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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Valloton"

[46.Kalenderwoche] Am Wochenende haben wir mal wieder die guten Seiten aus dem Schlechten herausgekitzelt, nämlich besuchten wir wegen des katastrophalen Wetters, zu dem sich noch der ebenso ...

... katastrophale Auftakt zum Karneval gesellte (am 11. November), endlich jene Ausstellung, die schon lange auf der Traktandenliste stand. Ihr werdet den Typen nicht kennen, es ist so ein Westschweizer mit dem Namen Félix Valloton, der vor rund 100 Jahren gepinselt hat und der ungefähr gleich interessant ist wie eine große Zahl an KünstlerInnen in den dreißig oder vierzig Jahren zwischen 1890 und 1930, denn in dieser Zeit kam kaum jemand um die riesigen Umwälzungen in der malerischen Darstellung der Welt herum. Ich frage mich manchmal, welchen Einfluss bei dieser Revolution die Fotografie hatte; mindestens zum Teil haben die Fritzen recht früh nach fotografischen Vorlagen zu arbeiten begonnen, also schon in den 1860-er Jahren, wobei sich daraus zunächst noch keine Umwälzung ergab; da wurden einfach auf vorgepinselte Torsen noch die fotografierten Köpfe nachgepinselt, aber solche Verfahren waren ja schon früher bekannt, zum Beispiel bei Rembrandt, oder dann ist mir dies auch aus dem alten Rom geläufig, dieses alte Rom, dessen Weltwirtschaft ja in einem Ausmaß arbeitsteilig und industriell war, wie es bis im 20. Jahrhundert nicht mehr erreicht wurde. Bei den alten Römern gings aber nicht um Bilder, sondern um Statuen, wo die Männer- und Frauenkörper industriell vorgefertigt wurden und am Schluss mit den gefragten Köpfen versehen, von Göttinnen und Politikern usw. usf. Die Entbindung der Malerei von ihrem rein darstellerisch/dokumentarischen Auftrag muss etwas später erfolgt sein, aber vielleicht war das tatsächlich schon vor der damaligen Jahrhundertwende, wie dies u.a. die gewaltige Verbreitung von Postkarten mit Fotomotiven belegen könnte. Ob dies nun aber der Auslöser war oder nicht, jedenfalls waren die Umwälzungen in der bildlichen Darstellung so gewaltig, dass einen auch heute noch das Ohren- oder Augensausen überkommt, wenn man diese Epoche anhand einer Ausstellung Revue passieren lässt, und so wars denn auch wieder am Wochenende mit dem Kollega Valloton, dessen Hauptmerkmal ich eine sehr flächige, fast popartige Farbgebung einerseits und eine sehr ausgeprägte Körperlichkeit anderseits nennen möchte. Besonders stark in Erinnerung ist mir ein Helgen, der aber nicht in dieser Ausstellung hing, den er aber mehr als einmal gemalt hat, ein Motiv mit zwei Frauen, die eine auf einer Chasielongue und die andere daneben stehend, die sich beide anschauen, und der Blick zwischen den beiden Damen ist so sichtbar wie ein dicker schwarzer Strich auf dem Bild. Ein sehr sinnlicher Maler, in dem man Elemente von George Grosz oder auch von Balthus sieht, wenn man etwas konkret hinkuckt, und dazu kommt jede Menge Witz und zum Teil reiner Jux, wobei ich mir hier nicht immer sicher bin, ob der Jux bei mir entsteht oder wirklich vom Maler gewollt war. Auf letzteres schließe ich allerdings stark nur schon wegen der Tatsache, dass eines der Prachtswerke in der Ausstellung nichts anderes war als ein Vollporträt eines Hinterns. Nicht mehr und nicht weniger.

