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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Feiertagsinflation"

[20.Kalenderwoche] Zum 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel ist mir in erster Linie aufgefallen, dass die Juden diesen Geburtstag nicht am 14. Mai feierten, sondern am 8. Mai, weil sie einen Mondkalender haben, scheints. Das Internet belehrt mich, dass die Juden ...

... den Mondkalender mit Einschubmonaten dem Sonnenjahr anpassen, weshalb es sich um einen Lunisolarkalender handelt, im Gegensatz zum reinen Sonnenjahr, das bekanntlich auf Julius Caesar zurückgeht und von einem Papst Gregor den astronomischen Gegebenheiten angepasst wurde, 70 Jahre, bevor Galileo Galilei zum Widerruf seiner astronomischen und heliozentrischen Erkenntnisse gezwungen wurde. Damit unterscheidet sich der jüdische Kalender vom islamischen Kalender, der sich durchaus nicht auf einen Zusammenhang zwischen astronomischer Zeit und den Kalenderbedürfnissen beruft. Und hier möchte ich doch sagen, dass der Islamerer, wenn vielleicht nicht überall, so doch in diesem Punkt Recht hat. Wieso sonst nämlich, oder quo usque tandem, wie der Lateiner früher hin und wieder sagte, noch bevor Cäsar den Kalender reformierte, würde es alljährlich zu einer derartigen Häufung von Feiertagen kommen wie im Frühjahr? Eingeleitet wird das Ganze bereits im Winter durch den Fasching, aber dann jagen sich Palmsonntag, Karfreitag, Ostermontag, Auffahrt und Pfingsten mit Pfingstmontag bis in den Mai hinein, und von minderen Feiertagen wie dem Vatertag oder dem Frauentag oder dem 1. Mai wollen wir gar nicht sprechen. Zeitweilig gibt es in dieser Jahreszeit keine vollen Arbeitswochen mehr, der Kalender-Fasching wird vollends zum Arbeits-Fasching. Irgend ein Bezug zu heliozentrischen oder astronomischen Vorgaben ist in keiner Art und Weise ersichtlich, was belegt, dass die vorgebliche Genauigkeit des Kalenders, welche ihren idiotischen Kulminationspunkt findet in der regelmässigen Anpassung der Welt-Atomuhren um den Bruchteil einer Milliardstel Sekunde, in der Alltagspraxis überhaupt nichts zu suchen hat. Mit anderen Worten: Der Kalender kann ruhig reformiert werden, egal ob nach dem Sonnen- oder dem Mondprinzip oder auch nur nach dem Dezimalsystem wie anlässlich der französischen Revolution, er kann aber genau so gut unreformiert belassen werden, die Narretei wird sich jahrhundertelang als determinierende Konstante für die Menschheit halten.

Unmittelbar anschließend an dieses Freizeittreiben kommt ja schon die Urlaubssaison, wo sich ebenfalls alles gemeinsam von der Arbeit entfernt. Hier besteht dann wieder ein Zusammenhang mit dem Sonnenzyklus, wobei Ferien nach dem Mondzyklus etwas spannender wären, denn da würde man die verschiedenen Urlaubsländer auch mal unter anderen Umständen kennen lernen. Rimini im November hat einen ganz speziellen Charme von Ödnis und Verlassenheit, vielleicht gäbe das der deutschen Volksseele ein stabiles Gegengewicht zu all dem superprovisorischen Gegröle angeblicher Comedians und Promisender. Das sind Grenzerfahrungen: An grauen Novembernachmittagen, an denen sich die Sonne knapp und kalt durch die Küstennebel zwängt, der Waterkant entlang flanieren und ein derartiges Vakuum im Kopfe führen, dass man nicht mal in der Lage ist, die letzte aller Fragen auch nur sich zu stellen, nämlich «Wozu das alles?» – Dabei könnte man sich in Rimini diesen Fragen jeweils Ende November äußerst ausgezeichnet stellen, aber wenn deine Aufmerksamkeit bereits derart dressiert ist, dass sie zwischen Paris Hilton, Atze Schröder und Stefan Raab den Dreisprung macht, hast du zu solchen Abgründen keinen Zugang mehr, da muss sofort Alkohol oder Barbiturate drüber. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob die Gesellschaft viel verliert, wenn sie die Depressionen verliert, aber wenn ich mir die Alternativen ansehe, eben Paris Hilton, Atze Schröder und Stefan Raab, dann sind mir die guten alten Depressionen plötzlich wieder ganz liebe Freunde.

