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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Yves"

[13.Kalenderwoche] Einen Winter hatten wir dieses Jahr zwar nicht, aber immerhin einen Winter-Rückfall, und damit ist der Meteorologie-Teil für heute ach schon wieder abgeschlossen. Eigentlich komme ich nur drauf, weil wir ...

...am Wochenende etwas gefroren haben, wo es doch eigentlich schönes Wetter war; nämlich gehen wir um diese Jahreszeit hin und wieder an ein kleines Jazzfestival in der Nähe von Montreux und lassen uns dort von alten Bekannten alte und neue Geschichten erzählen. Eine davon geht wie folgt: Da diese Bekannten am Genfersee wohnen, ist nicht zu vermeiden, dass man es mit dem Wasser zu tun hat. Der Sohn hat eine Lehre als Bootsbauer gemacht und arbeitet unter anderem für das Team Alinghi, den Defender des America’s Cup, nämlich den guten alten Ernesto Bertarelli, der im letzten Herbst seine Serono der deutschen Merck verkauft hat, um sich fürderhin ungestört den Wellen zu widmen. Dementsprechend war besagter Sohn auch ein paar Mal in Valencia, um das Boot nach dem Transport vom Genfersee nach Valencia zusammenzusetzen oder was weiß ich, und er hat ganz ordentlich Reklame gemacht, weniger für das Boot als vielmehr für Valencia bzw. den neuen Teil davon, den bekanntlich niemand anders gebaut hat bzw. entworfen als der gute alte Santiago Calatrava, den ich für einen der interessanteren Architekten halte, die gegenwärtig am Tun sind, aus dem einfachen Grund, weil man bei dem niemals den Eindruck hat, dass er seine Projekte nur mit Rechteck und Zirkel entworfen oder gar von einem Architektur-Bastelbogen durchkopiert hat; dafür brauchts nämlich keine Architekten, das ist Buchhalterarbeit, und ich möchte dies nicht gesagt haben ohne den Hinweis, dass ohne eine ordentliche Buchhaltung ziemlich viele Dinge, und zwar auch kreative Dinge durchaus undenkbar wären. Wie auch immer. Also hat Yves unser schönes Vorurteil bestätigt; daneben wird er demnächst ebenfalls Vater und will anschließend mit der Kindsmutter für ein halbes Jahr oder so nach Haiti emigrieren, um dort ein paar soziale Wohltaten vom Stapel zu lassen. Im Gegensatz zum Programm des ehemaligen chilenischen Präsidenten Allende, das seinerzeit hieß: 1 Liter Milch für jedes Kind, lautet das Programm von Yves und seiner Freundin: ein Ei pro Tag für jedes Kind. Eier haben ausreichend Proteine, und Rohmilch ist bekanntlich in extremer Art und Weise gesundheitsschädigend, deshalb haben die US-Amerikaner den Allende ja damals im 1973 zuerst mit einem Kupferboykott ausgehungert und dann mit einem Militärputsch gestürzt. Da sieht man mal wieder, wie vorsorglich die USA durch die Geschichte hindurch immer wieder waren. Gegen Eier hat Präsident Busch meines Wissens nichts, sodass auch nicht mit einer sozialen Revolution in Haiti zu rechnen ist, wenn Yves mit Frau und Kind da ein halbes Jahr lang Hühner züchten. Anschließend will Yves Freundin dann in Envers/Belgien eine Zusatzausbildung als Tropenärztin absolvieren.

