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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Armutsdebatte"

[04.Kalenderwoche] Was macht der Freund der Frau? Bei uns in Zürich macht er eine der siebzehn Gratis-Tageszeitungen, welche dazu führen, dass in den Straßenbahnen und Zügen am Morgen unterdessen eine ...

... rund 2 Zentimeter hohe Papierdecke am Boden liegt, welche als Schneeersatz dient. Sacha Wigdorovits ist daneben einer jener Journalisten, welche als Chefredaktoren von einer Zeitung zur nächsten geschoben werden wie mediokre Fußballtrainer, die von einem Verein zum anderen wandern; er ist der Nachfolger der lokalen Berühmtheit René Bortolani, alles Namen, welche ihr genauso wenig zu kennen braucht wie die Herausgeber der Thüringer Allgemeine. Er kann zweifellos als ambulante Nullstelle bezeichnet werden, und dies ist für einen derart kleinen Medienmarkt wie den Deutschschweizer ziemlich bezeichnend. Als Garanten der publizistischen Grundhaltung und Meinungsfreiheit braucht es die geeigneten Nonvaleurs. Soweit zum Freund, und die Frau selber heisst Ingrid Deltenre und ist seit etwa zwei Jahren die Leiterin unseres staatlichen Fernsehsenders, wo sie mit der Einführung allerlei modischen und Billigkosten-Unfugs wie Castingshows, Promiberichterstattung und weiteren hoch interessanten qualitätsjournalistischen Initiativen einen derartigen Mangel an Grundsätzen und Orientierung an den Tag gelegt hat, dass ich ihr auch die neueste Neuerung in der schweizerischen Tagesschau zu 100% anlaste; nämlich gibt es jetzt bei der Tagesschau nicht mehr nur die Schlagzeilen zu Beginn der Sendung und anschließend die Meldung selber, nein, jetzt werden die Schlagzeilen zum Schluss der Sendung auch nochmals wiederholt. Das fügt sich nahtlos ein in die vorletzte Tagesschau-Neuerung, nämlich die Vorschaltung eines authentischen Börsenberichts als Gegengewicht zum schon länger bestehenden und bald einmal eine Viertelstunde umfassenden Wetter- bzw. Meteoblocks nach den Nachrichten, der übrigens noch zulasten des unterdessen im MDR hoch aktiven Jörg Kachelmann ging. Während also mit dem Börsenvorspann, der keinerlei weitere Wirtschaftsinformationen enthält, all jene beleidigt werden, welche keine Aktien besitzen, gibt es jetzt mit dem Dreiteiler Schlagzeile – Meldung – Schlagzeile einen Tritt vors Schienbein all jener Menschen, welche noch entfernt an die Möglichkeit einer vernünftigen Information geglaubt haben. Es besteht mit anderen Worten keinerlei Gefahr einer etwaigen publizistischen Invasion Deutschlands aus dem Süden. Der Freund der Frau und die Frau selber garantieren für eine Art von Mainstream-Journalismus, welche angesichts der Qualität und Quantität des Deutschschweizer Medienmarktes und insonderheit des Publikums für eine gelassene Heiterkeit sorgt. Das also machen der Freund und die Frau, die im Übrigen dafür selber höchst überhaupt nichts können – sie sind einfach da als ideale Verkörperungen eines Medienkonsenses, der in Zeiten einer sintflutartigen Informationsschwemme vielleicht keine besondere Bedeutung mehr hat. Hauptsache, es wird geschwatzt und geschwätzt.

