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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Neujahrsansprachen"

[01.Kalenderwoche] Ich halte Neujahrsansprachen für weniger lebenswichtig als zum Beispiel Wurst, und doch sind sie mir nicht einfach gleichgültig, denn bei allem Spott und Gekläffe über die Politik gehe ich doch davon aus, dass das ...

... Politische in entwickelten Gesellschaften eine notwendige Sphäre ist; das Problem liegt bei der Politik eher darin, dass sie nicht so entwickelt ist, wie es die Gesellschaft eigentlich erlauben oder sogar voraussetzen würde, so dass sie oft eher ein Modernisierungshindernis ist, als dass sie einen wirklichen Fortschritt erlauben täte. Schön gesagt, Herr Jörimann, kann ich mir jetzt selber zuflüstern, denn mit einer solchen Formulierung habe ich sicher überhaupt niemanden verletzt, und Recht habe ich damit noch obendrein. Dabei wollte ich doch nur sagen, dass ich das Politische für eine notwendige Schicht halte, und wenn es bei den Christen anläßlich von Karfreitag/Ostern sowie Weihnachten doch die Pflicht der obersten theologischen Behörden ist, sich zwei Mal im Jahr grundsätzlich zu äußern, so wüsste ich kein besseres Datum für die oberste politische Behörde, sich zu den Grundsatzfragen im Staatsgebilde zu äußern, als den Jahreswechsel. Heuer, also am letzten Tag des Jahres 2006, habe ich mir mal die erste richtige Kanzelpredigt des neuen italienischen Staatspräsidenten Giorgio Napoletano angehört. Immerhin handelt es sich um den ersten kommunistischen Staatspräsidenten Italiens, wenn ich mich nicht irre, und dementsprechend äußerte er im ersten Teil seiner Ansprache auch besondere Bedenken bezüglich der ArbeiterInnen und der zu schlechten Bedingungen Beschäftigten, wie es sich halt für einen Mann der Linken gehört. Auch der Dank an die innovativen unternehmerischen Kräfte im Lande sowie die Bekräftigung, die Staatsfinanzen zu sanieren, gehörten zum Standard. Interessant fand ich vor allem die beiden Abstecher zu Neapel, von wo er ja auch herkommt, und zur heiligen römischen Kirche. Die Begrüßungsworte und Glückwünsche an die Kirche dürfen offenbar bei einem italienischen Staatsoberhaupt nicht fehlen, und dementsprechend sprach Napoletano von der Sintonia, von der Übereinstimmung, die anläßlich seines Besuches bei Papst Ratzinger geherrscht habe; wahrscheinlich waren sich die beiden ebenfalls darüber einig, dass die Sphäre des Politischen eine wichtige Sphäre in modernen Gesellschaften sei, neben anderen ungleich wichtigen Sachen wie dem Weltfrieden, dem Ende der Gewalt, der religiösen Toleranz und noch einem ganzen weiteren Sack voll kostengünstiger Allgemeinplätze, das Material halt, aus dem die Friedenskerzen geschmiedet sind. Zu Neapel, wo in diesem Jahr ich weiß nicht wie viele Bandenmitglieder im Krieg rivslisierender Camorra-Banden erschossen wurden und wo die Sphäre nicht des Politischen, sondern zum Beispiel des Unrats, nämlich die Müllabfuhr ebenfalls von steigender Wichtigkeit erscheint, fand Napolitano gerade noch zwei Frauen als magere leuchtende Beispiele, um seiner Sprachlosigkeit Ausdruck zu verleihen, eine Biochemikerin, die für 1000 Euro pro Monat Spitzenforschung betreibt, und eine Mutter eines 16-jährigen, welche ihren Jungen dazu zu bewegen vermochte, weiterhin in die Schule zu gehen, statt sein Geld mit Lauf- und Stechdiensten für die Camorra zu verdienen. Das machte mir dann einen weniger staatsmännischen Eindruck, im Gegensatz zur ersten Wallung des Premierministers Romano Prodi, welcher bekanntlich im Herbst mal Neapel mit der italienischen Armee besetzen wollte, was ich auch jetzt noch für absolut richtig halte.

Daneben betonte Giorgio Napoletano die Bedeutung der Institutionen, namentlich des Rechtssystems und des Parlamentes bzw. der verschiedenen Parlamente auf den verschiedenen Stufen der politischen Organisation des Landes, wobei er sich jeglicher Kritik dieser Institutionen enthielt; vielleicht kommt das ja noch in einer der nächsten Neujahrsansprachen. Stattdessen forderte er bloß Berlusconi dazu auf, sich etwas gemäßigter auszudrücken, denn die italienische Politik entstehe zwischen gegensätzlichen Positionen, aber nicht in einem apokalyptischen Endkampf von Gut und Böse. Dies aber sagte Napolitano ganz zu Beginn seiner Ansprache und selbstverständlich, ohne den Namen Berlusconi zu nennen.

Es war mit anderen Worten eine ziemlich mäßige oder gemäßigte oder mäßigende Ansprache, welche Giorgio Napoletano da an die ItalienerInnen richtete, sicher auch deswegen, weil Italien bei den letzten Wahlen in zwei etwa gleich große Blöcke zerfallen war, wie er ebenfalls betonte, und so ein Staatspräsident soll in solchen Situationen dann ja nicht Wahlhilfe für die eine oder die andere Seite betreiben, sondern das Volksganze als Einheit der Gegensätze pflegen. Logisch, dass da nichts besonders Originelles hervorquillt, insonderheit nicht von einem Menschen, der im Alter von 80 Jahren doch schon etwas über den Sachen steht. Man kann die Neujahrsansprache also ruhig zu den Akten legen, nicht ohne anzufügen, dass sie wohl doch irgendwie zum Fest gehört wie das Neujahrsfeuerwerk. Die Kritik an den herrschenden Zuständen, auch an den Institutionen, muss sich aus anderen Sphären heraus ergeben. Dass es diese nicht gibt, dass sie sich nicht bilden, weder innerhalb noch außerhalb der Parteien, das wäre dann mal ein staatsmännisches Wort, das mir ein italienisches Neujahr doch erheblich versüßen würde.

