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Aus neutraler Sicht von Albert Joerimann "Aufgedröselt"

[25.Kalenderwoche] Manchmal hat man den Eindruck, dass sich die Welt in immer absurdere Einzelstränge aufdröselt. Wahrscheinlich täuscht dieser Eindruck insofern, als die Welt insgesamt sowieso und immer viel zu groß ist, als dass ...

... ein einziges Hirn den Planeten in seiner ganzen Vielfalt erfassen und halbwegs geordnet verstehen könnte, aber schließlich muss man sich aus technischen Gründen an eine Fiktion von Ordnung halten, und die geht manchmal schon etwas stärker verloren als üblich. Dies ist der Fall mit den PalästinenserInnen im Gazastreifen. Nach meinen Begriffen sind die von allen guten Geistern verlassen. Offenbar sorgen die drei Einflusspole Sunniten, Schiiten und Al Kaida nicht nur im Irak für wahre Orgien an selbst- und brudermörderischen Anschlägen. Als ob die nicht genug hätten mit dem Management ihrer Feindschaft gegen Israel. Offenbar stammen die aktuellen Fraktionskämpfe ja gerade aus dem Zwist darüber, wie weit man mit Israel überhaupt handeln und verhandeln könne. Überhaupt nicht, meinen die einen und schießen eine Rakete. Na, ein ganz klein wenig, meint die zweite Richtung und schießt ihrerseits eine Rakete. Vielleicht etwas mehr, sagt die dritte Richtung und steuert eine Rakete bei. Die vierte Richtung will mit Israel ganz und gar verhandeln und unterstreicht dies mit Raketen, Gewehrsalven und Selbstmordanschlägen. Was ist das? Was vermag eine Gesellschaft derart furchtbar innerlich zu zerreißen? Die Frage bleibt offen, und ich bin froh, dass ichs nicht begreifen muss, ebenso wenig wie die Tatsache, dass Israel jetzt plötzlich gegenüber dem Libanon und sogar Syrien verhandlungsbereit ist. Bei einer derartigen kollektiven Schizophrenie ist man bald einmal geneigt, den Mauerbau der Israeli und die anhaltende Landnahme durch die Siedlerbewegung als unbedeutende Nebenerscheinungen aufzufassen, obwohl sich hier das Ausgangsproblem wohl am deutlichsten zeigt. Aber die ganze Angelegenheit hat sich unterdessen schon so weit von ihrem Ausgangspunkt entfernt, dass man nur noch mit offenem Maul zugucken kann. Was machen die da? Sind das am Schluss alles Jugoslawen?

Bei solchen Entwicklungen hat man fast ein wenig Verständnis für die Französinnen und Franzosen, dass sie ihrem neuen jung-dynamischen Präsidenten Sarkozy zunächst halt mal Glauben schenken, nachdem sie ihn jetzt gewählt haben. Eins steht fest: Schlimmer als Chirac wird ers nicht machen, und wenn er sein bürgerliches Kabinett auch mit sozialistischen, ach, was rede ich, mit Mitgliedern oder ehemaligen Mitgliedern des Parti Socialiste bestückt, die so wenig sozialistisch sind wie er selber, aber das ist eh ein anderes Kapitel; wenn er also sozusagen eine Regierung der nationalen Mitte oder sogar eine Technokratenregierung einsetzt, dann muss das zunächst nicht einmal übel sein. Dass bei dieser Wahlrunde die Sozialisten nicht besonders gut ausgesehen haben und die 7308 trotzkistischen Splittergrüppchen insgesamt nur Fragmente von Wählerstimmenanteilen erhielten, ist nicht besonders erstaunlich und auch nicht Angst erregend oder gar Vertrauen einflößend; jetzt muss man wirklich mal abwarten, ob Sarko seine Versprechen einhalten kann, wobei man da lange warten kann, denn eigentlich hat er ja gar nichts versprochen, indem er eben alles versprochen hat, auch das bewährt sich immer wieder. Er wurde im letzten halben Jahr einfach immer stärker zum Symbol für eine Öffnung, für das Aufbrechen verkrusteter Strukturen, ohne dass er dafür eben ein Programm oder auch nur Ansätze dazu vorgegeben hätte. Und so wartet die Weltgeschichte mit einiger Spannung darauf, ob nun tatsächlich wieder einzelne dynamische Figuren als echte Treiber wirksam werden anstelle der strukturellen Gegebenheiten, mit denen wir uns doch als Gäste im Theater der Demokratie unterdessen mehr oder weniger abgefunden haben, mindestens bis zur nächsten Revolution in ein paar Jahren oder Jahrzehnten.

