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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Die Ausländer"

[49.Kalenderwoche] Nach den Bemerkungen von letzter Woche hat mich jemand dazu angehalten, in meinen unabhängigen und neutralen Beiträgen keineswegs etwa den immerwährenden Völkerfrieden zu stören durch die ...

... Kriminalisierung einzelner Bevölkerungsgruppen und Ursprungsregionen. Und in der schweizerischen Gewerkschaftszeitung mit dem urschweizerischen Namen «Work» hat auch der integre und geschätzte Redaktor Michael Stötzel ein beredtes Bekenntnis gegen Nationalismus und Rassismus abgelegt in einem Artikel mit dem schönen Titel «Gewalt hat keinen Pass». Alles ganz ausgezeichnet, sage ich, aber es reicht mir nicht ganz. Denn es ist eine Tatsache, dass in der schweizerischen Kriminalstatistik der Anteil der von AusländerInnen begangenen Verbrechen bei rund 50% liegt, während ihr Anteil an der Wohnbevölkerung nur rund 20% ausmacht. Ich weiß nicht, wohin es führen soll, wenn ich dies nicht sagen darf, bloß um den Völkerfrieden zu wahren; das wäre ein rechter Blödsinn. Darum kann es wirklich nicht gehen. Stattdessen ist es am Platz, solche Zahlen ins Verhältnis zu setzen zur Realität. Diese besteht zweifellos in erster Linie darin, dass die zugewanderten AusländerInnen in der Schweiz in der Regel weniger gut ausgebildet oder überhaupt nicht gebildet sind, namentlich Menschen aus dörflichen Regionen im Balkan, aus den ländlichen kurdischen Gebieten oder aus Afrika. Das heißt, dass ihre Chancen auf eine Teilhabe am zweifellos prosperierenden Leben in der Schweiz ohne jeden Zweifel geringer sind als diejenigen beispielsweise von Kindern aus einer Ehe zwischen einer Kunsthistorikerin mit einem Paläontologen, vor allem, wenn sich dazu noch schlechte Kenntnisse der Landessprachen gesellen. Dagegen könnte man nun einwenden, dass die Leute in dem Fall bei sich zu Hause bleiben sollen; aber diese Sorte von frommen Wünschen werden wir in absehbarer Zeit nicht erfüllen können, und, unter uns gesagt, wir wollens ja auch gar nicht. Solange sie aber nun mal hier sind, ist ihr Streben nach ihrem Anteil am gesellschaftlichen Reichtum nichts anderes als legitim und vernünftig. Es kommt ja noch dazu, dass der Reichtum der Schweiz mindestens zum Teil auf der Armut anderer Länder beruht, sei es durch die Ausbeutung günstiger Rohstoffe oder durch die Importe von Billigwaren aus China oder auch ganz simpel durch die Milliardenvermögen, welche sich weltweit, aber auch vor dem Fiskus der EU-Länder bei uns in Sicherheit bringen. Dieser Komplex stellt natürlich die gesamte Kriminalstatistik in den Schatten, weil es hier nämlich nicht um die insgesamt trotz allem wenig bedeutenden Delikte geht, sondern um die strukturellen Schwächen ganzer Volkswirtschaften, welche dann am Schluss wieder Migrationsschübe auslösen können, die unter anderem in die Schweiz führen. Das ist doch alles ganz glasklar, und wenn man das eine sagt, nämlich eben der hohe Ausländeranteil in der Kriminalstatistik, soll man einfach das andere nicht verschweigen, nämlich die zum Teil eigenartigen Quellen des schweizerischen Reichtums.

Nun bin ich ja hier angestellt, um Euch die deutschen Zustände vorzuhalten und nicht, um unser Alpenparadies schlecht zu reden, also will ich diese Selbstkritik insofern etwas entschärfen, als ich davon ausgehe, dass sogar der Schweizer Finanzplatz gewisse Lehren gezogen hat aus der Vergangenheit, vor allem aufgrund der heftigen Kritik der fortschrittlichen Kräfte auf der ganzen Welt, aber auch im Land selber. Trotzdem muss die Schweiz oder Westeuropa insgesamt einem Zuwanderer als strukturell begünstigt vorkommen, so dass es nicht so einfach ist, das Rechtsbewusstsein der Schweiz von heute auf morgen selber zu übernehmen und umzusetzen.