Diese Kunstepoche zieht mich mehr oder weniger magisch an; ich sehe hier eigentlich auch fast alles angelegt, was das kommende Jahrhundert geprägt hat, und dementsprechend trist frage ich mich hin und wieder, ob vielleicht auch in der Gegenwart wieder mal mit ein paar Kunstwerken zu rechnen ist, welche nicht entweder völlig dilettantisch oder sonst nur Nachahmungen sind. Und dann pflegt mich jeweils meine Frau Freundin zu trösten mit dem Verweis auf das eine oder andere gute oder originelle Stück, das es eben doch immer wieder gibt. Insonderheit erinnerten wir uns an eine Ausstellung zum Thema Sintflut, die derart außerordentlich nichts zum Thema beibrachte, dass sie als Ausstellung schon fast als Kunstwerk gewesen wäre, ein negatives nämlich, wenn da nicht dieses 20-minütigen Video von Bill Viola gewesen wäre, projiziert in einer gewaltigen Auflösung und in Zeitlupe auf eine Riesenwand, das heißt, das Medium Video wurde eben genau so eingesetzt wie eine bewegte Malerei, und die Sintflut wurde dargestellt durch eine Gruppe von Menschen, welche von links und rechts von zwei massiven Feuerwehrschläuchen angespritzt wurden – das kann man also durchaus ankucken, da braucht man sich nicht zu schämen. Und so wird’s wohl noch den einen oder anderen Findling geben. Bloß eine allgemeine Tendenz, wo alles drunter und drüber geht und jeder Tag eine Fülle an noch nie Dagewesenem bringt, mit sowas können wir wohl in nächster Zeit nicht rechnen. Aber vielleicht täusche ich mich ja auch hierin, und niemand wäre froher darüber als ich selber.

Sprechen wir von was anderem. Als ich gestern eine Foto sah von Eurer Bundeskanzlerin, der so genannten Merkelin, wie sie von Kollege Busch im Vierrad-Pickup herumgefahren wurde, da kam mir in den Sinn, dass möglicherweise mit den virtuellen Welten doch demnächst eine Optimierung im politischen Bereich erreicht wird. Das Problem, das ich hier konkret meine, ist jenes, dass man oft unglaublich lange hat, bis man eine Person einer Partei oder einem Programm zuordnet, also all die PPP-Probleme, und dann, wenn diese Person dann endlich regierungsreif wird, dann ist sie schon bald wieder amtsmüde oder sonstwie verbraucht, also lauter Dinge, welche für eine kontinuierliche Entwicklung der Gesellschaft eigentlich nicht besonders förderlich sind. Dementsprechend könnte man doch eine ideale virtuelle Person entwickeln, welche die Forderungen und Versprechen der WählerInnenbasis ganz simpel aufnehmen und verkörpern würde. Man könnte sich sogar zwei oder drei unterschiedliche Pole leisten, die Demokratie wäre mit anderen Worten auch auf Simulationsebene simulierbar und nicht nur in der Wirklichkeit. Man müsste dabei ein bisschen aufpassen, dass die Reaktionszeiten der virtuellen Figur auf Veränderungen der Stimmungslage in der Bevölkerung nicht allzu rasch wären, denn das gäbe ordentliche Ausschläge, welche für die Politik nicht praktizierbar wären; aber ansonsten gehe ich davon aus, dass ein virtueller Politiker oder eine virtuelle Politikerin große Vorzüge hätte gegenüber den realen Figuren. Stabilität, Sicherheit, Zuverläßigkeit und gleichzeitig zeitlose Flexibilität – eine solche Leistung konnte in der Vergangenheit eigentlich nur der unsinkbare Helmuth Kohl an den Tag legen, alle anderen sind schnell wieder untergegangen. Dagegen so eine virtuelle Kanzlerin wäre ja praktisch 1000 Jahre lang haltbar und könnte ihre Frisur immer wieder den neuesten Gegebenheiten anpassen. Mehr noch: Die virtuelle Kanzlerin hätte ein wünschbares Outfit. Für die Punks wäre sie die Kanzlerin der Punks mit Sicherheitsnadeln in den Wangen und Marilyn-Manson-Augenhöhlen, für die Großväter wäre sie die Großmutter, für die Bosse würde sie Nadelstreifenanzüge tragen, ganz nach Belieben – das wäre schön, und die Politik wäre eben ungefähr eine Balance der mittelfristigen Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft. Unter uns gesagt kenne ich kaum einen Bereich, wo sich die reale Welt derart gut durch eine virtuelle ersetzen lassen könnte wie die Politik. Und in einer großen Koalition würde der Name angepasst; gegenwärtig würde das dann zum Beispiel heißen Frau Kurt Merkelwelle. Oder aber vollends in der Europäischen Union: Die Eurokanzlerin würde in Frankreich ein französisches Gesicht haben, in Deutschland ein deutsches, in Rumänien ein rumänisches, in Polen ein polnisches, während sich ja England vermutlich wieder mal abschotten wird, wie der Name schon völlig richtig sagt: Abschotten. Gordon Brown ist nämlich wirklich ein Schotte.

