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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Mügeln"

[35.Kalenderwoche] Auch wenns einen hin und wieder ärgert: Es ist sicher ein Fortschritt, dass die moderne Gesellschaft und der moderne Staat so viel Verständnis entwickelt, dass man manchmal von einer effektiven ...

... Verständnisindustrie sprechen möchte, in der vor allem viele sonst nicht hyperaktive Personen Funktion und Bedeutung gewinnen. Vor allem eine üble Jugend schafft Breitbandverständnis, aber auch sonst ziehen wir möglichst alle Umstände herbei, um Handlungen und Verhältnisse zu begreifen, die auf Anhieb durchaus unverständlich erscheinen. Dieses breit angelegte Verstehen dient durchaus auch der Assimilierung andersartiger Erscheinungsformen in unsere eigene Welt, egal, ob individuell oder gesellschaftlich, und solche Anpassungsmechanismen sind für den Weg zu einer modernen Gesellschaft von überragender Bedeutung. Die moderne Gesellschaft selber braucht sie dann wieder nicht mehr, weil eine fortschrittliche Gesellschaft Andersartigkeit durchaus nicht zu assimilieren braucht. Ich weiß nicht, ob dieser Vergleich etwas hinkt, aber ich möchte eigentlich lieber hintereinander in Restaurants mit deutscher, französischer, italienischer, ungarischer, russischer, spanischer, vietnamesischer, indischer, japanischer und chinesischer Küche essen als immer in einem, in dem sämtliche Küchen zusammengewurschtelt sind. So etwa stelle ich mir das mit der fortgeschrittenen Gesellschaft insgesamt vor. Aber solange wir noch nicht so weit sind, wollen wir weiterhin tüchtig einander verstehen, ich gelobe es. Gar kein Verständnis hatte ich nun aber für diese eigenartige Neonazibande, welche in einem sächsischen Dorf ein paar Inder verdroschen hat, und für den Bürgermeister, für den das keinerlei rassistischen Akte waren, habe ich auch kein Verständnis, und überhaupt habe ich ganz und gar kein Verständnis, wenn 50 Menschen einfach so 3 Menschen verprügeln. Wenn es sich um Massenmörder gehandelt hätte oder um KZ-Aufseher, könnte man sich darüber noch unterhalten; aber einfach so, im Pulk, in der besoffenen Masse ein paar Leute verhauen, bloß weil sie keine Arier sind, das stellt diesen Ariern ja ein Herden- und Feigheitszeugnis aus, dass es einem ganz schwach wird um die Blase, Moment, ich muss hier mal schnell austreten –

Die einzige Frage, die sich hier stellt, ist jene, ob man direkt ein Veteranentreffen der Royal Air Force zur Bombardierung von Mügeln einladen soll oder ob es Möglichkeiten gibt, diese Sorte der persönlichen Verrohung im Kollektiv anderswie zu kurieren. Da müssen doch einfach sämtliche Grundwerte, welche diese Zivilisation im Kern zusammenhalten, über Bord gegangen sein. Die Vorstellung darüber, wie sich ein halbwegs normales Individuum benimmt. Die Vorstellung, dass man für seine Taten und Äußerungen zunächst alleine gerade zu stehen hat, was einen ja nicht daran hindern soll, etwas zu tun, im Gegenteil, aber eben bitte nicht gerade den kollektiven Rückfall ins Germanentum, die im Übrigen wohl schon etwas zivilisierter waren als der Mügeler Pöbel. Über Bord gegangen ist auch sämtliches Wissen, vom Denkvermögen gar nicht zu schweigen. Wir haben es hier mit der kategorischen Verneinung zu tun, dass es so etwas wie eine Zivilisation überhaupt gibt. Da gibts nix zu verstehen, man muss sich auch nicht besonders aufregen drüber, man muss bloß draufhauen beziehungsweise beim Draufhauen irgend eine Lösung finden, welche einen nicht selber in die Nähe dieses rechtsextremen Scheißhäufchens von Feiglingen bringt.

Boah, sind das feige Lumpen! 50 besoffene Reindeutsche schlagen 5 Inder spitalreif, was für eine Leistung. Da ist ja meine alte Oma im Altersheim eine richtige Heldin dagegen, wenn sie ihre Schnabeltasse alleine zum Munde führt. Jede Einwohnerin und jeder Einwohner, die selbständig und in Eigenverantwortung die kleinste Handlung ausführen, stehen moralisch um ganze Jahrhunderte über diesen Keinzellern. Nur schon Zeitung Lesen ist mutiger als die Ausländerklatsche im Schutz von Nacht und Kollektiv.

