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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Wachstum 2008"

[10.Kalenderwoche] Wachstum ist der Schlüsselbegriff für die kapitalistische Wirtschaft, und vielleicht müsste man noch anfügen: Wachstum bis zum Gehtnichtmehr, denn irgendwo muss man ja rein logisch auch Grenzen ...

... des Wachstums vermuten, allerdings wohl nicht dort, wo sie der Club of Rome sie im Jahr 1972 ansetzte und aller Wahrscheinlichkeit auch nicht dort, wo ich sie sehen würde, wenn ich danach Ausschau hielte – ich bin kein Hellseher und wills nicht werden, mir reichen einige Grundsätze vollkommen aus. Aber für die Wirtschaft und die Medien, die unterdessen immer mehr den Eindruck einer eingebetteten Frontberichterstattung in einem unbestimmten Wirtschaftskrieg machen, ist das Wachstum zu einem derart übermächtigen Begriff geworden, dass er langsam lästig zu werden beginnt. Vielmehr: Er wird unbrauchbar. Wachsen kann bekanntlich alles, von der zarten Pflanze über den Genmais bis zu einem Krebsgeschwür, das bringt zunächst keine weiteren Einsichten. Rein wirtschaftlich gesehen erscheint es zwar zunächst unwichtig, wo das Wachstum stattfindet, wenn es nur stattfindet. Aber in größeren Zusammenhängen muss sich eben auch das Wirtschaftswachstum in den Dienst allgemeinerer Entwicklungen stellen. Im günstigsten Fall überschneiden sich die beiden Bewegungen, die globale gesellschaftliche Entwicklung und das Wirtschaftswachstum; dies ist im Moment eindeutig der Fall in den Schwellenländern, vor allem in Brasilien, Indien und China sowie den Gegenden rund um sie herum; es handelt sich, um das etwas zu verdeutlichen, um die Hälfte der Weltbevölkerung. Ich habe darauf zwar schon verschiedentlich hingewiesen, aber die wirkliche Bedeutung dieser Entwicklung kommt wohl nie so recht zum Vorschein. Dabei geht es doch wirklich darum, dass nicht nur der Trend gestoppt wurde, dass der steigende produktive Output in den Entwicklungs- und Schwellenländern immer von einer ebenfalls steigenden Bevölkerungsmenge sofort wieder radikal weggeputzt wurde – dies war eine erste Voraussetzung, und die kann global als weitgehend erfüllt gelten. Aber die zweite ist viel gründlicher: Der Reichtum nimmt zu in den Schwellenländern, und zwar nicht einfach der Reichtum einer begrenzten Clique von Despoten und Superkapitalisten – den gibt es logischerweise auch, will ich gar nicht bestreiten; aber daneben steigt eben auch der Wohlstand der Durchschnittsbevölkerung, die Armen werden zwar wie immer und überall immer ärmer, aber sie werden eben doch reicher, und gleichzeitig entwickelt sich eine wachsende Mittelschicht, was bei aller Klassenanalyse halt doch immer ein Anzeichen für einen relativ organisch wachsenden Reichtum der betreffenden Gesellschaft darstellt.