Aber auch ich befinde mich im November in der Regel nicht in Rimini. Auch nicht in Thailand oder in der Südsee oder auch nur auf den kapverdischen Inseln. Nicht auf Gran Canaria, nicht auf den Azoren, nicht auf Madeira und auch nicht in der Karibik; vielmehr verbringe ich meinen November in der Regel ordentlich arbeitend in meiner Wohnstadt Zürich und telefoniere in den langen Abendstunden gerne mit Erfurt und tausche Wünsche und Suchttipps aus. Im Frühjahr aber und bis Pfingsten kommt man überhaupt nicht dazu. Wenn man nicht über stabil erworbene Freizeitreflexe verfügt, steht man unter Dauerstress. Freizeitreflexe können zum Beispiel die Form von Motorradfahren annehmen. In der Schweiz ist Motorradfahren eine wahre Epidemie, die eben zeitgleich mit besagten Feiertagsrevolten ausbricht, sofern die Alpenpässe frei geräumt sind; dann blochen nämlich die Jungen wie die Alten über die Pässe, hin und zurück wie die Hamster im Drehrad, zum Beisiel von Bern aus über den Grimsel und den Furka oder aber den Susten und die Schöllenen nach Andermatt, wo übrigens gerade ein Sprössling der ägyptischen Milliardärsfamilie Sawiris ein Alpenparadies baut auf einem ehemaligen Armeewaffenplatz, und von dort aus über den Oberalp das Vorderrheintal hinunter, dann das Hinterrheintal hinauf und dann ins Oberhalbstein über den Julier nach St. Moritz und von dort das Engadin runter bis nach Zernez oder Schuls-Tarasp, wo man dann übernachtet oder was weiß ich, und am nächsten Morgen geht’s über den Ofenpass ins Münstertal und dann nach Italien ins Südtirol, dort über den Stelvio ins Veltlin, selbiges runter bis z.B. nach Chiavenna, dort rauf durchs Bergell und den Malojapass bis wiederum St. Moritz, über den Albula zurück, von Thusis nach links in den Süden über den San Bernardino ins Tessin, dann dort hinauf auf den Gotthard und je nach Laune über den Furka das Wallis runter vor dem Bergwind und vielleicht noch bei Aigle über den Col des Mosses nach Gstaad oder durch das Freiburger Land zurück nach Bern. Ja, genauso kann ein durchschnittliches Wochenende, muss aber sowieso ein verlängertes Wochenende der mehreren hunderttausend Motorradfahrer in der Schweiz aussehen, und man sollte sich nicht täuschen: Rar sind jene, die auf diesen Motorrädern im Jahr mehr als 2000 km abspulen.

Aber darum geht’s nicht, sondern es geht darum, für alle Fälle einen Freizeitreflex in petto zu haben, und das ist mit dem Erwerb und gelegentlichen Betrieb eines Motorfahrrades in hohem Maße gesichert. Uns dagegen, welche wir höchstens mit dem Zug herumfahren und sowieso von Natur aus gerne zu Hause sitzen, uns ereilt die Sinnfrage in solchen Momenten immer wieder, eben zum Beispiel an Pfingsten: Wer bin ich, was soll ich hier.

Das Härteste an dieser Frage ist, dass sie zu jener Kategorie gehört, auf die es keine Antwort gibt, weil sie von der Fragestellung her falsch sind. Die Frage nach dem eigenen Sinn oder nach der eigenen Beschaffenheit hat nur dort einen Zweck, wo diese selber noch zur Debatte stand, also am Ende des feudalen Zeitalters oder möglicherweise noch unter den Bedingungen der sklaventreiberischen Ausbeutung in den Fabriken. Aber heute, wo dem Individuum kaum mehr Dimensionen oder Eigenschaften abgesprochen werden, entfallen solche Problemstellungen völlig. Wenn man es sich genau ankuckt, hat sich die Lage überhaupt derart verschoben, dass man dem Individuum eher zu viele Eigenschaften zuordnen möchte, eigentlich immer mehr, je länger die Wissenschaft in der Form von allerlei StudentInnen und AbsolventInnen von Sozialwissenschaften, aber auch beim entsprechenden Rattenschwanz an Parawissenschaften sich mit der Gesellschaft und eben dem Individuum herum prügeln. So betrachtet, ist die Astrologie, also die Lehre von den Sternzeichen, schon bald einmal eine viel präzisere Wissenschaft als die Soziologie, da sie ihren Unfug nämlich nach relativ klar umrissenen Spielregeln betreibt und vor allem ihr Spielfeld sehr eng abgezirkelt hält und nicht dauernd neue Sterne dazu erfindet. Es bleibt ja nur zu hoffen, dass die Astrologen nicht plötzlich Wind bekommen von den Aktivitäten der Astronominnen und ihre Aktivitäten entsprechend anpassen, zum Beispiel über die dunkle Materie, die zu 90 Prozent durch uns schwappt und natürlich auch keine Fragen beantwortet nach dem Sinn der Existenz.