Versteht mich nicht falsch: Das ist kein Aufruf, um bei Tag und einzeln zu delinquieren. Ich verweise bloß auf die immer wieder erwähnte Exekution des Individuums im Rahmen des Kollektivs bei den Nazis. Hierin besteht eine echte Parallele zu den arischen Lumpen in Mügeln, und damit hat sichs dann wohl auch schon, denn eine echte Lebens- oder auch nur Überlebenschance hat der Hitler-Nazismus in der aktuellen Zeit mit Sicherheit keine; da würden effektiv die RAF-Veteranen mit Oltimer-Bombern ausreichen, um diese Horden in die Wälder zu treiben. Was Euch, geschätzte Zuhörerinnen und Zuhörer, angeht, so habt ihr insofern Pech, als ihr halt in einem Land lebt, wo die Welt genauer hinschaut; das Phänomen als solches gibt’s mit Sicherheit auch in schönen Ländern wie Großbritannien und Frankreich und durchaus nicht nur bei Neonazis. In der Schweiz gabs letzthin die Gerichtsurteile gegenüber ein Dutzend, naja, es waren halt auch wieder Rechtsextreme, welche zwei Jugendliche krankenhausreif prügelten, die von einem Ska-Konzert zurückkamen; der eine davon sitzt jetzt im Rollstuhl, und die Urteile lauteten auf 4-4einhalb Jahre Zuchthaus, heißt, die Jungs sind längstens wieder auf freien Beinen.

Was macht man mit solchen Arschlöchern? Es nützt nichts, eine eigene Schlägertruppe aufzubauen; grundsätzlich muss man solche Arbeiten der Polizei überlassen, Selbstjustiz ist keine Alternative, es sei denn, die Polizei sei selber schon derart tief mit verstrickt, dass nichts anderes übrig bleibt, aber das will ich von Deutschland nicht hoffen. Daneben müssen diese Kotz- und Pissarier, welche sich selber die Hosen bemachen, einfach als das dargestellt werden, was sie sind: Feiglinge im Quadrat, Molluskeln, kurz Neonazis. Ausgerechnet in diesem Punkte wollte der Bürgermeister von Mügeln nichts festgestellt haben, und laut einigen Aussagen hätte sogar die ganze Mügeler Bevölkerung der Treibjagd zum Teil mit Beifall zugesehen. Damit rückt die Variante Royal Air Force doch wieder etwas näher. Andere Ratschläge habe ich nicht in petto. Ein relativ wirksames Gegenmittel wäre der Einsatz einer ideologischen Waffe, welche den geistig und gesellschaftlich weniger Bemittelten eine Alternative anböte anstelle der Selbstschlachtung, der Selbsthinrichtung zugunsten eines besinnungslosen Pöbels. Solche ideologischen Waffen gibt es aber seit Jahren nicht mehr. Hin und wieder fragt man sich, ob die Moderne solche Ideologien überhaupt noch braucht. Vielleicht sind sie nur noch negativ notwendig, nämlich dann, wenn eben diese Arierrasse wieder auftaucht. Jene Leute, die ihnen nachhöselen, haben vielleicht weniger ein ideologisches Problem, als dass sie sich einfach nicht vorstellen können, wie sie in diesem Leben und in dieser Gesellschaft es zu etwas bringen könnten. Das ist eben nicht nur eine ideologische Frage, sondern ein effektives, strukturelles Problem. Wenn sogar die IT-Bereiche nach Indien ausgelagert werden, während umgekehrt sämtliche Konsumgüter aus China stammen, was soll dann ein Mensch mit relativ geringer Bildung und vielleicht nicht gerade exzellenten Familienverhältnissen für eine Zukunft haben?

Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Beschäftigungsgarantien gibt’s eh keine, und Heilsversprechungen sind heute so wenig am Platz wie immer. Aber wenn man sich die Aufgabe stellt, sagen wir mal die einkommensschwächsten 20% der Bevölkerung, das unterste Quintil, einfach besser zu integrieren, noch vor allen Fragen um Minimallöhne, Hartz IV und Existenzminimum, in erster Linie durch eine angemessene Wohnbaupolitik mit durchmischten Quartieren und reichhaltigen kulturellen Angeboten, wäre das ein Teil einer solchen Strategie. Selbstverständlich muss die Schulung, Aus- und Weiterbildung hier prioritär ansetzen, wobei so ne Bildungsveranstaltungen auch durchaus eigenen Charakter haben können; ich würde zum Beispiel massenhaft Geografie- und Geschichtsreisen an die Originalschauplätze anbieten und bin mir ziemlich sicher, dass da ziemlich viele Mitbürgerinnen und Mitbürger mitreisen täten, vor allem, wenn für jede gute Klassenarbeit eine Flasche Ouzo winkt oder so, kommt ja nicht drauf an. Beschäftigungsmäßig muss man sich halt was einfallen lassen. Gerade auf kommunaler Ebene liegt ja massenweise Arbeit herum, die nicht getan wird; meistens hats zum Beispiel im Kaff nirgends ein ordentliches Kaffeehaus, das auch zuverläßig 7 Tage die Woche geöffnet ist, und dann kommen Projekte des öffentlichen Verkehrs, Erschließung von Naherholungsräumen, je nach Lage. Es gibt durchaus reichlich Tätigkeiten, die auch Sinn haben und nicht nur therapeutischen Charakter.

Insgesamt aber muss endlich jemand mal klar darstellen, wohin die Reise geht. Wir wandern nicht in Richtung eines nach Rassen und Landesgrenzen gegliederten Erdballs, sondern in Richtung einer Gesellschaft, welche in ein paar Jahrzehnten genug Nahrungsmittel und auch Luxusprodukte für sämtliche BewohnerInnen anbietet, ohne dass deswegen Ausbeutung und Unterdrückung die Gesellschaften bestimmen müssen. Sie werdens allerdings zunächst trotzdem tun – da bleiben noch einige Schlachten zu schlagen, wo nicht Revolutionen anzuzetteln, je nach Entwicklung der Dinge. Damit aber der Mensch diesen Reichtum im globalen Maßstab auch genießen kann, muss er sich selber weiter entwickeln. Das Bildungsniveau muss entschieden und in riesigem Ausmaß nach oben gehämmert werden, und zwar nicht, indem man mehr Geld in den Bildungssektor hineinschießt, sondern indem man die Klassenprobleme an der Wurzel anpackt, welche hier liegen. Und dann geht es wirklich auch darum, dass die Menschen zum ersten Mal in der Geschichte im globalen Maßstab lernen, ihre freie Zeit zu nutzen für die Entfaltung eigener Interessen. Das stand bisher noch nirgends so auf dem Speiseplan, höchstens als Randnotiz bei gewissen sozialistischen Postulaten. Diese Phase rückt nun aber mit Riesengeschwindigkeit auf uns zu. Die Vorbereitung darauf beziehungsweise der Mangel daran oder die Tatsache, dass mans noch nicht mal erkennt, hat recht viel zu tun mit diesen pseudoarischen Kotz- und Pissgurgeln, wie sie sich in Mügeln wieder bemerkbar gemacht haben.

Auf der Webseite der Stadt Mügeln geben die Stadträte, der Bürgermeister und die Mitarbeiter der Stadtverwaltung ihrer Erschütterung Ausdruck über die Vorfälle. Kein Wort darüber, dass es sich um Ausländerfresser und Stinkenazis gehandelt haben könnte, im Gegenteil, ich zitiere: Von Berichten, die das Verhalten der gewalttätigen Menschengruppe als kollektive Ausländerfeindlichkeit aller Mügelner Bürger darstellen, distanzieren wir uns ebenfalls entschieden und verwahren uns gegen den über die Medien vermittelten Eindruck, dass in unserer Stadt ausländischen Mitbürgern oder Gästen latente oder gar offene kollektive Fremdenfeindlichkeit entgegen gebracht werde.» Zitat Ende. Ihr Inderlein, kommet, mit anderen Worten. Die werden sich wohl hüten. Aber dass dieser Kommunalvorstand in seinem eigenen Kopf derart bescheuert ist, die ausländerfeindlichen Parolen einfach zu bestreiten, das sprengt die durchschnittliche Vorstellungskraft eines durchschnittlichen Bürgers.



Albert Jörimann





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28.08.2007

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