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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Tiefgefrorenes"

[34. Kalenderwoche] Es ist nicht zwingend ein positives Zeichen, wenn man allein im Kino sitzt bzw. wenn sich zur Filmmitte die einzige und letzte Person außer uns Zweien aus dem Notausgang ...

...schleicht; der Film könnte auch schlecht sein. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass der Publikumsgeschmack unvollkommen ist. Nichts gegen den Publikumsgeschmack, aber auch nichts für den Publikumsgeschmack. Man nehme bloß das Fernsehen, in dem der Publikumsgeschmack zweifellos die sichtbarste Erscheinungsform hat mit dem Namen Zuschauerquote. Die Exhibition des Intimlebens ausgewählter Publikumstrottel, welche anschließend zu Alltagsikonen werden und den Raum der TV-Untoten in all den TV-Shows rund um die Uhr bevölkern, ist eine zivilisatorische Katastrophe. Nicht weil es diese Intimsphäre gibt, sondern weil sie zum Bestandteil des öffentlichen Raums, der Medien geworden ist. Daneben sind die grässlichen Entstellungen von Humor und Witz durch Figuren wie, ach, ich kenne denen ihren Namen schon gar nicht mehr, es sind einfach immer die gleichen Tollaffen in RTL und Sat.1, Dieter Bach, Stefan Raab, Ingo Dings und Hubert Baader und Helga von Sinnen und unterdessen auch Nina Hagen, egal, dieses hysterische Herumwitzen stellt dem Publikumsgeschmack eben auch kein gutes Zeugnis aus. Anderseits ist der Publikumsgeschmack durchaus nicht gefeit gegen Anfälle hohen Qualitätsbewusstseins. Eben: Nicht jeder Film, der die Massen nicht anzieht, muss gut sein. Aber er muss auch nicht schlecht sein. Derjenige, den ich letzte Woche zuerst zu dritt und am Schluss zu zweit gesehen habe, war ein guter Film, soviel steht fest. Anderseits ist er vermutlich dem Publikum gar nicht erst zur Kenntnis gebracht worden, denn es handelt sich um einen – luxemburgischen Film. Ein erstes lautloses Gelächter überzog mich bereits beim Vorspann, als ich sah, dass das schweizerische Bundesamt für Kultur diesen Film mitfinanziert hatte, also sozusagen als Großer Bruder; das ist doch schon eine unschlagbare Pointe, zu der sich noch die Vorstellung über das Bauchgrimmen gesellt, welches die schweizerischen Filmschaffenden ergriffen hat wegen dieses Förderbeitrages, denn der entging ihnen ja voll und ganz für ihr eigenes, eben einheimisches Wirken. Dabei erhält die Schweiz ja durchaus keine Filmfördermittel von wiederum einem größeren Bruder, z.B. von Österreich. In der Westschweiz springen manchmal ein paar Brosamen aus französischen Quellen ab, wobei die Westschweiz ja auch den einen oder anderen namhaften Regisseur für das französische Cinéma hervorgebracht hat, im Gegensatz zu den Deutschschweizer Filmern, die immer Exoten bleiben und blieben und sich irgendwo im Spannungsfeld zwischen Dokumentarfilm und artifiziell experimentellen Dilettierversuchen im Niemandsland verloren haben, sofern sie nicht einfach fürs Deutschschweizer Fernsehen irgendwelche Klamotten produzieren, was wir ja alle brauchen wie die Luft zum Atmen. Und da geht der Innenminister her und finanziert einen luxemburgischen Film!

Wenn man sich das Ganze auch noch aufm Internet ansieht, findet man aber noch heraus, dass auch die Österreicher mitfinanziert haben; die Produktionsfirma ist die österreichische Vega Film.

