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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Tunesien"

[48.Kalenderwoche] Ich habe hier schon verschiedentlich von unserem libanesischen Chefkoch erzählt; leider ist er vor einem halben Jahr ausgezogen, aber ganz abgebrochen ist der Kontakt noch nicht, sodass ich nachtragen kann, dass ...

... die Familie im Juli geheiratet hat, und zwar in Tunesien. Konkret betraf es den ältesten Sohn, der aber nicht der Sohn von Mustafa ist, sondern einer Zwischenehe von Frau Moser mit einem Schweizer entspringt, aber das gleicht sich aus, da Mustafa ja in dieser Zeit im Libanon eine eigene Familie gründete, wo er unterdessen ebenfalls zwei Söhne im heiratsfähigen Alter hat, die unbedingt in die Schweiz kommen möchten, wogegen aber die schweizerischen Einwanderungsbehörden bisher erfolgreich Einwände erhoben haben. Wie auch immer: Es heiratete also der älteste Sohn von Frau Moser-Choukeir in Tunesien, was eine Woche dauerte und u.a. zur Voraussetzung hatte, dass dieser Sohn zum Islam übertrat, was weiter kein Problem war. Anschliessend erfolgte die Übersiedelung der neu erworbenen Ehefrau nach Zürich, was insofern auch keine Grundsatzfragen aufwarf, als die Frau bereits hin und wieder in Hamburg bei einer Cousine gewesen war.

Aber das dauerhafte Leben in Zürich unterscheidet sich doch von einem Besuch in Hamburg. Die neue Ehefrau sucht eine Arbeit, was sehr verständlich ist; eigenartigerweise findet sie aber nicht auf Anhieb etwas, was ihr passt, denn sie hat eine höhere Ausbildung absolviert, sodass die Stammbereiche für ausländische Neuankömmlinge, also im Restaurant, an der Kasse in einem Supermarkt oder etwa als Aufräumefrau zunächst nicht in Frage kommen. Ich selber hatte zunächst angenommen, dass die verschiedenen arabischen Banken in der Schweiz eigentlich froh seien um qualifizierte Arbeitskräfte, welche Arabisch und auch noch eine internationale Sprache, hier nämlich Französisch, beherrschen. So scheint es aber nicht auf Anhieb zu sein, vielleicht auch, weil bisher die richtigen Arbeitsbewilligungen noch nicht vorliegen. Dies als erstes. Dann zeigen sich gewisse Deltas, also Unterschiede in der Wahrnehmung. So gab es zum Beispiel eine erste Hospitalisierung wegen der Entfernung der Mandeln. Die Frau Schwiegertochter war blank entsetzt, dass sie nicht in einem privaten Spitalzimmer untergebracht wurde. Wenn man sich vergegenwärtigt, welche Verhältnisse in Nordafrika und zum Teil bereits im Süden Europas herrschen, ist das zwar verständlich; aber für durchschnittliche Schweizer Einwohner tönts etwas eigenartig. Ihr Ehemann ist nämlich kein Bankdirektor, sondern einfacher Maurergeselle mit einem Monatslohn von etwa 5000 Schweizer Franken brutto. Und in diesem Bereich driften offenbar die Vorstellungen zwischen Ehemann und Ehefrau immer weiter auseinander, sodass die junge Frau bereits von Scheidung spricht und sagt, in Tunesien würden die Frauen bei solchen Scheidungen alle Vermögenswerte des Ehemanns zugesprochen erhalten. Ich kenne niemanden, der ihr das abnimmt; vielmehr handelt es sich offensichtlich um einen ersten Positionskrieg in dieser Zweierbeziehung, bei dem abgesteckt wird, wer welche Macht erhält; Mustafa Choukeir spricht von der Frage, wer die Hosen anhat und wer den Rock. Diese Dynamik ist nicht einfach einzuschätzen. Fest steht, dass der gute Sohn absichtlich eine Araberin geheiratet hat, da er davon ausging, dass die Araberin als solche nicht so zickig tut wie die Europäerin und insonderheit die emanzipierten Frauen in Zürich. Da befindet er sich nun in einer echten Notlage, in der ihn Mustafa und der Rest der Familie schlecht und recht unterstützen, aber dort, wo diese Verstärkung versagt, nämlich innerhalb der eigenen Wohnung, dürfte seine Stellung sofort etwas schwächer aussehen.