Ganz und gar nicht um Ordnung jenseits dessen, was halt eben ist, bemüht man sich offenbar in Indien. Der letzte Ordnungsruf hieß dort vor Jahren Kampf gegen die Kastenprivilegien, und dies wurde in gewissen Bereichen der Gesellschaft derart konsequent durchgeführt, dass heute bereits gewisse Kasten, nämlich zum Beispiel die Gujjar – eine gut gestellte Bauernkaste – dafür auf die Straße gehen, dass sie in der Kastenrangliste nach unten geschoben werden, weil sie dann einen besseren Zugang zu Quotenplätzen haben, zum Beispiel bei Arbeitsplätzen beim Staat oder in Großunternehmen, aber auch zu Bildungsplätzen in den Universitäten. Da haben sie aber schlechte Karten, denn die Meenas als dominierende Dalit-Kaste in Rajasthan will sich ihren Aussätzigenstatus nicht von den Gujjars streitig machen lassen. Insgesamt habe ich dazu einen Witz gelesen darüber, wie die Mannschaft einer bemannten indischen Mondflugmission aussehen würde: Sie wäre zusammengesetzt aus 4 Unberührbaren, aus 4 Vertretern der unteren Kasten, aus einem Brahmanen und aus 2 Astronauten.

Immerhin ist die indische Gesellschaft offenbar vital genug, um trotz ihrem Gewirr an Kasten- und Klassengegensätzen zu prosperieren, wenn auch ziemlich uneinheitlich, aber doch immerhin, während die beiden Nachbarländer Bangla Desh und Pakistan zwar deutlich einheitlicher, aber eben auch einheitlich ärmer geblieben sind. Ich kenne die geschichtliche Entwicklung bis zur Aufteilung des indischen Subkontinents in die beiden moslemischen West- und Ostpakistan, welch letzteres heute eben Bangla Desh heißt, und in das hinduistische Indien zu wenig; zudem hat Pakistan der Küste entlang ebenfalls sehr gut prosperierende Wirtschaftsgürtel, einmal abgesehen vom Problem mit den selber aufgebauten Taliban-Milizen im Nordwesten; aber insgesamt gilt Indien doch als nicht nur größer, sondern auch in viel besserer Fahrt befindlich als Pakistan, während Bangla Desch nach wie vor nicht viel mehr als Sorgenfalten und Kopfschütteln hervorruft.