Der Titel ist ziemlich englisch und heißt Deep-Frozen, Tiefgefroren, aber die Filmsprache ist ziemlich Deutsch, und zwar jenes Hochdeutsch, das die Luxemburger aus ihrem Dialekt halt an Hochsprache entwickeln und hierin den Deutschschweizern durchaus entsprechen: Eine langsame Diktion, die in sämtlichen Dialogen echt verfremdet und zum Teil sagenhaft gestelzt wirkt, was wiederum dem Film einen zusätzlichen irrealen Drive verleiht. Es geht um die Entjungferung eines 40-jährigen, nicht übermäßig initiativen, aber auch nicht völlig abgestumpften Pizzaausfahrers durch ein zufällig im Dorf Weinfelden gelandetes Rock-Groupie, und viel mehr will ich zur Geschichte gar nicht sagen, außer dass sie ein paar wirklich ausgezeichnete Ideen bringt, relativ viele filmische Andeutungen und Querverweise ebenso spielerisch montiert wie entwertet werden, dass die Herbstlandschaft im Dorf Weinfelden ganz wunderbar aussieht, und falls ihn jemand von Euch wider Erwarten doch einmal sehen sollte, so verweise ich ganz speziell auf jene Szene, in der die pensionierte Stewardess ihrem Sohn das Mittagessen per Bordtelefon ankündigt. Aber eigentlich folgt ein unauffälliger Höhepunkt dem anderen, und zu alledem sterben in diesem Film fast ein halbes Dutzend Menschen. Also nochmals: Deep-Frozen. Ich gehe nicht davon aus, dass Euer Filmpalast in Erfurt einen solchen Film je ins Programm aufnehmen wird; das ist keine besonders tolle Leistung, dass ihr da für eine ganze Landeshauptstadt nur noch ein einziges Kinomultiplex anbietet, welches ganz besinnungslos dem Publikumsgeschmack huldigt, obwohl der Publikumsgeschmack, wie erwähnt, manchmal seine Körner durchaus neben dem Mainstream pickt. Armes Erfurt!, wobei es wohl kaum ein Argument dagegen gibt, halt einfach einen zweiten Filmpalast einzurichten, oder? Wenn man das ein bisschen geschickt aufzieht, muss man mit sowas nicht mal große Defizite schreiben, und ich glaube wirklich, dass nicht nur in Deutschland, sondern eben bis hinein nach Luxemburg jetzt wieder vermehrt gute Filme gedreht werden.

Eben, man kann heutzutage bereits wieder deutsche Filme ankucken, ohne dass man schon nach zehn Sekunden die sichere Gewohnheit des heranrückenden Weltuntergangs hat. Das ist schön. Weniger schön ist, dass die deutsche Filmproduktion sofort aus jeder geglückten Produktion eine Art Hollywood-Traritrara zu schlagen versucht und vor allem die Darstellerinnen und Regisseure in Formate aufbläst, welche ihnen bei diesem beschränkten Markt einfach nicht zu Gesichte stehen. All die neuen deutschen Fräuleinwunder – die sind doch schon in Ordnung, aber sie geben im Wesentlichen nichts anderes als sich selbst, junge Frauen einer relativ unkomplizierten Generation, und von schauspielerischen Fähigkeiten der alten Schule ist da überhaupt nichts zu spüren und auch von Ausstrahlung nicht. Braucht es auch nicht für diese Filme, aber wenn anschließend der Publikumsgeschmack oder der Hausverstand aus diesen Darstellerinnen halbe Göttinen macht, so ist das leider Gottes komplett verdreht, damit dies auch mal gesagt ist.

Ansonsten stört es mich beim populären Kunstschaffen manchmal etwas, wenn ich die Texte plötzlich verstehe. Sogar dort, wo sie halbwegs was taugen, stößts mir auf: Was, die wollen mir etwas sagen? Was wollen die mir denn wirklich sagen? – Das war mit den guten alten englischen Texten völlig außer Frage, man konnte den Text als Chiffre nehmen für irgend etwas oder aber es auch bleiben lassen und nur der Musik nachstampfen. Jetzt diese deutsche Textware – am imposantesten wird’s natürlich im Bereich Rap, wo die Begeisterung über frisch entdeckte Reimmöglichkeiten sämtlichen sprachlichen Anstand über Bord wirft.. Anderseits kann man aber nicht allen singenden MusikerInnen verbieten, sich auf Hochdeutsch auszusprechen. Aber eben, man stößt noch viel schneller drauf, wie ausgelutscht diese Songware im Grunde genommen ist.