Nach diesem Lamento müsste nun das Lob des kritischen und eigenständigen Journalismus erfolgen, aber damit ists auch nicht weit her, denn auch im sogenannt alternativen Bereich wird praktisch ausschließlich mit Stereotypen und Klischees gearbeitet. Dies gilt allerdings nicht in erster Linie für den Schweizer Medienmarkt, sondern für ganz Europa und vermutlich noch ziemlich weit darüber hinaus. Das zweiwöchentlich erscheinende Sinpermiso aus Barcelona vereinigt hier wohl alles, was Rang und Namen hat, von Tariq Ali über Eduardo Galeano bis zu Rossana Rossanda und Joseph Stiglitz, lauter integre und famose Leute, die aber überraschenderweise alle zwei Wochen in zwanzig Sprachen übersetzte Grundsatzartikel zu den interessantesten Themen auf dieser Welt verfassen, zum Beispiel Rossana Rossanda am 6. Januar über das schlechte Beispiel Frankreichs oder aber in der gleichen Ausgabe Gregorio Moran den Artikel mit dem schönen Titel: Das Authentische ist eine Fälschung. Na Bravo, kann ich hierzu nur etwas kurzatmig japsen; diese Sorte von tief greifenden und gedankenschweren Paradoxen kommt mir irgendwie bekannt vor, nämlich aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. In der Ausgabe vom 20. Januar beklagt sich Rossana Rossanda darüber, dass Papst Ratzinger wieder die alte Form der Liturgie zulasse, als ob unter Johannes Paul II. die katholische Kirche auf dem Weg zu einer radikal fortschrittlichen Institution gewesen wäre. In der gleichen Ausgabe entdeckt Elmar Altvater die Subprime-Krise, wozu ich hiermit auch noch gratuliere. Nein, wirklich, was die Linke unterdessen an originellen Gedanken und tiefen Analysen erzeugt, hebt sich vom Niveau von Sacha Wigdorovits nicht mehr besonders stark ab. Ich will dabei diese Leute und insonderheit die alten KämpferInnen gar nicht schlechter machen als nötig, sie haben ihre Verdienste längstens erworben; aber heute fuchsen sie genauso gut Zeilengeld wie jeder andere Lohnschreiber in der zivilisierten Welt. Und während es mich bei Ereignissen wie dem Wigdorovits noch ärgert, bin ich eigentlich recht massiv erschüttert von der umfassenden gedanklichen Leere, welche aus den steten Wiederholungen des ewig Gleichen und aus der Exegese der Zeitereignisse zuhanden eines längst untergegangenen ideologischen Systems spricht.

Der Zusammenhalt dieser vermeintlich originellen und eigenständigen alternativen kritischen linken Köpfe besteht im Konsens dazu, soziale Ungerechtigkeiten beseitigen zu wollen, indem man sie anprangert. Wie überall, wo ich zu lange zuviel vom Gleichen vorgesetzt erhalte, muss ich auch hier sagen, dass mir das schon ganz ordentlich auf den Sack geht, vielmehr: Ich glaubs unterdessen schon gar nicht mehr. Vor allem ärgert mich immer mehr jene Armutsdebatte, welche erstens vorgibt, dass es in Westeuropa immer noch überhaupt Armut gebe – und ich spreche hier nicht von jenen Fällen, die aus dem einen oder anderen Grund tatsächlich in der Scheiße stecken, wo man aber gescheiter kräftig zupackt als einen Artikel darüber zu schreiben; nein, ich spreche von jener strukturellen Armut, welche die Caritas vor zwei Jahren für die Schweiz auf 1 Mio EinwohnerInnen errechnet hat, was selbstredend ein kompletter Unfug war, der nicht mal als Propagandalüge für irgend etwas nütze war. Ich würde wirklich außerordentlich gerne diese ganze Armutsdebatte in den Abfalleimer der Geschichte stopfen, damit wir uns endlich aktuellen Themen zuwenden können, welche durchaus nicht weniger brisant sind.