Die christlichen Religionen nennen Pfingsten das Fest der Ausschüttung des heiligen Geistes als drittem Pfeiler der Dreifaltigkeit oder Dreieinigkeit Gottes. Das ist nun wirklich etwas herausfordernd; man begreift im Nachhinein, dass die katholische Kirche mehrere hundert Jahre lang die Lektüre der Bibel verboten hat. An solche Sachen muss man, mit anderen Worten, schlicht und einfach glauben. Man kanns aber auch bleiben lassen. Und soviel gibt’s nach Pfingsten aus neutraler Sicht zum Sinn des Lebens, auf Englisch: The Meaning of Life.
Werfen wir aber einen Blick auf die Realwirtschaft. Meiner Treu, vor Pfingsten sind die Rohölfutures auf über 125 US-Dollar pro Fass geklettert. Dies hat sehr viel mit der Realwirtschaft zu tun, denn praktisch sämtliche Güter der modernen Warenwirtschaft hängen auf die eine oder andere Art mit dem Erdöl zusammen bis hin zum Bier bzw. den Aludosen, die mit Strom aus thermischen Kraftwerken erzeugt werden. Ich bin nicht der erste und werde nicht der letzte sein, der darauf hinweist, dass unsere Gesellschaft innerhalb von 200 Jahren alles an Erdölvorräten wegputzt, das die Erde innerhalb von ein paar Millionen Jahren zusammengepresst hat. Das könnte einen ebenfalls zu einer verzweifelten Sinnfrage verleiten, wenn da nicht die recht sichere Überzeugung wäre, dass der aktuelle Stand der Wissenschaften es demnächst mal erlauben müsste, einen schönen Teil der notwendigen Produkte auch aus anderen Ausgangsstoffen herzustellen. Silizium beispielsweise ist ein in der Natur überreichlich vorkommender Rohstoff, der für die Stromerzeugung verwendet werden kann. Davon abgesehen bin ich ja nicht Materialwissenschaftler und Forscher, aber Zuversicht haben kann ich dennoch. Was ich immer noch nicht begreife, ist, wie es die Menschheit geschafft hat, das Ziel der allgemeinen Mobilität auf die möglichst Energie verschleundernste Art, nämlich mit dem individualisierten Privatverkehr anstelle mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Aber wenn der Erdölpreis weiter so steigt, dürfte sich die Lage auch hier rasch einmal ändern. Und insofern muss man ja den Kapitalismus einfach vorbehaltlos loben: Wenn die Güter einmal knapp werden, dann steigt ihr Preis so lange, bis sich eine Alternative anbietet. Genau vor dieser Phase scheinen wir jetzt zu stecken, beziehungsweise: Wir stecken mit Sicherheit vor dieser Phase, aber es ist möglich, dass aus x Gründen und noch ein paar anderen der Erdölpreis doch wieder auf 100 Dollar pro Fass zurückgeht. Längerfristig aber steigt er stetig weiter, und das muss zwangsläufig eine tief greifende Reorganisation der gesamten Produktionsgrundlagen auslösen. Solche Reaktionen gehen in der Regel nicht völlig geräuschlos über die Bühne. Mächtige Interessen, riesige Gewinne sind damit verbunden, wie die jüngste Geschichte der Vereinigten Staaten mit ihrem Erdölhampelmann George W. Bush und dem Erdöl-Dienstleister Dick Cheney und dem Überfall auf den Irak gezeigt hat. Aber bei aller aggressiven oder imperialen Politik lassen sich damit die Erdölvorräte nicht strecken. Dementsprechend tut die Gesellschaft gut daran, sich jetzt endlich auf eine Zukunft einzustellen, die nicht mehr ausschließlich auf dem Petrol beruht. Das Ende des Automobilismus, geschätzte Hörerinnen und Hörer, darauf gilt es sich einzustellen. Und sollte es einem Land wie z.B. Deutschland beifallen, weiterhin auf die Automobilindustrie als Leitindustrie zu setzen, dann wäre dies mittelfristig zweifelsfrei ein Auswanderungsgrund. Aber Achtung: Die Schweiz hat keine Rohölvorkommen. Wenn Ihr also auswandert, dann bitte nach Norwegen. Zu uns könnt Ihr dann in die Ferien kommen.

Albert Jörimann





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14.05.2008

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