Davon unabhängig gibt es aber eine Ebene, auf die ich in der letzten Woche hinweisen wollte, nämlich das allgemeine Bewusstsein oder die schweigende Mehrheit oder wie auch immer man diese Ebene nennen will, das Empfinden oder der Konsens einer breiten Mehrheit, welche das Zusammenleben regeln; das Rechtssystem ist letztlich nichts anderes als ein Abbild dieses Empfindens. Und hier schafft dieser überdurchschnittlich hohe Anteil an Ausländerkriminalität hin und wieder Probleme, und zwar nicht einfach grundlos oder bloß, weil dieses eigenartige und allgemein gefürchtete Tier des Massenbewusstseins von verantwortungslosen Volksverhetzern aufgeschäumt wurde; so ist es eben auch wieder nicht. Es gibt in der Schweiz, so gut wie in den meisten anderen Ländern, eine gewisse Toleranz gegenüber sogenannt fremden Verhaltensformen, die zum Teil auf den eigenen Reiseerlebnissen in fremden Ländern beruht und zum Teil auf den massiven Integrationserfahrungen mit ausländischen Zuzügern zurückzuführen ist, wie wir sie seit den 60-iger Jahren erlebt haben. Diese Toleranz äußert sich übrigens auch gegenüber gewissen inländischen Bevölkerungsschichten, zum Beispiel gegenüber den Spitzensalären von Bankern und Managern, über die man sich zwar auch erheblich aufregt, denen man aber deswegen noch längstens keinen Molotow-Cocktail in den Rolls-Royce wirft. Aber sie ist vor allem im eigenen Erfahrungsbereich von Bedeutung und unterliegt dort gewissen Schwankungen, manchmal wegen fremdenfeindlicher und teilweise rassistischer populistischer Propaganda, manchmal aber auch wegen der Ausländer selber. Nehmen wir ein Beispiel. Es dürfte unterdessen allen BewohnerInnen unseres Landes klar sein, dass die Gesetzgebung im Bereich Asyl- und Ausländerrecht sowohl in der Schweiz als auch in den anderen entwickelten Ländern in Afrika weit besser bekannt ist als bei uns selber. Logo, unsere EinwohnerInnen müssen sich ja auch nicht mehr um eine Einreise bemühen. Man weiß aber gleichzeitig, dass die afrikanischen MigrantInnen rechtlich praktisch keine andere Möglichkeit mehr haben, um nach Europa zu gelangen, außer über die Asylschiene. Dementsprechend würde ich behaupten, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung Verständnis hat für die rund 20'000 bis 30'000 Personen, welche jährlich in der Schweiz ihre Asylanträge stellen, auch wenn sie davon ausgehen, dass mehr als 90% davon erschwindelt sind. Aber diese Logik kann man nachvollziehen; es ist eine falsche Lösung innerhalb eines falschen Systems. Damit findet sich die öffentliche Meinung in der Schweiz mehr oder weniger ab. Stärker betroffen war sie in letzter Zeit eben durch Vorfälle wie jenen, den ich vor einer Woche angesprochen habe, von einer scheinbaren Verrohung der Sitten, vor allem bei jungen und hier aufgewachsenen Ausländerkindern aus dem Balkan. Man kann sich gerade heraus fragen, wieviel an dieser jüngsten Empörung der Volksseele eine reine Generationenfrage ist – denn darum handelt es sich zweifellos auch; die ruppige und ungehobelte Inanspruchnahme des öffentlichen Raumes unterscheidet sich kaum von den Rock’n’Rollern der 50-er und 60-er Jahre, wenn ich dies richtig verstanden habe. Einen Teil trägt aber sicher auch der Bürgerkrieg in Jugoslawien bei, der sich nicht besonders positiv auf die Umgangsformen ausgewirkt hat und hier immer noch regelmäßig zu Messerstechereien und Schießereien führt. Nicht in großem Umfang, aber für die Kriminalstatistik reichts dann eben doch. Ob der raue Umgangston wirklich auf eine Generationenrevolte wie bei den Rock’n’Rollern zurückzuführen ist, steht auch nicht fest; vielmehr besteht auch die Möglichkeit, dass eine solche Entwicklung zu einer radikalen Verrohung führt, wie sie gewisse Filme über die französischen Vorstädte gezeigt haben und über die sich auch das Satireblatt Fluide Glacial immer verächtlicher lustig macht, wobei das überhaupt nicht lustig ist.