Wenn ich mich etwas klarer ausdrücken darf: Ich weiß wohl, dass es immer noch Menschen gibt, die wenig Geld haben. Von zuwenig möchte ich hier nicht sprechen, denn zuwenig haben wir alle immer. Aber es geht nicht darum. Es geht darum, dass ein philanthropisches Engagement zugunsten der weniger bemittelten Mitmenschen, so gut gemeint es auch sein mag und so empört und empörend es auch vorgetragen wird, letztlich völlig vorbei zielt an den Kern- und Systemfragen. Dies zum ersten; zum zweiten werden die Apologeten der sozialen Gerechtigkeit an jenem Punkt wirklich skandalös, an dem sie behaupten, dass die Armutsfrage die Kernfrage unseres Systems sei. Das ist einfach vollumfänglicher Stuss. Allerdings ein Stuss, der sehr wohl System hat; denn es werden, wie Figura zeigt, nach wie vor ganze Wahlkämpfe geführt mit Argumentationsketten in diesem Umfeld. Es macht sich immer gut, edel und ritterlich, wenn man die Armut bekämpfen will in den reichsten Gesellschaften, welche die Welt je gesehen hat. Der Publikumsapplaus scheint zum Vornherein gesichert. Mit aber geht das bloß auf den Keks.

Die zentralen Fragen drehen sich bei Weitem nicht um die Armut. Vielmehr geht es darum, wie die Mechanismen der postindustriellen und völlig globalen Gesellschaft ablaufen zum einen, welche Einflussmöglichkeiten da durchschnittliche Individuum und Gruppen von durchschnittlichen Individuen darauf hat zum andern und drittens um die ganz große und völlig unbeantwortete Frage, wo denn so etwas wie Glück für den modernen Menschen in der modernen Gesellschaft zu suchen wäre. Armut ist unterdessen bei Weitem nachrangig geworden.

Armut galt lange als Synonym von Ohnmacht; somit schien mit der Armutsfrage jeweils auch die Machtfrage gestellt. Heute ist das anders. Heute wird mit der Armutsfrage die wirkliche Machtfrage vertuscht. Und damit stellt sich die große Mehrheit der angeblich kritischen und linken AktivistInnen und AutorInnen plötzlich als das genaue Gegenteil dar von dem, was sie behaupten und von sich wohl auch annehmen. Ich will übrigens hier nicht behaupten, dass man heutzutage automatisch mächtig sei, wenn man arm ist. Eine gewisse Macht kann man sich aneignen, indem man von sich behauptet, man sei die authentische Vertretung der Ärmsten der Armen, wie im Himmel, so auch auf Erden, konkret: wie in den entwickelten Ländern, so auch in den Armen Ländern des Südens. Aber ansonsten organisiert sich die wirkliche Macht in unseren Gesellschaften auf Ebenen, welche längstens über den Reichtum hinaus gewachsen sind. Reichtum ist allenfalls noch ein Nebenprodukt, wenn man im größeren Machtspiel mitmacht; aber es wird kaum mehr einer Person oder einer Gruppe von Personen gelingen, rein aufgrund ihrer Vermögenswerte entscheidend in die Prozesse und Strukturen einzugreifen, welche in ihrer Summe eben die Macht ausmachen.

Die Macht tritt uns entgegen als ein System, das sich von seiner gesellschaftlichen Grundlage entfernt zu haben scheint. Es sind nicht mehr regional definierte und in Klassen gruppierte Herrschaftsverhältnisse, welche den Gang der Ereignisse bestimmen, obwohl sich die Nähe zur Macht oder die Herrschaftsanteile selbstverständlich nach wie vor ohne größere Probleme identifizieren lassen. Aber insgesamt handelt es sich um ein selbst laufendes System, um eine Organisation einer höheren gesellschaftlichen Ordnung. Dies ist keine analytische Aussage; dies ist die Umgrenzung jenes Terrains, wo eine fortschrittliche und kritische Analyse einsetzen müsste. Wer sich auf die Armutsfrage beschränkt und sie als Grundfrage behandelt, verzichtet genau auf den radikalen und systematischen Ansatz. Das ist es, was mich an dieser Armutsdebatte im Kern ärgert.



Albert Jörimann





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22.01.2008

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