Aber genug der Kalauer. Letzthin habe ich auf dem Internet eine Seite mit chinesischen Sprichwörtern gefunden, und die haben mir insgesamt so gut gefallen, dass ich jetzt ein paar davon los werden möchte. Das erste heißt zum Beispiel: Hinter jedem fähigen Mann stecken weitere fähige Männer. Das finde ich wirklich bemerkenswert im Vergleich zum bei uns vorherrschenden Cherchez la Femme, also hinter jedem fähigen Mann steckt eine Frau. Es ist der Unterschied zwischen einer vernünftigen Einsicht und schierer Missgunst. Oder dann ein weiteres: Von all den 36 Alternativen ist Wegrennen immer die beste. Außerordentlich weise, ebenso wie der andere Spruch: Wer sich mit seinen Feinden nicht verständigen kann, wird von ihnen kontrolliert. Das gehört schon fast in die Abteilung Clausius. Weiter: Es ist besser, eine Kerze anzuzünden als über die Dunkelheit zu fluchen. Lieber Gott, wie wahr. Oder: Wer mit sich selber nicht zufrieden ist, wird wachsen; wer sich seiner Korrektheit nicht sicher ist, wird viele Dinge lernen. Oder auch: Tiefe Zweifel, tiefe Erkenntnis; wenig Zweifel, wenig Erkenntnis. Oder ganz schön und Kulturen übergreifend: An seine Träume zu glauben heißt, das Leben im Schlaf zu verbringen. Etwas lapidar die Feststellung: Der Himmel gibt dir eine Seele, die Erde ein Grab. Bekannt ist der Dauerbrenner: Gib einem Mann einen Fisch, und du ernährst ihn für einen Tag. Bring ihm das Fischen bei, und er ernährt sich damit ein Leben lang. Ein eher pädagogischer und leicht rätselhafter Hinweis: Eltern, die sich vor lautem Auftreten scheuen, haben oft Kinder, die auf Zehenspitzen gehen. Weiter: Ein großes Vermögen beruht auf Glück, ein kleines auf Fleiß. Und: Gewohnheiten sind zunächst wie Spinnweben und am Schluss wie Stricke. Und dann auch Western-Sprüche: Wer nach Rache sinnt, muss zwei Gräber graben. Oder gar ganz und gar wunderbar: Wenn wir unsere Richtung nicht ändern, kommen wir am Schluss dorthin, wo wir hinwollten. Weniger wunderbar: Was ich höre, vergesse ich; was ich sehe, bleibt hängen; was ich tue, verstehe ich. Weiter: Wer Fragen stellt, ist für 5 Minuten der Dumme. Wer keine Frageen stellt, bleibt immer ein Dummkopf. Und für den kleinen Hunger: Wer darauf wartet, dass ihm die gebratenen Gänse in den Mund fliegen, muss sehr, sehr lange warten.

Na, ist er nicht wunderbar, unser Chinese? Bei uns wären das alles schon längstens Bibelsprüche. Vielleicht gibt’s mal eine Kulturen übergreifende Anthologie, an der sich dann all die virtuellen PolitikerInnen halten müssen.



Albert Jörimann





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13.11.2007

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