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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Kennedy"

[42.Kalenderwoche] Eines der modernen Weltwunder ist das Land Italien. Wie die es schaffen, trotz dem radikalen Chaos in fast allen Lebenslagen den Kopf einigermaßen über Wasser und ...

... ihre Stellung unter den Industrienationen zu halten, ist mit dem normalen Verstand nicht zu erklären. Das Rentenchaos stellt einen Teil dieser Problemlage dar; in Italien ist jeglicher Ansatz zur Einführung eines Grundeinkommens zum Vornherein chancenlos, da dafür ja die bestehenden Systeme zusammengeführt werden müssten. So etwas muss man einfach vergessen. Und dennoch sind Entwicklungen möglich. Die Regierung Prodi hat kürzlich das Rentenalter, ich glaube, auf 59 Jahre erhöht, ohne dass es zum Sturz des Kabinetts kam, obwohl dieser Sturz natürlich zum unterdessen etwa siebenhundertsten Mal in 18 Monaten prognostiziert worden war – auch das ist ein Teil des italienischen Wunders, wie sich dieser ruhige und ziemlich trockene Professor ohne eigene Hausmacht an der Spitze der Regierung hält als vollkommener Kontrast zum Hanswurst, Lügner und Betrüger, Mafioso, Fernsehkettenimperator und schäumendem Hofkläffhund Silvio Berlusconi – man darf dieses Land wirklich nicht mit Maßstäben messen, die wir sonstwo anlegen. Eine weitere Besonderheit gab es am letzten Wochenende mit der Quasi-Volkswahl des neuen Vorsitzenden der neuen Demokratischen Partei; solche Veräppelungen demokratischer Mechanismen hatte man bisher eher von Berlusconi erwartet, aber immerhin hat das Riesen-Tamtam nun bis in die Appeninengipfel hinauf klar gemacht, dass sich die italienischen Kommunisten innerhalb von praktisch 15 Jahren nicht nur vom Kommunismus, sondern auch vom Sozialismus losgesagt haben. Aber da gerade ihr, geschätzte Hörerinnen und Hörer, in der ehemaligen Ostzone genau wisst, dass Sozialismus und Kommunismus als Begriffe oft mehr versprechen, als sie in der Realität taugen, werdet ihr ein gewisses Verständnis haben für die Leichtigkeit, mit der sich die halbwegs fortschrittlichen politischen Kräfte in Italien nun auf die Demokratie einigen – auch das ist in Italien ein ziemlich breites Feld, das noch genug Spielraum für Irrtümer offen lässt, den Sozialismus brauchts dafür durchaus nicht.

Also handelt es sich um Walter Veltroni, der bisher für seine Regierungstätigkeit in Rom gute Zensuren erhalten hat; er löste dort übrigens vor ein paar Jahren seinen vermutlichen neuen Parteivizepräsidenten Rutelli ab, den Liebling aller Schwiegermütter, wie er genannt wurde wegen seines ziemlich eitlen Auftretens. Veltroni ist offenbar ein bekennender Anhänger Kennedys, aber von Seitensprüngen mit verschiedenen Velinen oder Vestalinnen oder z.B. mit Alexandra Mussolini ist mir nichts bekannt – wie kann man da ein Kennedy-Anhänger sein? Die Deutschen kennen Kennedy vor allem wegen seines Berlin-Bekenntnisses Ich bin Ein Berliner, bekannt ist er im Weiteren wegen der Kubakrise und der Einleitung des Vietnam-Kriegs, aber ebenso geblieben ist sein Ausspruch: Ihr sollt nicht fragen, was der Staat für mich tun kann – fragt lieber, was Ihr für den Staat tun könnt. Das ist eine ausgezeichnete Frage in ganz Italien, und ich bin wirklich gespannt, wie Veltroni als Parteichef diese Fragestellung in ein Programm umsetzen will.