Aber auf dem Wasser ist auf dem Wasser, und unter dem Wasser ist unter dem Wasser. Zwar ist der Genfersee ein absolut lausiges und uninteressantes trübes Reservoir ohne Licht und ohne interessante Fauna, aber Yves Vater geht trotzdem zwei bis drei Mal wöchentlich auf Tauchgang. Allerdings hat er vor zwei Jahren mal eine Pause eingelegt, und zwar wegen eines Tauchunfalls, der ihn zwar nicht direkt betraf, an dem er aber beteiligt war, und zwar ging das so: Bei einem Tauchgang mit einem Kollegen in irgend einem dieser Seen, die da herumliegen, blies sich dessen Notweste plötzlich auf und jagte ihn im Notfalltempo an die Oberfläche. Das ist ziemlich gefährlich wegen des rasch wechselnden Drucks, weshalb man sowas grundsätzlich wirklich nur als letzte Maßnahme ergreift, aber hier war wohl irgend etwas defekt. Der Vater von Yves ging ebenfalls schneller als üblich an die Oberfläche und begleitete den Kollegen aus dem Wasser, ich weiß nicht, ob auf ein Schiff oder ans Ufer. Da die Sache relativ harmlos aussah, begab er sich wieder zurück ins Wasser. Der Kollege aber erlitt am Ufer oder auf dem Schiff irgend eine Form von Kollaps, musste notfallmäßig ins Hospital und ist jetzt querschnittgelähmt. Das setzte dem Vater von Yves mächtig zu, sodass er fast ein Jahr lang tauchabstinent blieb. Diese Geschichte hatten wir schon beim letzten Mal gehört; jetzt nahm sie aber ihre Fortsetzung, nämlich vor Gericht, indem der Kollege nun dem Vater von Yves fahrläßige Körperverletzung vorwirft. Naja, wir waren ja nicht dabei und können das nicht beurteilen, aber absurd genug erscheint der Vorwurf so oder so, denn dass er den Kollegen absichtlich nach oben katapultiert hätte, wäre ja noch schöner gewesen, und dann wäre es ja nicht fahrläßig gewesen, sondern Vorsatz, und das behauptet nun auch wieder niemand. Jedenfalls ist damit eine schöne Freundschaft wohl endgültig zu Ende. Der Grund dahinter ist, wie ich vermute, jener, dass solche Unfälle, welche sich nicht direkt beim Tauchen ereignen, nicht als Unfälle anerkannt werden, das heißt konkret, es gibt keine Entschädigung und keine Rente, weshalb wohl der Rechtsvertreter des Kollegen versucht, auf dem Umweg über die Versicherung etwas Schmerzensgeld aus der Versicherung von Yves Vater herauszupressen. Wahrscheinlich ist das gar nicht persönlich gemeint. Aber Yves Vater kann diesen Vorwurf der fahrläßigen Körperverletzung durchaus nicht unpersönlich nehmen. Solche Sachen kommen vor. Wirklich hirnrissig dabei ist, dass es tatsächlich keine Folgekostenversicherung gibt in diesem Bereich. Und dies in einer Gesellschaft, in der man vor lauter Versicherungen schon bald nicht mehr in der Lage ist, irgend eine nicht versicherte Untat zu begehen. Eigenartig.

Dann gab es noch eine Geschichte vom Au-Pair-Mädchen der Eltern des Vaters von Yves. Diese war während ihres Dienstjahres schwanger geworden, man durfte aber davon zuhause in einem katholischen Bergkanton der Innerschweiz nichts sagen, so dass sie das Kind sofort nach der Geburt zur Pflege in eine entsprechende katholische Institution gab. Später heiratete besagtes Au-pair-Mädchen dann doch noch ordentlich und hatte eine eheliche Tochter, welche sie mit dem gleichen Namen ausstattete wie die erste uneheliche. Nachdem sie sich mit ihrem Mann ausgesprochen hatte, beschlossen die beiden, die fremdplatzierte Ersttochter doch zu sich zu nehmen, so dass hier endlich einmal ein Ehepaar dem Einfachheitsgebot genügte, welches darin besteht, dass alle Kinder die gleichen Namen haben, René und Sibylle zum Beispiel. Wie auch immer: Bei all dem Glück ging vergessen, das Kind auch ordnungsgemäß zu adoptieren, mindestens was den Vater betrifft, was dann erst nach dessen Tod herauskam, aber offenbar keine erbrechtlichen Konsequenzen hatte; dagegen wurde dieses erste Kind nun natürlich neugierig, wer denn nun ihr wirklicher, nämlich leiblicher Vater gewesen sei, und sie machte sich an die entsprechenden Nachforschungen und landete logischerweise bei Yves Vater. Der konnte dann noch die eine oder andere lebende Person aus dieser Zeit eruieren, sodass man tatsächlich den Vater identifizierte, einen mittlerweilen etwa 80-jährigen Rentner mit eigener Familie inklusive Kinder. Dieser bestritt die Vaterschaft zunächst und ließ sich erst nach einem guten Jahr nur unter der Androhung eines Vaterschaftstests zunächst zu einem Treffen bewegen und dann zum Eingeständnis der Vaterschaft – jetzt weiß ich nicht, ob das dann auch noch zu Erbschaftsstreitigkeiten führt, aber mindestens zur Aufdeckung eines der Abermillionen ungeklärter Fälle ist es doch gekommen.