Wirtschaftlich gesehen äußert sich dies in gewaltigen Booms in Sektoren wie Telekommunikation, Computer, Automobile und natürlich auch Gesundheitspflege, ganz abgesehen vom gewaltigen Infrastrukturbedarf, der jahrzehntelang komplett vernachlässigt wurde. Insbesondere die ehemaligen Kolonien sind mit dem sozusagen guten Teil des kolonialen Erbes, z.B. mit der Eisenbahninfrastruktur, völlig achtlos umgegangen; rund um den Erdball haben sich die stark bejubelten Befreiungsbewegungen innerhalb von kurzer Zeit als Bereicherungsbewegungen entpuppt, die keineswegs etwa das Wohl eines Landes, sondern nur der Cliquen und Clans im Sinne hatten. Dass zum Beispiel in Indien die Züge überhaupt noch fahren, ist keineswegs irgend einer indischen Politikerin zu verdanken, sondern der Tatsache, dass die Schieneninfrastruktur so nachhaltig ist wie kaum etwas anderes. Aber wie in den entwickelten Ländern müssen auch die Schwellenländer gegenwärtig durch die verschiedenen Entwicklungsprobleme durch; so bauen die Inder jetzt nicht etwa eine bessere Eisenbahninfrastruktur, sondern sie machen einen indischen Volkswagen für 2000 Euro pro Stück, dank dem die indischen Städte noch stärker im Chaos versinken werden, bis bei Gelegenheit die ersten Verkehrsleitsysteme und dann vielleicht auch mal ein effizientes öffentliches Verkehrsnetz in Angriff genommen werden. Ein Gleiches gilt für die Umweltschäden, welche das Wachstum zunächst mit sich bringt; hier steht momentan vor allem China im Rampenlicht, das innerhalb von Rekordzeit sämtliche kapitalistischen Sünden nachvollzieht ebenso wie die Korrekturmaßnahmen, die sich jetzt immer stärker abzeichnen. Dazu tragen in China sicher auch die Olympischen Spiele von diesem Sommer bei, aber ich bin sicher, dass auch die Chinesen längstens geschnallt haben, dass auch Umwelttechnologie einen Wachstumssektor par excellence darstellen.

Dagegen sehen gemäß sämtlichen Wirtschaftsmeldungen die Wachstumsaussichten in den entwickelten Ländern eher trübe aus. Europa profitiert in erster Linie von der gewaltigen Dynamik in den neuen EU-Mitgliedländern im Osten; und die Vereinigten Staaten befinden sich gegenwärtig in einem Schlagloch von ziemlich ungeheuren Ausmaßen, das aber immerhin einen Vorteil hat: Es ist ein echtes Wachstums-Schlagloch. Und zwar wie folgt: Das kapitalistische Wachstum ist technisch nur möglich mit dem Instrument des Kredits. Die Summe sämtlicher Investitionen von privater oder öffentlicher Hand sind in der einen oder anderen Form Kreditvorgaben, mit denen das künftige Wachstum finanziert wird. Dies führt systemimmanent dazu, dass immer ein höherer Teil an Geld in der Form von Kredit vorhanden sein muss, als zur Zirkulation der aktuellen Werte benötigt wird. Ein Merkmal der letzten Jahrzehnte war die Globalisierung dieser Gelddifferenz, nämlich die Entstehung bzw. die gewaltige Ausdehnung der globalen Finanzmärkte. Da nun unterdessen der Finanzsektor zur eigenen Industrie geworden ist, wovon unter anderem die Schweizer ein Liedchen, wenn nicht eine ganze Nationalhymne singen können, hat diese Differenz zwischen Zirkulations- und Investitionsgeld Ausmaße angenommen, welche zwingend zu einem Eigenleben führten. Innerhalb des Finanzsektors ist nochmals ein eigener Sektor entstanden, der in erster Linie mit Tipps und Tricks der Geldherstellung oder Umleitung befasst ist. Das Kreditdelta über das Zirkulationsgeld hinaus hat sich selbständig gemacht, und da die Finanzmärkte global sind, die realen Investitionsmärkte aber immer noch national, führt das Kreditdelta natürlich ein wunderbares Herrenleben, allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt. Wir haben in den letzten 8 Jahren jetzt zwei Mal gesehen, wie sich dieses verselbständigte Kreditdelta aufgebläht hat und dann geplatzt ist. Vor acht Jahren waren es die Spekulationen auf das Potenzial der Informatik, die IT-Blase; diesmal hat sich das Finanzkapital bzw. seine Schmierenadvokaten gar nicht mehr die Mühe gemacht, allfällige echte Wachstumsmärkte zu lokalisieren, sondern stützte sich direkt auf einen Sektor mit hoher Eigendynamik und dementsprechend hohem Potenzial für Versteckspiele aller Gattungen, auf die Immobilien, und zwar in erster Linie in den Vereinigten Staaten, wie Ihr unterdessen alle wisst; in Europa wäre dies so nicht möglich, obwohl man in verschiedenen Ländern versucht hat, entsprechende Lücken aufzubauen. Aber in den Kerngebieten Europas war das Hypothekarwesen eben von Beginn der kapitalistischen Entwicklung weg ein zentraler Motor für die Schaffung von Wachstum, für die Absicherung des Kredits, weshalb hier die Werte viel klarer berechnet werden können, auch wenn sie natürlich auch in Europa von volatiler Natur sind. Aber in den Vereinigten Staaten liegen die Verhältnisse völlig anders und ermöglichten so den windigen und findigen Finanzmechanikern ein Leben in Saus und Braus, übrigens selbstverständlich ohne jegliche böse Absicht. Den Finanzmechanikern geht es nach wie vor gut, aber einige andere Akteure haben massive Kopfschmerzen; es scheint sich aber diesmal nicht wirklich alles restlos auf dem Buckel der Ärmsten der Armen abzuspielen, sondern am stärksten betroffen sind die großen internationalen Banken. Das ist ja dann wieder lustig.