Dabei hat sie in der Tat eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Ich gehöre nicht zu den Staatsfreunden, halte ihn dennoch für notwendig und bin der Ansicht, dass ein neues Verständnis von Staat und Gesellschaft am Platze wäre. Ich wüsste dabei noch nicht mal eine überaus korrekte Definition des Staates zu geben. In Europa handelt es sich um die Nachfolger des Nationalstaates, wo auf dem definierten Territorium die Institutionen, Rechte und Pflichte der Staatsbürger eingerichtet wurden. Laut marxistischer Theorie ist der Staat das Herrschaftsinstrument der herrschenden Klasse, und zwar egal ob der Bourgeoisie oder nach der Revolution des Proletariats. Im älteren Begriff aus der französischen Revolution bildet der Staat die Gesamtheit aller Bürgerinnen und Bürger; auf diesen Begriff stützen sich heute noch einige Menschen ab, weil er u.a. auch eine republikanische Definition der StaatseinwohnerInnen beinhaltet, eben der Bürgerinnen und Bürger im Sinn der französischen Revolution: alle gleich, alle beteiligt an den Entscheiden mit gleichen Rechten und Pflichten. Der moderne Staat zeichnet sich daneben durch eine starke Tendenz zur Verselbständigung aus; er sucht immer höhere Anteile am Bruttoinlandprodukt an sich zu ziehen und zu verteilen und in diesem Zuge auch die Bürokratie aufzubauen. Die Staatsbürokratie ist ziemlich das übelste Ereignis, was dem französischen Staatsbegriff geschehen konnte, indem sie den Zugang oder den Betrieb des Staates völlig aus den Händen selbständiger Bürgerinnen und Bürger nimmt und ihn mit tausenden von Vorschriften zumüllt, über die nur noch die unerläßliche Kaste der JuristInnen den Überblick hat. Diese Tendenz möchte ich vor-italienisch nennen, denn in Italien haben auch die JuristInnen den Überblick nicht mehr. Dann gibt es noch Unterschiede in den nationalen Konzeptionen; die Deutschen machen nach wie vor einen eher gehorsamen Eindruck, wobei grundsätzlich eine mehr oder weniger murrende Zustimmung zur Notwendigkeit eines Staates in allen Ländern vorhanden ist. Die Entwicklung des europäischen Nationalstaats war in den letzten Jahren von zwei Tendenzen geprägt: Einerseits durch die Liberalisierung ehemals staatlicher Bereiche wie z.B. Telekommunikation oder die Post, zum Teil aber auch die Energieversorgung, welche offensichtlich als nicht mehr allzu kritische Bereiche eingestuft werden; damit einher gehen Bestrebungen, die staatlichen Instanzen bürgerInnenfreundlicher zu machen, was manchmal gelingt und manchmal halt nicht. Anderseits bildet die Entwicklung der Europäischen Union insofern ein Problem, als sie nicht bestehende staatliche Strukturen einfach ablöst oder aufsaugt, sondern in der Regel werden auf bestehende staatliche Strukturen zusätzliche suprastaatliche Strukturen drauf gesetzt; dieses Bordell hat vielleicht doch irgendwann mal ein Ende.

Die wirkliche Funktion und die effektive Gestalt des Staates wird nicht erklärt, sondern verwischt durch das allgemein beliebte Schauspiel mit dem Namen Politik. Früher hatten einige politische Parteien noch Prinzipien, auf die sie sich mindestens beriefen, auch wenn sie in der Praxis eine völlig gegenläufige Politik betrieben; heute hat sich sowas weit gehend erledigt. Die Politik ist der faule Zauber, der demokratische Strukturen vorspielt, welche nicht in der Substanz, sondern eben nur formell demokratisch sind. Für einen substanziell demokratischen Staat wären andere Bürgerinnen und Bürger vorausgesetzt, Menschen, welche nicht nur frei entscheiden, sondern in erster Linie auch über die effektiven Verhältnisse und Ereignisse im Staat und unter den Staaten im Bilde sind. Davon sind wir heute viel weiter entfernt als im Jahr 1789 oder 1795, weil die Informationen und Strukturen um mehrere Potenzen komplexer geworden sind.