Auch diese Geschichte hat uns Yves Vater bereits einmal erzählt, wie mir im Lauf der Zeit wieder in Erinnerung kam. Aber erst später machte mich meine Partnerin darauf aufmerksam, dass diese Geschichte als kleine Nuance noch jenen Punkt beinhaltet, dass nämlich Yves einen älteren Bruder hat, der nicht das leibliche Kind von Yves Vater ist, sodass ich seither versuche zu rekonstruieren, ob diese Erzählung nicht eine Form der Metakommunikation mit seiner Ehefrau war. Aber noch wenn dem so wäre, würden diese Menschen eine Form der Metakommunikation betreiben, zu der ich selber niemals in der Lage wäre. Meine Eltern hatten niemals ein Dienstmädchen oder une Fille au pair und noch nicht mal eine Austauschstudentin. Aber das ist wieder eine andere Geschichte, obwohl ich solche Dienstbotenverhältnisse, die es auch heute noch ungebrochen gibt, von Genf bis nach Stockholm, immer noch nicht begreife. Aus meinem Kopf bringt auch die größte Yellow-Press-Initiative den alten Satz nicht weg, der da lautet: Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum hat er Stiefel im Gesicht nicht gern/er will unter sich keinen Sklaven sehn und über sich keinen Herrn. Tut mir leid, aber diese Reste von Sozialromantik bringe ich einfach nicht weg.

Daneben referierte der Vater von Yves wieder ausführlich über die landschaftlichen Schönheiten der Schweiz und insbesondere der Gegend um den Genfersee – womit er übrigens recht hat – und über die Grenzgänger, die nur des Geldes wegen hier arbeiten und sich ansonsten nicht für ihre Arbeit selber interessieren. Dies dürfte ebenfalls zutreffen, allerdings auch auf die überwiegende Mehrheit der schweizerischen Schweizer. Über den allgemeinen Zerfall der Sitten unterhielten wir uns nicht, weil wir nicht die Zeit hatten, ihm zu widersprechen. Es wäre allerdings schwierig, eine derart tief greifende Transformation der Gesellschaft durchzumachen, wie wir sie gegenwärtig erleben, ohne dass dabei die Sitten und Wertvorstellungen darunter litten. Darin hätten wir ihm wohl zugestimmt. Ob daraus aber in jedem Fall etwas Schlechteres wachsen muss – das ist eine andere Frage. Nein, es ist eigentlich überhaupt keine Frage. Und schließlich benutzte der Vater von Yves noch die Gelegenheit, um sich auch bei uns über die EU zu beschweren. Und auch hier stimmten wir zum Teil zu, nämlich in dem Punkt, dass die EU mit Sicherheit ein reines Wirtschaftsprojekt geworden ist. Und auch hier hätten wir fortfahren können, dass die reine Wirtschaft halt schon die eine oder andere soziale Nebenerscheinung bewirkt, und sei dies nur die mittelfristige Angleichung der Löhne, wie wir dies beispielsweise in Portugal und Spanien erlebt haben; ich gehe vorderhand davon aus, dass dies gegenwärtig auch in Polen und Ungarn abläuft und demnächst in den neuesten Mitgliedländern einsetzt. Der wirtschaftliche Ausgleich ist vermutlich die beste Voraussetzung dafür, auch einen Ausgleich unter den Menschen hervorzubringen. Gerade die Familie von Yves ist dafür ein leuchtendes Beispiel; nämlich stammt die Frau von Yves Bruder lupenrein aus Polen. Und hat zwei Kinderchen, an denen logischerweise auch die Großeltern ihr helles Vergnügen haben.




Albert Jörimann
27.03.2007

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