Dafür haben die Inder heilige Kühe, die man nicht schlachten darf, und dementsprechend wird Indien eine Lücke nicht füllen können, die sich in der Schweiz aufgetan hat. Diese Lücke befindet sich mitten im Kernel, im innersten Kern der Schweiz. Der innerste Kern der Schweiz ist durchaus nicht der Käse und schon gar nicht die Schokolade, sondern er ist eine Wurst, und zwar eine vom Kaliber 32-34 Millimeter, und diese Wurst heißt Cervelat. Sie ist nicht besonders aromatisch; die Unterschiede liegen im Nanometerbereich. Man kann sie kalt essen mit Senf, was den Senf so richtig hervortreten lässt; man kann sie aber, und das begründet den Nationalmythos, am offenen Feuer auf einen Spieß stecken und braten. Vorn und hinten eingeschnitten, bis sich die Enden je zu einem Kreuz auswölben, und da haben wir das nationale Symbol in voller Größe. Übrigens sind die Cervelats praktisch das einzige, neben vielleicht noch dem Fleischkäse, den man in Bayern glaub ich Leberkas nennt, und den Bratwürsten, welche mit den hervorragenden Thüringer Bratwürsten nur sehr wenig gemein haben, was der Italiener an der Schweizer Küche akzeptiert. Die Cervelat ist eine Wurst, welche, wie der Name schon sagt, aus Innereien hergestellt wird; Cervelat kommt nämlich mit letzter Sicherheit von Cervix oder Cerveau oder Cervello, also vom Hirn. Es ist eine Hirnwurst, und das erklärt, weshalb die Schweiz so intelligent ist. Esst Cervelats, dear friends! – Aber eben hat sich eine Lücke aufgetan, äquivalent in etwa dem Ozonloch, indem nämlich die EU ein Importverbot für Rinderdärme aus Brasilien erlassen hat, weil Brasilien seine Rinder angeblich nicht gleich scharf und genau auf Rinderwahnsinn kontrolliert wie die EU selber. Und was die EU tut, das macht die Schweiz ungefragt sofort nach, wenn sie es nicht schon vorauseilend vorher erledigt hat. Also gibt es jetzt keine Rinderdärme mehr aus Brasilien, und, Sakrament, wo soll man denn die Cervelatmasse hin stopfen, wenn es keine Rinderdärme mehr gibt? Plastikdärme gehen nicht, und die Därme aus Argentinien sind unbrauchbar. Es besteht aber Hoffnung, indem die Rinder in Paraguay grundsätzlich Cervelatwursthaut-tauglich wären; ich bin aber nicht sicher, ob die entsprechenden Einfuhrgenehmigungen von der EU und für die Schweiz bereits vorliegen.

Und wenn wir schon bei des Schweizers Kern sind: In letzter Zeit hat sich die betulich-beschauliche Schweizer Kapitalistengemeinde etwas aufgeregt, indem verschiedene Unternehmen übernommen worden sind – voll und ganz durch ausländische Investoren, und zwar a) durch Österreicher in der Form von Herrn Ronnie Pecik und b) durch Russen in der Form von Viktor Vekselberg, wenn Euch diese Namen etwas sagen sollten – mir sagten sie jedenfalls vorher nichts. Schlimmer wäre wohl nur noch ein serbischer Anleger oder gar die Mafia gewesen, wobei die Mafia wohl schlau genug ist, sich in der Schweiz nicht aktiv zu betätigen; irgendwo muss man ja, geldpolitisch gesehen, auch seine Ruhe haben, und man kann davon ausgehen, dass die Mafia wie alle anderen kommerziellen Organisationen dafür neben den Karibik-Steuerparadiesen auch die Schweiz benützt. Aber hier geht es eben um offizielle und legale Übernahmen, welche unsere Elite und bald auch die Volksseele aufgeschreckt haben. Ganz besonders pikant war dabei der Fall der Zürcher Kantonalbank, was eines der mächtigsten Geldinstitute in der Schweiz ist und sich aber im Besitz des Kantons Zürich befindet. Sie ist seit Urzeiten die Hausbank des Zürcher bzw. Winterthurer Sulzer-Konzerns. Jetzt hat sie klammheimlich Aktien dieser Unternehmung gekauft und diese ohne das Wissen von Sulzer eben dem Russen Vekselberg angedient. Das ist nun für ein Institut, das dauernd Gegenstand von Privatisierungsdebatten ist und gleichzeitig sämtliche Schwüre über ethisches und umweltbewusstes Bankenverhalten drei- und vierfach geschworen hat, etwas peinlich. Vielleicht ist es sogar so peinlich, dass sie demnächst tatsächlich aus der Staatskontrolle entlassen wird. Das wiederum würde einen relativ interessanten neuen Player auf den Markt schicken; denn als staatliche Bank kann die Zürcher Kantonalbank natürlich mit ihren Pfunden nur in beschränktem Ausmaß wuchern. Wieweit sie dann ihren guten Ruf noch weiter verspielen will, liegt dann natürlich voll und ganz im Belieben des neuen Managements. Ein Teil davon musste nach dem Sulzer-Deal jedenfalls über die Klinge springen.



Albert Jörimann





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20.06.2007

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