Der Staat ist nicht deckungsgleich mit der Gesellschaft, regelt aber zentrale Bereiche des gesellschaftlichen Geschehens und die Verhältnisse mit anderen Staaten, ob bilateral oder im Rahmen der EU, ist soweit egal. Ich nenne die zentralen Instrumente oder Elemente des Staates die Institutionen, und dabei fällt mir in erster Linie ein der Rechtskörper, welcher letztlich dafür sorgt, dass man sich auf der Straße sicher und frei bewegen kann und dass Verträge eingehalten werden, auch wenn sie nur mündlich abgeschlossen werden; das Geld für den Warenverkehr, ohne dass zuwenig davon vorhanden ist oder die Inflation überschießt; Bildung ist zentral, auch wenn sich hier zunehmend Private breit machen, ebenfalls die Gesundheit und natürlich die Ordnungskräfte von Polizei und Armee, welche zum Teil auch zu den Notfallinstitutionen zählen. Die Energieversorgung ist im Kern ebenfalls eine staatliche Aufgabe, auch wenn die Privaten die Gewinne dabei in ihre Tasche wirtschaften. Aber Lieferverträge und Standortplanung für Kraftwerke usw. gehören letztlich zu den staatlichen Institutionen. Was haben wir noch? Transport, natürlich, die Straßen und die Eisenbahn; wiederum gibt es hier Mischformen mit Privaten.

All dies ist ja für eine Gesellschaft außerordentlich vital, und das höchste Interesse einer Gesellschaft müsste es sein, den Staat so effizient wie möglich einzurichten. Aber wie gesagt, vom Staatsideal der französischen Revolution befinden wir uns Lichtjahre entfernt, und die sozialistische Definition führt nirgends hin. Umgekehrt sind wir gewitzt genug, um festzustellen, dass die Fragestellung Kennedys nur von einem Repräsentanten des Staates gestellt werden kann, der einem ans Portemonnaie möchte; für den Staat braucht man nichts zu tun, der sorgt von Natur aus für sich selber. So gesehen müsste die Politik eher die Rolle des Dompteurs spielen, was sie oft auch vorgibt; bei uns heißt beispielsweise seit fünfundzwanzig Jahren der Slogan der damals mächtigsten und staatstragenden Partei «Mehr Freiheit, weniger Staat», wobei das damals gegen Umverteilungsübungen gerichtet war, konkret gegen sämtliche staatlichen Leistungen an Invalide, Kranke, allein erziehende Mütter usw. – diese Bereiche gehört natürlich tatsächlich zu den Kern-Einflusssphären des Staates, wo er auch problemlos seine Existenz rechtfertigen kann; deshalb sind soziale und somit sozialdemokratische Parteien oft derart bodenlos staatsgläubig.

Insgesamt ergibt sich damit eine mehr oder weniger kritische Distanz zum Staat, welche entweder überwunden werden kann durch eine Vervielfachung der Kompetenzen aller Staatsbürger, das heißt insbesondere durch die Einsicht in die verschiedenen Kräftefelder, welche das Treiben im Land und international bestimmen. Dazu müsste eine Bewegung entstehen rund um so etwas wie ein riesiges Datenblatt, welches eben nicht nur bei der Gegenpartei, sondern auch bei den eigenen Vertretern nachweist, welche Interessen vertreten werden, von ganz unten bis zuoberst hin. Die andere Möglichkeit besteht darin, dass man einen funktionierenden Staat soweit einfach hinnimmt, so wie man ja auch hinnimmt, dass es in Deutschland keinen Mittelmeerzugang gibt und in Italien keinen Ostseehafen. Technisch gesehen ist eine solche Haltung gar nicht abartig, denn die Perfektion der Staatsmaschinerie kommt ja nicht zuletzt aus ihrem häufigen Gebrauch. Für ziemlich hilflos halte ich dagegen nackt antistaatliche Bewegungen; sie ignorieren in der Regel einfach die Grundlagen, auf denen sie sich selber ganz selbstverständlich bewegen. Auch wenn man sich eine herrschaftsfreie Gesellschaft wünscht – die technischen Grundlagen des Zusammenlebens, eben die Institutionen, müssen schon vorhanden sein. Und solange sie nicht in allen Menschen selber sitzen, braucht es sie halt auch äußerlich.

Und wenn man dies mal anerkennt, soll man ja erst recht die Frage stellen danach, was denn letztlich wem dient in diesem schönen Land. Wie gesagt: Es wäre einfacher, wenn man mal eine solche Interessenslandkarte vorliegen hätte, die sich nicht einfach an den Polen Bourgeoisie und Proletariat orientiert.



Albert Jörimann





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19.10.2007

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