Artikel

Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Globale Infrastrukturen"

[18.Kalenderwoche] Ausgerechnet in Zeiten des Kollapses auf den Finanzmärkten erleben jene Märkte, die auf eine allgemeine Finanzierung angewiesen sind wie sonst nüscht, einen seit Jahrzehnten nicht mehr da gewesenen Boom, nämlich...


... die globalen Infrastrukturen. Von den Eisenbahnen will ich hier nicht sprechen, diese Industrie wurde von den nordamerikanischen und europäischen Automobilkonzernen derart radikal zugeplättet, dass es noch Jahre dauern wird, bis sie sich wieder erholt, obwohl es sich hier um eine der robustesten und effizientesten Transportinfrastrukturen handelt, wie auch die immer noch funktionierenden uralten Schienennetze in den Entwicklungsländern belegen, die sich trotz dem Automobilisierungswahn ohne Investitionen gehalten haben; Straßen sind innerhalb weniger Jahre oder je nach Weltregion in noch kürzerer Zeit im Eimer, wenn man sie nicht pflegt, aber die Eisenbahn fährt und fährt und fährt. Die gegenwärtigen Infrastrukturinvestitionen betreffen vor allem Energie- und Kommunikationsnetze sowie Wasser und Abwasser. Und die Finanzierung erfolgt eben nicht über das Finanzkapital, sondern steht im Zusammenhang mit dem Boom der Rohstoffpreise, also vor allem Metalle, aber auch bei Landwirtschaftsprodukten, wo endlich auch mal die Agrarstaaten, also die armen Länder, ein kleines Teil vom Wohlstandskuchen erhalten. Darüber regt sich die Weltöffentlichkeit natürlich subito auf und empört sich über die steigenden Preise für Lebensmittel, obwohl steigende Nahrungsmittelpreise immer und direkt eine Erhöhung der Lebensmittelproduktion auslösen. Aber wie auch immer: Die Finanzmärkte liegen am Boden, aber die Rohstoffmärkte und die Schwellen- und Entwicklungsländer befinden sich auf einem Höhenflug trotz den Protesten gegen die steigenden Lebensmittelpreise. Das ist gut so, denn damit werden die unglaublichen Ungleichheiten zwischen den entwickelten Ländern und den Schwellen- und Entwicklungsländern nach und nach etwas gemildert, was sowohl absolut positiv ist, indem der Wohlstand dort steigt, wos am nötigsten ist, als auch relativ, indem sich der Migrationsdruck vom Süden in den Norden absolut verringert, wenn er auch relativ vorübergehend ansteigen kann, da wieder mehr Leute über die nötigen Mittel für eine Reise verfügen.

Gäbe es eine Korrelation zwischen Finanzmärkten und den Volkswirtschaften in den Entwicklungsländern, so wäre sie somit umgekehrt proportional; allein, ich glaube nicht, dass es eine derartige Korrelation gibt. Das ist ja auch wieder interessant und besagt, dass die Finanzsphäre, also jener Ort, wo die globale Liquidität in einem dauernden Prozess von Forschung und Entwicklung steckt, immer noch auf die entwickelten Länder konzentriert ist; vielmehr müsste man sagen: Wieder auf die entwickelten Länder konzentriert ist, denn die Kollapse in den achtziger Jahren, als vor allem US-amerikanische Grossbanken anstatt wie heute in Immobilien massiv in Entwicklungsländer investierten, sollte man eigentlich nicht völlig verdrängen; auch damals gerieten viele Institute an den Rand des Konkurses. Dies gilt heute nicht mehr. Wenn es Korrelationen gibt, dann sind es nicht die Finanzmärkte, sondern es ist die wirtschaftlich/politische Macht der entwickelten Länder, die offenbar in den letzten zehn Jahren relativ stark abgenommen hat. Innerhalb dieser Bewegung stellt die letzte Drohung, nämlich jene mit der Armee, mit einiger Sicherheit ein wichtiges Element dar; der Weltgendarm nämlich, die US-Streitkräfte, sind im Moment aufgrund ihrer konkreten Bindung im Irak und in Afghanistan derart massiv absorbiert, dass sich alle anderen Länder ins Fäustchen lachen und wissen, dass auf absehbare Zeit nicht damit zu rechnen ist, dass die USA einen weiteren namhaften Kriegsschauplatz eröffnen; und ihre Alliierten, nämlich wir und ihr, wir halten uns da hübsch raus und überlassen es den Amis, die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Das ist eine hübsch vernünftige Taktik, die aber auch nicht über Jahrzehnte hinaus anhalten kann.