Das dünkt mich nun eine interessante Variante, welche sich deutlich unterscheidet von den anderen geläufigen Importehen, die der Wissenschaftler unterteilt in thailändische, südamerikanische und schwarzafrikanische Untergruppen. Die Damen aus dem Mittelmeerraum können mit ihren Ansprüchen offensichtlich einen durchschnittlichen Proletarier auf eine echte Probe stellen, und diese Information wollte ich nun eben auch nach Erfurt weiterleiten. Sachdienliche Angaben zum Männermaterial habe ich leider kaum; hier bereitet mir nur schon der Chefkoch Mustafa mit seinen regelmäßigen und unangemeldeten Abstechern in den Libanon, bei denen jeweils ein wahres Feuerwerk an Lügen und Ausreden gezündet wird, unüberwindliche Schwierigkeiten. Aber Mustafa ist auch unter den Arabern eine Ausnahme, wie dies unter anderem auch seine Ehefrau versichert, die ja die Leute unterdessen etwas genauer kennt und einschätzen kann.

Daneben beginnen sich in Deutschland die Großparteien für den Wahlkampf einzugraben, das heißt, eigentlich muss sich nur die SPD eingraben, denn die CDU erfreut sich weiterhin des Vorteils einer echten Volkspartei ohne weitere Programmbekenntnisse als zum Istzustand. Dagegen besinnt sich die SPD, wie nicht anders zu erwarten war, auf ihre linken Ursprünge zurück und will ganz gleich wie die Grünen das Intermezzo mit dem Schrödergerd und seinem Fischerjockel nach Möglichkeit verwedeln, wobei man genau spürt, dass die beiden ehemaligen Koalitionspartner auf jenen Hauch an Realpolitik nicht ganz verzichten möchten, mit dem sie vor allem ihre Hartz-IV-Reformen durchgepaukt haben. Derart große und staatstragende Parteien müssen im Interesse des Landes und des Staatshaushaltes auch mal in der Lage sein, ihre eigenen programmatischen Interessen zurücktreten zu lassen. Das macht sich als Gewürznote ganz gut, wenn man daneben eben die alten Heuler von der sozialen Verantwortung wieder in den Vordergrund schieben kann. Eher weniger Informationen habe ich bisher gesehen oder gelesen zu einer echten und bedingungslosen modernen Grundsicherung; hier gabs bloß bei den Grünen einen Antrag auf ein Grundeinkommen von 420 Euro pro Person und Monat, also noch tiefer als der Vorschlag eures Ministerpräsidenten Althaus, wobei vielleicht bei Addierung sämtlicher Zusatzbestimmungen dann doch eine etwas höhere Summe herausgekommen wäre – aber was soll das denn, ein bedingungsloses Grundeinkommen mit variablen und bedingten Einkommensteilen auszurüsten? – Aber es tut nichts zur Sache, da die Grünen die Forderung eh gleich wieder in den Boden stampften. Es gibt einen uralten Schlager mit dem Titel «Che sera, sera», was sein wird, wird sein; bei den Grünen reichts unterdessen nicht mal mehr dafür, sondern nur noch zu Was ist, ist. Diese Haltung nennt der Philosoph seit bald 100 Jahren Positivismus, und sogar der Philosoph rät allen politischen Parteien davon ab, den Positivismus zur Grundlage eines politischen Programms zu machen, und wenn es nur für die Wahlen 2008 wäre. Man könnte sich gewisse Fragen stellen zur Unternehmenssteuerreform, die ich im Übrigen nicht im Detail kenne; ich weiß nur, dass sämtliche deutschen Großunternehmen Zusatzgewinne in ein- bis zweistelliger Prozenthöhe meldeten wegen dieser Unternehmenssteuerreform, und das scheint mir dann wieder etwas bekloppt, da damit ja kaum Investitionen ausgelöst werden, welche für Fortschritte in Deutschland, Europa und auf der Welt sorgen. Im Rahmen eines solchen Fortschrittes und im Zusammenhang mit der Klimadiskussion müsste sich Deutschland übrigens auch eindeutig dafür entscheiden, von seiner Fixierung auf die Automobilindustrie abzurücken. Ich beziehe mich dabei nicht nur auf den Schadstoffausstoß oder den direkten und indirekten Verbrauch an Energie und Rohstoffen, sondern ich sage gleichzeitig, dass die gewaltigen technologischen Fortschritte, welche der Automobilbau durch seine Massenproduktion ermöglichte, also die Erprobung von Materialwissenschaft und Steuerungstechnik und so weiter und so fort im täglichen Einsatz, jetzt auf anderen Ebenen erzielt werden; Forschung und Entwicklung ist nicht mehr derart vital auf den Praxistest angewiesen und betrifft im Übrigen zunehmend Bereiche, die nicht rund um den Automobilbau angeordnet sind. Das Zeitalter des Automobils ist vorbei!, und es wäre schön, dies auch einmal als politische Aussage zu hören. Aber dazu traut sich natürlich keiner, weil er damit so sehr ein industrie- und gesellschaftspolitisches Credo verletzen täte wie ein katholischer Priester, welcher gegen den Zölibat oder die Unfehlbarkeit des Papstes und die Jungferngeburt Christi wettern würde. Das ist schon klar, und auch hier gilt, dass Politik eben nichts mit Zukunft und wahrscheinlich auch nichts mit der Gegenwart zu tun hat.