Umgekehrt geht es in den Schwellenländern und zum Teil auch in den armen Ländern unbeirrt aufwärts. Ich hatte in der Vergangenheit immer den Eindruck, dass sich insbesondere das internationale Finanzkapital mit Vorliebe in den unbekannten Gebieten des Globus austobt, wo man noch am ehesten die krudesten Formen der Ausbeutung in Geld ummünzen kann. Die jüngsten beiden Finanzkrisen haben nun aber einen offensichtlichen und riesigen Bogen um die Schwellen- und Entwicklungsländer gemacht. Sämtliche Katastrophentheorien wurden in diesem Kernbereich widerlegt. Das ist ja doch lustig, vielmehr: Es handelt sich um eine absolut zentrale Tendenz auf dem Globus, denn nur die Herstellung eines halbwegs vernünftigen Wohlstandes auf der ganzen Welt kann dazu führen, dass irgendwann mal eine Ruhe ist im Bereich Migrationsdruck, will sagen: Wenn auf der ganzen Erde halbwegs anständige Lebensbedingungen vorherrschen, gibt es für die Menschen rund um den Erdball auch keinen Grund mehr, sich an den Türen Europas und Nordamerikas die Köpfe einzurennen. Wir haben allen Grund, uns über solche Entwicklungen zu freuen und sie zu unterstützen, wo immer dies möglich ist. Nämlich geht die Rechnung ja nicht einfach nur so, dass dann all die anderen Wilden zu Hause bleiben, wo sie auch hingehören; nein, erst dann, wenn ein halbwegs vernünftiger Austausch zwischen halbwegs gleich Gestellten möglich ist, kommt auch ein angemessenes Gespräch und ein angemessener Austausch in Gang. Erst dann haben wir nicht auf der einen Seite die Schwarzarbeiter und Asyl Suchenden und auf der anderen Seite die Touristenströme, sondern eben einen osmotischen Austausch unter den verschiedenen Gesellschaften, wie wir ihn eigentlich schon immer anstrebten. Bloß wussten wir nicht so genau, wie er zu bewerkstelligen wäre. Jetzt zeigen alle Indikatoren in die vernünftige Richtung.

Soweit zum einen Aspekt des Wachstums. Einen anderen betone ich hier ebenfalls immer wieder: Nicht nur der Wohlstand muss steigen und breiter werden, sondern auch die Einsicht der Bevölkerung, wie damit umzugehen ist, woher er stammt, wozu er dient. An diesem Punkt kippt aber die allgemeine Wachstumsdebatte um in eine andere, ziemlich alte Debatte, nämlich in die Machtfrage, und zwar wiederum auf der ganzen Welt.



Albert Jörimann





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02.03.2008

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