Wahrscheinlich haben das Engagement im Irak und in Afghanistan ziemlich deutlich die Grenzen der weltpolizeilichen Armeeinterventionen aufgezeigt. So geht’s auch nicht, und diese Lehre werden sämtliche Staaten der ganzen Welt begriffen haben. Es geht anderseits wohl auch nicht völlig ohne jede Weltpolizei, dies habe ich meinerseits spätestens am 11. September 2001 gelernt; die Verbreitung hochgerüsteter Idiotengruppen ist durchaus kein Hirngespinst, wenn dahinter bloß eine ordentliche Ideologie wie hier ein fanatisierter Arm des Islams steht und eine ordentliche Geldpotenz wie hier die Erdölmilliarden einer saudiarabischen Familie mit besten Beziehungen um US-Präsidenten. Neben der Ideologie ist aber auch denkbar, dass sich die relativ reine Kriminalität, deren höher entwickelte Organisationsformen wir in der Regel Mafia nennen, größere Ziele setzt, und auch hier ist eine Weltpolizei in der Tat nicht einfach fakultativ, sondern schlicht unerlässlich. Aber das hat nichts zu tun mit der bis vor kurzem latent bestehenden Drohung, sämtlichen missliebigen politischen und vor allem wirtschaftlichen Entwicklungen mit dem Arm der Geheimdienste und ihrem verlängerten Arm des Militärs in Grund und Boden zu stampfen. Da wird etwas Neues entstehen, für das sich doch gerade Deutschland im Rahmen der UNO laut und deutlich einsetzen könnte. Wenn Ihr’s nicht tut, dann machen wir das selber.

Daneben hat die Finanzkrise momentan eine deutliche Pause eingelegt; man wagt noch nicht so recht, vom definitiven Ende zu sprechen, aber wahnsinnig viel tiefer können die Wohnungspreise in den USA nicht sinken, und dass die nun alle auf der Straße schlafen, nehme ich auch nicht an. Dabei bin ich nicht in der Lage abzuschätzen, wie weit sich die Austrocknung der Hypothekargelder auf den Konsum auswirkt bzw. wie sehr die stark auf Konsumkredit beruhende US-Realwirtschaft bzw. das Bruttoinlandprodukt gelitten hat; aber per Saldo lässt sich nur sagen, dass die USA deutlich sichtbar nicht mehr der wichtigste und schon längstens nicht mehr der einzige Weltwirtschaftsmotor sind. Neben Europa haben sich die BRIC-Länder etabliert, wobei ich hinter Brasilien mittelfristig noch ein Fragezeichen setze wegen der nach wie vor anhaltenden massiven sozialen Disparitäten. Die gibt es in Indien zwar auch, aber dort sind sie immerhin seit tausend Jahren in ein religiös-institutionelles Gewand gekleidet, was einen recht stabilen Anschein an Legitimität erweckt, den es in Brasilien überhaupt nicht gibt. Die Bevölkerungsmassen in Russland dagegen haben doch immerhin noch einen Zweite-Welt-Status, also ein halbwegs funktionierendes Bildungs- und Informationssystem, bei allen vorhandenen Schlagseiten, und China vollends marschiert, ebenfalls bei allen neu aufgetretenen Diskrepanzen, nach wie vor ziemlich einheitlich in das Konsumparadies.