Ebenso interessant ist die Ausklammerung der Europafrage aus den Positionsbezügen vor dem Wahlkampf. Ganz unbedeutend ist sowas nicht, wenn man sich vergegenwärtigt, wie zum Beispiel in Belgien die Europafrage allmählich zur Auflösung des Landes führt, ganz im Rahmen der vor Jahren hin und wieder zitierten Bewegung hin zu einem Europa der Regionen, welche die Nationalstaaten ablösen. Im Moment sieht es so aus, als müsste man sich geradezu glücklich schätzen, wenn der gute alte Nationalstaat in der EU noch Bestand hat, bevor er sich in seine regionalen Bestandteile zerdröselt; und dennoch bleibt Euch Kerneuropäern gar nichts anderes übrig, als im Laufe der Zeit einmal ein Europabewusstsein zu entwickeln, wie es der US-Amerikaner für die USA seit mehr als zweihundert Jahren hat. Aber damit ists offensichtlich nicht weit her bei Euch, und somit bietet sich beim Ausblick auf den deutschen Wahlkampf im nächsten Jahr ein ziemlich laues Bild. Könntet Ihr nicht bitte sehr endlich mal eine Bewegung auf die Beine stellen, welche auf alle defensiven Jammeriaden verzichtet und stattdessen auf die Vermutung setzt, dass in praktisch allen Menschen Restbestände an Vernunft und Optimismus vorhanden sind?



Albert Jörimann





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27.11.2007

Kommentare

  1. lieber schweizer albert, beides geht nicht, entweder bewegung oder vernunft. Apropos vernunft, von was für restbeständen redest du? die vermutung, dass es sich bei men-schen um vernunftbegabte wesen handelt ist bis heute eben eine vermutung geblie-ben, denn der beweis dafür steht immer noch aus.

    ralfthielken - 29.11.2007, 15:41