas erfinden, zum Beispiel die Bedrohung der Zivilisation durch den Raubbau an der unschätzbaren, weltweit knappen und unersetzlichen Ressource «Sand». Oder man muss die Klimaerwärmung, die stark zusammenhängt mit dem steigenden Energie­ver­brauch wegen des immer frenetischeren Konsums im Westen und dem zunehmenden Basiskonsum im Osten und im Süden, mit idiotischen Beispielen und falschen Angaben journalistisch hoch­kochen. All dies macht die sozialdemokratische Konvention aus: Das kapitalistische System schafft einerseits Wohlstand und Arbeitsplätze, anderseits vernichtet es Ressourcen und Menschenleben im Süden, und drittens muss die aufgeklärte Bürgerin vermittels der Medien beides in eine schöne Einheit der Gegensätze verbinden. So ist das nun mal, und das stinkt, hier liegt eine strukturelle Lüge vor, und das riechen viele Menschen, die in ihrer Not dann zu jenem Vokabular greifen, das Verfügung steht beziehungsweise das ihnen mit den Social Media nun massiv angeboten wird, auch auf die Gefahr hin, dass es nicht ein besonders analytisches Vokabular ist, sondern eher so etwas wie mentaler Heroin-Verschnitt – aber analytisch ist ja der sozialdemokratische Medienkonsens insofern auch nicht, als er seine eigene Grundlüge niemals thematisiert.

Damit die Grundlüge des Medienkonsens funktioniert, braucht es noch eine zweite Ebene, nämlich jene der PR. Neben einem Dutzend aufrichtiger und wahrheitssüchtiger Recherchierjournalistinnen marschieren hundertzwanzigtausend Kommunikationsangestellte, welche in den gleichen Medien, in denen die echten Journalistinnen ihre Ergebnisse publizieren, ihre zehntausend PR-Texte ver­öf­fent­lichen. Die Koexistenz dieser beiden Ebenen innerhalb der gleichen Medien-Membran ist unerlässlich für den Medienkonsens. Die PR-Umgebung federt die echten Artikel ab, es ist wie eine Verdauungs­hilfe, welche es den sehr wohl existierenden Macht- und Kapitalinteressen hinter den Medien erlaubt, die kleine Portion an Gift unbeschadet zu konsumieren.

Ich entschuldige übrigens die Medien-Grundlüge zu weiten Teilen. Der sozialdemokratische Medien­kon­sens ist besser als der Ruf, den ich ihm anhefte. Es ist der beste Medienkonsens, der in der Ge­schich­te der Kommunikation jemals erreicht wurde. Sein Wahrheitsgehalt ist in den echt jour­na­lis­tischen Teilen oft sehr anständig und oft mehr als anständig. Der einzige Vorwurf, den man ihm im Grunde zu machen hat, ist jener der Immanenz: Gerade dort, wo er sich als systemkritisch aufspielt, ist er affirmativ. Aber, unter uns, geschätzte Hörerinnen und Hörer: Mit Ausnahme von uns zweien interessiert sich dafür doch heutzutage kein Schwein mehr. Also können wir dies sowieso ver­zeihen.
Höchstens dass wir uns noch darüber wundern, dass das ein paar Doofköppe noch nicht geschnallt haben und sich echt noch darum bemühen, Falschmeldungen als echte Informationen auszugeben und umgekehrt die Berichterstattung über wahre Tatsachen als Fake News zu denunzieren. Das ist allerdings gerade für den aufgeklärten Geist ein Quell unerschöpflichen Vergnügens. Die haben das tatsächlich noch nicht begriffen!

Die Brüllaffen dagegen kümmern sich gar nicht erst um solche Nuancen. Sie verbrennen ihr Teil an rebellischer Energie im Kampf gegen Konventionen, weil ihnen auch keine anderen Alternativen zur Verfügung stehen. Antiimperialistisch sind sie ja auch und sozial sowieso, aber das Gefühl, am ganz großen Hebel anzusetzen, das finden sie im Moment nur bei den Verschwörungstheoretikern und Nationalisten. Die linke Seite der Welterklärungsmaschinerie verfügt nicht über taugliche Angebote, und daran wird auch die Sammelbewegung von Frau Wagenknecht kaum etwas ändern. Der Kampf gegen «die da oben» respektive gegen eine anonyme Kraft, welche die Geschicke der Gesellschaft über die Köpfe ihrer Mitglieder hinweg bestimmt, scheint im Moment am besten aufgehoben bei diesem Gesocks, das die Widergänger der Deutschtümler spielt. Umgekehrt wird die Politik weder heute noch morgen von solchen Brüllaffen gemacht. Davon beeindrucken lassen sich nur ein paar ganz besonders untaugliche bayrische Politiker und Innenminister.



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Albert Jörimann
25.09.2018

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