Die politischen Hetzer auf der rechten und populistischen Seite führen dies logischerweise alles auf den wachsenden Einfluss linker und permissiver PolitikerInnen und PädagogInnen zurück. Auf diesem Gebiet ist nun sicher nicht alles richtig gelaufen, aber dass die nationalistischen Geiferer das größere Entwicklungshemmnis darstellen als sämtliche Gutmenschen auf der linken Seite, versteht sich von selber. «Wahr» am Vorwurf der Rechtsextremen ist, dass viele politisch korrekte Leute es nicht einmal wagen, auf die Ausländerprobleme überhaupt hinzuweisen, und ebenso viele politisch korrekte Leute schreien immer und überall sofort Nationalismus, Rassismus und Nationalsozialismus, sobald man davon auch nur zu sprechen wagt. Das ist nun auch nicht besonders hilfreich, denn diese Probleme bestehen nun einfach mal, und sie werden nicht kleiner, solange es auf der Welt noch Wohlstandsgefälle und die damit zusammenhängende Migration gibt.

Mit anderen Worten: Während wir uns auf der einen Seite bemühen, unsere Gesellschaften ständig zu verbessern, den allgemeinen Wohlstand zu vermehren und gleichzeitig die natürlichen Ressourcen zu schonen, vor allem aber qualitative Ziele zu erreichen, indem wir unsere Gesellschaften zum ersten Mal zu wirklichen Demokratien machen und nicht bei jenem Demokratietheater verharren, das uns gegenwärtig vorgespielt wird, gibt es auf der anderen Seite die Gegenbewegung, bei der Menschen vom hier vorhandenen Wohlstand angezogen werden und davon auch ein Teil für sich reklamieren – mit einem Recht, das einfach ein Naturrecht ist, denn es gibt von Natur aus keine Unterschiede zwischen Franzosen und Deutschen, SchweizerInnen und Jugoslawinnen, US-AmerikanerInnen und Kogolesen und Togolesinnen und was weiß ich. Unsere Gesellschaften müssen auch mit diesem Druck eine Umgangsform finden, die aber mit Sicherheit nicht darauf beruht, die effektiven Integrationsprobleme zu vertuschen. Sie müssen hier und jetzt angepackt werden und nicht in einer fernen Zukunft oder anhand eines Idealzustandes, so dass sich im Zusammenhang zum Beispiel mit der Ausländerkriminalität ganz banal die Frage stellt: Haben wir genügend Polizeikräfte? – Und mit der Antwort: Ja, gewiss, kann dieses Problem dann abgehakt werden. Nicht dagegen die Frage der nachstoßenden jungen Frechdachse; hier lautet die Frage, wie weit man die Jungs gewähren lassen soll, und die Antwort ist wiederum relativ einfach: Auf jeden Fall nicht so weit, dass man ihnen die Hoheit auf den Schulhöfen, in den Klassenzimmern und wo auch immer sonst einräumt. Aber auch hier ist nach meinen Beobachtungen die Entwicklung noch nicht mal ansatzweise so weit gediehen wie in den französischen Vorstädten.

Kein Grund zur Panik also, aber auch kein Grund, sich auszuschweigen. Ich nehme an, diese Auffassung würde auch die riesige Mehrheit jener Immigranten teilen, egal, ob aus Ex-Jugoslawien oder aus der Türkei oder aus Nigeria oder woher auch immer, die alles daran setzen, um in den reichen Gesellschaften auf legale Art und Weise zu einem Teil des Wohlstandskuchens zu gelangen, der zum heutigen Zeitpunkt auf der Welt allerdings so ungerecht verteilt ist wie noch kaum je zuvor, und zwar nicht wegen der absoluten Ungleichheit – die war wohl schon größer –, sondern weil die Menschen auf der gesamten Welt sich dessen jetzt auch bewusst sind.





Albert Jörimann
05.12.2006

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