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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Die Grünen"

[19.Kalenderwoche] Am Wochenende hatten wir ein Gespräch mit einem der beiden grünen Ständeräte in der Schweiz, bei dem dieser auf Belgien verwies, wo offenbar in gewissen Gegenden die Menschen schon in der dritten Generation von der Arbeitslosenunterstützung oder von der Sozialhilfe leben. Er wollte das Argument nicht ausdrücklich gegen ein Grundeinkommen verstanden wissen, meinte aber, dass...


... es gefährlich sei, den Menschen einfach so ausreichend Geld zur Verfügung zu stellen und das Problem damit abzuhaken; damit würde ein Grundeinkommen oder eine entsprechende soziale Sicherung zu einer Ausschlussrente, zu einem Beitrag, mit dem man die Menschen ruhig stellt, um sie erst recht von einer aktiven Beteiligung am gesellschaftlichen Leben auszuschliessen.

Die Beobachtung ist natürlich korrekt, und sie beschränkt sich durchaus nicht auf Belgien; sie trifft auch auf die berühmten französischen Vorstädte zu und auch auf gewisse städtische Gebiete in der ehemaligen DDR, etwas weniger vielleicht auf die ehemaligen Bergbaugebiete im Ruhrpott oder auf einige Regionen in England, kurz, auf ganze Landstriche, welche beim radikalen Strukturwandel in den letzten Jahrzehnten die Kurve nicht gekriegt haben. Die Aussage lautet dann ungefähr so, dass mit der Auszahlung von reichlicher Sozialhilfe die Menschen nicht dazu bewegt würden, sich flexibel der Wanderung der Arbeitsmöglichkeiten anzupassen und wegzuziehen; gleichzeitig bedeutet die Aussage auch, dass die Menschen nicht einfach so von sich aus kreativ werden, wenn man ihnen bloß genügend Geldmittel zum Leben zur Verfügung stellt. Das dürfte in beiden Fällen zutreffen.

Mit dem Grundeinkommen hat das allerdings nichts zu tun, und zwar insofern, als das Grundeinkommen nur einen Beitrag zur Modernisierung der Gesellschaft leistet durch die endgültige Abschaffung der Armut; es ermöglicht allen Menschen eine erste grundlegende Freiheit, aber das Grundeinkommen als solches eröffnet noch keine Perspektiven, und vor allem ist es kein strukturpolitisches Instrument. Es hat nichts zu tun mit dem Untergang der westeuropäischen Montanindustrie wegen der Billigkonkurrenz aus dem Osten und aus Asien und es hat auch nichts zu tun mit dem Wideranstieg der Rohstoffpreise in den letzten 12 Monaten. Die Modernisierung der Gesellschaft mit der Anpassung an neue globale Wirtschaftsverhältnisse und stetig ändernde Muster bei Produktion, Konsum und Kommunikation ist eine Arbeit, welche die Gesellschaft zusätzlich oder gleichzeitig erledigen muss.

Davon abgesehen hängt noch recht viel auch vom Wertesystem ab, das den Einzelnen und der Gesellschaft zugrunde liegt. Als ich vor zehn Jahren zum ersten Mal den berühmten Schlager «Arbeitslos und Spaß dabei» gehört habe, war ich nicht nur amüsiert, sondern auch etwas schockiert, denn bei uns ist die Vorstellung, dass man sich sein Leben auf Arbeit verdient, doch sehr tief verankert, und auch wenn man damals noch nix wusste von Hartz IV, so war doch die Aussicht auf ein Ende der Arbeitslosenversicherung oder Sozialhilfe und die damit verbundenen Einkommensausfälle durchaus nicht so lustig, wie es der Galgenhumor des Schlagers darstellte. Und dennoch steckt in dem Lied eine doppelte Wahrheit. Einerseits das Aufatmen nach jahrelangem Malochen bzw. die Reaktion auf eine Arbeit, die man in der Regel nicht deshalb angenommen hat, weil sie zur Augenfarbe oder zu den persönlichen Vorlieben passt, sondern eben, weil sie Geld einbringt; das ist ja im Grunde genommen ein ziemlich abstraktes Verhältnis zu jener Tätigkeit, die man dann ein halbes Leben lang ausübt. Arbeitslosigkeit kann hier durchaus mal eine Befreiung bedeuten. Zum Zweiten steht man unter den Bedingungen einer halbwegs vernünftig bezahlten Arbeitslosigkeit ja tatsächlich auf der grünen Wiese und kann anfangen was man will. Dass man dann zunächst mal Partner sucht fürs Kartenspiel und fürs Bier, erscheint mir ebenso selbstverständlich und schön und richtig, wie dass man dann nach einer gewissen Zeit Ausschau hält nach anderen Möglichkeiten. Solche anderen Möglichkeiten entstehen nun nicht immer oder nicht mal in der Regel aus der eigenen Vorstellungskraft der Menschen, vor allem dann nicht, wenn sie ein halbes Leben lang in den Fabriken ihre Funktion eines Rädchens im Produktionsprozess ausgeübt haben; dass man dort nicht allzu kreativ sein sollte, lernt man in der Regel recht schnell. Abgesehen davon ist auch nicht jeder Mensch jederzeit in der Lage, Lösungen zu entwerfen, welche eine Frage der gesamten Gemeinschaft sind; das betrifft zum Beispiel die Strukturpolitik, welche andersartige, neue Arbeitsmöglichkeiten schafft; es betrifft aber auch den Hang und die Fähigkeit der einzelnen Individuen, sich in ihren Lieblingsbereichen zu betätigen und dabei auch auf Resonanz zu stoßen. Wenn das aber fehlt, macht Arbeitslosigkeit irgendwann keinen Spaß mehr, und man droht effektiv zum ewigen Skater zu werden und die Kinder zu ewigen Skatern.