All dies erwähne ich hier immer wieder nur, um die Frage umso deutlicher für uns selber zu stellen bzw. für Euch: Geschätzte Kolleginnen und Kollegen, Zuhörerinnen und Zuhörer, ihr in Deutschland scheint ja geradewegs in der Armut zu versinken? Das ist doch einfach Blödsinn, nicht wahr, und reine politische Propaganda von Köpfen, die nicht gescheit genug sind, um sich unter gesellschaftlichem Fortschritt etwas anderes vorzustellen als Reallohnerhöhungen. Meine Forderung für die entwickelten Staaten ist: Sofortige Einstellung der Armutsdebatte! Die Armut wird per sofort abgeschafft! Und sobald dies vollzogen ist, beginnt eine neue Systemdebatte. Wir brauchen uns nicht mehr zu streiten darüber, ob die Geld- und Warenwirtschaft gut oder schlecht sei - sie ist allzu übermächtig, unser allzu offensichtlicher Reichtum beruht allzu offensichtlich auf der internationalen Arbeitsteilung und auf dem internationalen Äquivalententausch, sodass wir diese Debatten getrost einschläfern und ausstellen dürfen im Museum für Vorgegenwartsgeschichte. Stattdessen muss eine nicht von politischen Konzepten getrübte Analyse der effektiven Beziehungen der Menschen untereinander erfolgen, hier und in Europa und natürlich auch global, aber zunächst mal mit einem Schwergewicht auf unserem Erfahrungsbereich, wo wir eben nach wie vor vermuten, dass noch gewisse Fortschrittsarbeit zu leisten ist, aber eben nicht mehr auf der Ebene der Armutsbekämpfung. Was tun wir, was tun wir nicht? Wie erfolgt die kollektive Willensbildung? Wohin fließen die reichlich vorhandenen Mittel? – Und all dies muss unter strikt rationalen Voraussetzungen erfolgen und darf kein Quäntchen an Nationalismus oder an anderweitigen Ideologien enthalten.

Das erinnert mich daran, dass ich letzthin eine Ansprache des Genossen Gregor Gysi gelesen habe zum Thema «Die Haltung der Deutschen Linken zum Staat Israel», wo er u.a. auch zu anderweitigen Ideologien sprach und dazu sagte: «Zusammenfassend würde ich also behaupten wollen, dass der einstige Antiimperialismus in linken Diskursen, falls er es je konnte, nicht mehr sinnvoll platziert werden kann, obwohl die Kriege gegen Irak, Afghanistan und andere imperiale Ziele verfolgen; vereinfachend kann man sie imperialistisch nennen, muss aber wissen, dass zwar Abhängigkeiten, aber keine neuen Kolonien angestrebt werden und auch nicht entstehen.» Daneben gibt er einige luzide Ausführungen zum Verständnis der Lage Israels und seiner Nachbarn als eines kriegerischen Verhältnisses unter Bezug auf Clausewitz, sagt zwischendurch, dass alte linke Vorlieben, immer schon im Voraus genau zu wissen, wer prinzipiell der Gute und wer ebenso prinzipiell der Böse ist, endlich hinter uns gelassen werden müssen, spricht von der Solidarität mit Israel als drittem Element der deutschen Staatsräson, geht insgesamt halt eben recht präzise und auch in historischer Perspektive auf den ganzen Komplex Europa/USA/Israel/Palästina/Arabien ein und bringt eine neue Formulierung, indem er fordert, dass Israel nicht weiter versuchen solle, kulturell Europa im Nahen Osten zu sein, sondern eine kulturelle Macht des Nahen Ostens zu werden. Dies nun wiederum tönt zwar gut, aber man sollte dabei nicht vergessen, dass der Mittelmeerraum deutlich älter ist als der Raum Europa, wenn ich hier mal etwas anmerken darf. Daneben ist mir noch eine Formulierung aufgefallen, die ich hier ebenfalls wiedergeben möchte: «Deutschland ist einer allenfalls abstrakten terroristischen Gefahr ausgesetzt, die für Schäuble, Jung und andere Sicherheitsfanatiker schon Grund genug ist, beängstigende Angriffe auf liberale Bestände unserer Verfassung zu unternehmen. Wäre bei dieser Hysterie eine rechtsstaatliche Demokratie in Deutschland überhaupt noch denkbar, wenn Deutschland sich in einer mit der israelischen Gesellschaft vergleichbaren Bedrohungslage befände? Ich habe da große Zweifel. Daher anerkenne ich die Bewahrung demokratischer Verhältnisse – einschließlich einer demokratischen Öffentlichkeit – während der vergangenen 60 Jahre seit der Gründung Israels dort als eine wirklich große Leistung, die Bewunderung und Anerkennung verdient.» Soweit Gregor Gysi.



Albert Jörimann





Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann des Jahres 2007/08

Lokalnachrichtenredaktion
28.04.2008

Kommentare

Zu diesem Artikel sind keine Kommentare vorhanden.