Ansonsten braucht Ihr wohl an dieser Stelle nicht noch einen weiteren Jahresrückblick, nehme ich an. Immerhin will ich doch darauf hinweisen, dass wir uns in einer Übergangsphase befinden, wie dies nicht zuletzt aus verschiedenen Neuwahlen hervorgeht, die in den letzten paar Monaten stattgefunden haben oder auch demnächst bevorstehen. In Frankreich geht es um die Ablösung des größten Schleimscheißers, den die Welt je gesehen hat, Jacques Chirac, dessen politische Karriere derart massiv auf Korruption und Intrige beruhte, dass dem französischen Volk gar nicht anders übrig blieb, als beschämt die Augen davor zu verschließen und ihn letztlich als Verhüllung seiner selber zum Staatspräsidenten zu wählen. Jetzt ist die Reihe möglicherweise an Nicolas Sarkozy, dem ich zwar ein populistisches und gern auch geiferndes Gehabe, aber daneben keine weiteren Mängel vorwerfen könnte; namentlich verfügt er nicht über eine deutlich abgesicherte Machtbasis, was auch seine Kandidatur bis zur letzten Sekunde als fragil erscheinen lässt. Seine Gegenkandidatin Françoise Hollande kandidiert ausweislich ihres Namens im falschen Staat und erinnert mich abgesehen davon eher an Frau Merkel als beispielsweise an Lionel Jospin. Le Pen dagegen, dieser lächerliche Popanz des Neofaschismus in Frankreich, wird es diesmal wohl trotz künstlichen Knien und Glasaugen nicht in die Endausscheidung schaffen.

Ebenfalls für 2007 ist mit der Ablösung von Tony Blair zu rechnen, dem schon während seiner Amtszeit hymnische Erinnerungslieder gesungen werden, wohl als Beschwörung dafür, dass er nun endlich auch tatsächlich abtreten möge. Das Zeitalter von Hughes Grant ist abgelaufen und damit auch das Zeitalter von Tony Blair. Ihm kommt das Verdienst zu, die Sozialdemokratie wirklich erneuert zu haben, nämlich die soziale Frage an den Schwanz der Prioritätenliste gesetzt zu haben. Dies haben alle anderen sozialdemokratischen Parteien toll übernommen, so dass sie zunächst an die Macht gekommen sind und sie alsogleich wieder verloren haben, um sie dann erneut zurückzugewinnen. In Italien hat Berlusconi das Land mindestens rhetorisch noch in zwei Blöcke gespalten; in der Substanz sind die Sozialdemokratie und der Bürgerblock unterdessen in Europa identisch geworden. Das scheint mir eben auch ein wirkliches Problem zu sein für die Sphäre des Politischen. Am konsequentesten zum Ausdruck kam dies im schönen Deutschland mit der großen Koalition; in Österreich hat das Pendel halbwegs zurückgeschlagen, hier befindet man sich noch in den Geburtswehen einer vergleichbaren Allianz. In Skandinavien sind dagegen nun auch bürgerliche Parteien wählbar, nachdem sie die sozialdemokratischen Inhalte modifiziert übernommen haben. In den USA beherrschen die Demokraten zum ersten Mal wieder das Parlament, und in Brasilien wurde Lula trotz den absurden Korruptionsskandalen wiedergewählt – übrigens weilte der italienische Außenminister D’Alema, seinerseits eine Schleimqualle erster Güte, nicht etwa bei den Neujahrsempfängen in Rumänien, wo Italien einen Alliierten der ersten Güteklasse erhalten hat innerhalb der EU, sondern in Brasilien, um mit Lula zu toasten. Die Korruptionsvorwürfe nenne ich übrigens nicht deswegen absurd, weil sie nicht begründet gewesen wären, sondern deshalb, weil die Sphäre des Politischen in Brasilien noch viel expliziter von Korruption geprägt ist als zum Beispiel in Frankreich oder in Italien, wogegen sich die CDU in Deutschland ja seit mindestens zehn Jahren überhaupt nicht mehr schmieren lässt, ist ja auch nicht nötig.

Gut gefallen hat mir übrigens der Reality-Fiction-Beitrag des belgischen Staatsfernsehens, das eines Abends im Stil des großen Fakes von Orson Welles in den 40-er Jahren meldete, die Flamen hätten einen eigenen Staat gegründet. Dieser Beitrag war deshalb so gut, weil er so richtig in Gestalt brachte, was die flämischen Politiker immer lauter fordern. Die Neuwahlen in den Niederlanden brachten dagegen keine markanten Verschiebungen. Als einzige wirkliche Lichtfigur in Europa erstrahlt insgesamt in Europa momentan wohl nur gerade Genosse Zapatero in Spanien, welcher das Land in einem unglaublichen Reformtempo an die Spitze der gesellschaftspolitischen Entwicklungen in Europa gebracht hat. Aber hier war wohl auch der angestaute Druck besonders mächtig. Das ändert nichts an den Verdiensten von Zapatero und seiner Partei.



Albert Jörimann
03.01.2007

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