Die individuelle Perspektive hat ja auch nur dann einen Wert, wenn sie in eine größere Perspektive eingebettet ist. Ich gehe vorsichtshalber davon aus, dass die Menschen in den sozialen Krisengebieten der Großstädte nicht einfach aus Jux der Ansicht sind, dass sie sich am Arschpol der Gesellschaft aufhalten, sondern dass diese Ansicht durch hunderttausendfache Beispiele belegt wird. Und hier nützt ein Grundeinkommen oder eine andere Sozialversicherung alleine in der Tat nichts aus. Die Leute in diesen Gebieten müssen die handfeste Erfahrung machen können, dass es für sie höchstpersönlich und für die Stadtviertel und die ganze Bevölkerung Möglichkeiten gibt, sich zu verändern, zu entfalten, zu verbessern. Ich glaube nicht, dass so etwas besonders schwierig wäre. Von einfachen Produktionsbetrieben bis zu angepassten Dienstleistungen kann man hier gleich im Multipack für Chancen sorgen, welche in der Reichweite dieser Menschen liegen und das Potenzial für einen Ausbau enthalten. Man muss das bloß wollen und dann in der Praxis so umsetzen, dass sich die Menschen nicht zum Vornherein verarscht vorkommen. Dafür gibt es allerdings auch eine lange Liste von Präzedenzfällen. Aber immerhin. Möglich ists.

All dies müsste man doch eigentlich einem grünen Politiker nicht sagen müssen. Aber offenbar stellen sich hier unterdessen echte Identitätsfragen, wie sie neuerdings am Schönsten in der schwarz-grünen Koalition in Hamburg zum Ausdruck gekommen sind. Auch der österreichische Grünen-Obmann Van der Bellen, der übrigens nur noch mit mickrigen 81% der Delegiertenstimmen wiedergewählt wurde, schließt eine Koalition mit der rechten ÖVP nicht mehr aus. Wenn sich einmal eine große Koalition gebildet hat – bekanntlich gibt es auch in Österreich eine solche, wie in der Bundesrepublik –, ist nicht einsichtig, weshalb nicht auch die Grünen da interessiert sein sollten; mit anderen Worten: Es kommt in der Praxis schon nicht mehr drauf an, wer am Herd bzw. auf der politischen Schaubühne steht, das Ergebnis ist mit Garantie das Gleiche. Und wenn mir dies jetzt als besonders gefährlich für die Identität jeder politischen Partei und der Grünen insbesondere erscheint, so habe ich den Eindruck, als wäre es in deren Einschätzung genau umgekehrt: Die Grünen sind der Auffassung, dass sie sich nur über der 5%-Hürde halten können, wenn sie insgesamt als staatstragend und regierungsfähig erscheinen. Deshalb werfen sie auch ihre Positionen über Bord, wie z.B. betreffend das Grundeinkommen. Beeindruckt sind sie dabei wohl von den Schlappen in Italien und in Frankreich, wo offenbar die Frage des Klimawandels entweder weniger stark wahrgenommen wird oder aber bereits zum Repertoire der staatstragenden Parteien gehört; dies haben wir ja auch in den Vereinigten Staaten gesehen, wo dieser eigenartige Schauspieler, dessen Namen mir unterdessen schon fast entfallen ist, er hieß übrigens fast gleich wie sein Vater und gleichzeitig wie ein berühmter deutscher Karikaturist aus dem 19. Jahrhundert, also Schultz war es nicht, so einen hatten die USA auch einmal, na egal, jedenfalls weigerte sich dieser Dorftrottel zunächst, die Kyoto-Protokolle zu unterzeichnen, und unterdessen tut er alles, um Alternativenergien zu fördern usw. usf.