Das Problem liegt wirklich in der Sprache, wo man nämlich laut allgemeiner Übereinkunft einerseits mit Begriffen operieren sollte, also mit korrekten Bezeichnungen klarer Sachverhalte; anderseits verbieten die meisten Kommunikationsanstrengungen die Anwendung klarer Begriffe. Wenn ich nur als Beispiel einmal eine alte Schlampe werden sollte, was ich durchaus nicht hoffe, aber es könnte ja sein, so möchte ich nicht, dass man mich eine alte Schlampe nennt, und wenn es noch tausend Mal zuträfe. Ich möchte auch um fast keinen Preis in einem Wohnpark wohnen, der Wohnpark heißt. Das ist eine echte Schwierigkeit der modernen Welt, dass man den reinen Begriff fast nicht mehr kennt und anwenden darf, weil zuviele Implikationen damit verbunden sind. Wahrscheinlich ist dies der Grund dafür, dass heute der Witz so verbreitet ist in der ganzen deutschen Gesellschaft. Alles war nur Spaß. Alles, was wir uns mitteilen, sagen wir unter Vorbehalt und zwischen An- und Abführungszeichen, wie wir sie oft noch mit Zeige- und Mittelfinger der beiden Hände orthografisch unterstreichen beim Reden. Ich sage jetzt mal was, meine es aber durchaus nicht so, meine Damen und Herren, war alles nur ein Scherz, und so widerhallt Deutschland vom Südrhein bis zur Ostseee von täglichem Gelächter. Das macht nun aber verschiedene Dinger etwas schwieriger, zum Beispiel die bewusste Verbreitung oder Diskussion gewisser Einsichten und Forderungen. Ich muss an mir selber einräumen, dass ich schon gar nicht mehr hinhöre, wenn jemand mal etwas im Ernst vortragen will. Zu missionieren braucht mich niemand mehr, intelligent bin ich selber. Ungefähr so funktioniert das heute. Das Leben ist hart, und wenn es dann überall heißt: Enjoy Yourself, so tönt das in meinen Ohren unterdessen wie eine Aufforderung zum Onanieren.

Und trotzdem gibt es nach wie vor gute neue Erzeugnisse, auch im deutschen Sprachraum, und wenn sie halt manchmal aus Luxemburg kommen müssen und etwas absonderlich auftreten. Eines darf heute einfach niemand machen: Irgend eine These oder ein Anliegen in dramatisch-künstlerische Gestalt bringen. Diese Epoche ist definitiv vorbei. Künstlerinnen und Künstler gegen den Klimawandel oder gar gegen Aids und den Welthunger und für Afrika – all das sind unterdessen derart gigantisch verlogene Angelegenheiten mit Millionengewinnen im Hintergrund, die durchaus nicht in die Taschen der armen Menschen auf diesem Planeten rauschen, nö, das geht wirklich nicht mehr. Aber die absurden Seiten eines modernen Lebens aufzuzeigen, seis auf dem Land wie im erwähnten Luxemburger Film in Weinfelden oder auch in der Stadt, wo eigentlich die Chancen noch viel größer wären, da eröffnen sich durchaus schöne Gelegenheiten. Übrigens kommt mir hier in den Sinn, dass die deutschen Städtefilme, die mir aus der letzten Zeit in Erinnerung sind, durchaus nicht auf solche absurden Streifzüge angelegt waren, sondern ganz solide in einem quasi dörflichen Umfeld innerhalb der Stadt beruhten, mindestens aber in einem familiären. Wieso gibt es noch keine neuen deutschen Filme, in denen Hänschen und Gretelchen ganz allein durch die Städte wandern? Ich glaube, vor einer solchen Vorstellung steht dem deutschen ästhetischen Volksempfinden das, was die Fachfrau die rheinische Sozialstaatmentalität nennt. Und fragt mich jetzt nicht, weshalb.



Albert Jörimann





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22.08.2007

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