Die Grünen sind also in den Hauptstrom eingebogen oder eingeflossen, und, meiner Treu, ich würde ja jetzt gerne auf die Linke als eine fortschrittliche Partei verweisen, aber bei der Linken hat es mir trotz aller Sympathie viel zu viele Reaktionäre dabei, welche an die Stelle einer Analyse der Modern Times das Wehklagen über die vermeintlichen Systemauswüchse des Kapitalismus setzen, und das ist einfach nicht brauchbar, so wie das Gedudel über Auswüchse noch nie brauchbar war; wir brauchen eben keine Untersuchungen der Auswüchse, sondern des Systems selber. Da klaffen Lücken, wenn nicht überhaupt eben ein schwarz-rot-grünes Loch.

A proposito Systemauswüchse: Ich habe nicht ganz ohne Befremden zur Kenntnis genommen, dass der österreichische Bundeskanzler Gusenbauer gesagt oder fast gedroht hat, dass er und die Regierung und überhaupt das ganze Land Österreich nicht die Absicht hätten, sich von dieser Männerfratze, welche die eigene Tochter zwanzig Jahre lang im Luftschutzkeller als Sexsklavin hielt, in Geiselhaft nehmen zu lassen. Was wollte Gusenbauer, wenn schon nicht uns bzw. der Weltöffentlichkeit, so doch den Österreicherinnen und Österreichern hiermit mitteilen? Ich weiß es nicht, aber was er damit sagte, war recht klar und eindeutig: Dass nämlich in jedem männlichen Österreicher so ein kleiner Inzestsexualverbrecher stecke. Das halte ich für einen Wolkenschieber und Staatenlenker für nicht angebracht. Es ist zwar wahr, dass die Kritik aus eigenem Mund oft ehrlicher und wirksamer ist, aber hier ging Gusenbauer zu weit. Ich gebe zu, dass die millionenfache Divulgation aller peinlichsten Einzelheiten in den ziemlich widerlichen österreichischen Massenmedien die Diagnose von Gusenbauer zunächst nicht zu bestätigen scheint, sondern bestätigt. Aber mir und allen anderen vernünftigen Personen in Europa wäre es dennoch nicht in den Sinn gekommen, daraus einen Generalverdacht über die österreichischen Pimmelträger auszuschütten, wie ihn jetzt der Bundeskanzler aufgestellt hat. Dabei ist es sicher wahr und spielt eine große Rolle, dass die sozusagen dunkle Seite in den Menschen mit dem Mittel des Internet bedeutend mehr Unterstützung und Nahrung und Ausbreitungspotenzial gefunden hat als je zuvor, hauptsächlich bei Bevölkerungsschichten, welche darauf primär reagieren. Anderseits ist dies zweifellos ein Teil des Preises der Freiheit, und die logische Reaktion einer entwickelten Gesellschaft darauf ist es, neue Formen des Umgangs mit dieser dunklen Seite zu finden, was sich im sexuellen Bereich zweifellos in einer massiven Welle an so genannt perversen Spielen niederschlägt. Im richtigen Maß genossen bringen halt solche Spiele durchaus eine Bereicherung in den ehelichen und außerehelichen Alltag. Ich verweise darauf, dass das Leben ohne die Reibungen mit der dunklen Seite absolut langweilig wäre; so etwas nennt man das Paradies, und das Paradies, so wie es mir geschildert wird, ist ziemlich langweilig. Zugunsten der Gläubigen will ich annehmen, dass die Schilderungen völlig unpräzise sind und dass es eben im Paradies eigentlich erst recht tonnenweise Möglichkeiten zum Ausleben der dunklen Seiten gibt. Jedenfalls bin ich diesbezüglich nicht besonders pessimistisch. Anderseits möchte ich den Herrn Bundeskanzler daran erinnern, dass es vor zwanzig Jahren noch durchaus kein Internet gab, als sich dieser Geistesgestörte dazu entschloss, seine eigene Tochter einzusargen und zu schwängern. Solche Sachen gab und gibt es immer wieder, auf der ganzen Welt; sie fallen unter das Kapitel Persönlichkeitsstörung und Geisteskrankheiten, und kein Regierungschef auf der ganzen Welt hat einen Grund, sich im Namen seines Volkes dafür verantwortlich zu fühlen. Wenn er’s doch tut – dann müsste man eigentlich hellhörig werden. Aber ich nehme zugunsten von Gusenbauer an, dass er halt bloß ein bisschen plump geworden ist vor lauter Große Koalition.



Albert Jörimann





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Lokalnachrichtenredaktion
05.05.2008

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