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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Stringtheorie"

[41.Kalenderwoche] Ein Kollege, mit dem ich oft diskutiere, wobei ich nicht ganz sicher bin, ob es sich wirklich um Diskussionen handelt, weil nämlich unsere Voraussetzungen um genau so viele Nuancen verschieden sind, dass wir ...

... uns stets auf die eine oder andere Weise missverstehen, aber wie auch immer: Dieser Kollege hat mir also ein Buch ausgeliehen, das ich vielleicht auch lesen werde, das heißt, das Vorwort habe ich soweit geschafft, jetzt stecke ich zu Beginn des ersten Kapitels, mal kucken. Wie auch immer: Also behauptet Professor Lee Smolin, dass sich die theoretische Physik seit 30 Jahren nicht weiter entwickelt hätte. Ich kann das nicht beurteilen; was ich weiß, ist, dass die praktische Physik bzw. die praktischen PhysikerInnen allein verantwortlich sind für 90 Prozent der technologischen Entwicklungen in den letzten 30 Jahren, insbesondere rund um den Computer, aber auch bei den Anwendungen und letztlich auch im Nanobereich bei den Werkstoffen, wo Chemie und Physik ineinander übergehen. Die Physik insgesamt hat sich also durchaus entwickelt, und zwar massiv, und es passt in mein persönliches Weltbild, dass sich ein Gebiet manchmal im theoretischen und manchmal im praktischen Bereich entwickelt, manchmal in beiden und manchmal in beiden nicht – wo liegt da das Problem? Auch an der Physik interessiert mich letztlich nur der Effekt für die Menschen, auch dort, wo es um infinitesimal kleine Elemente oder auch um die große Leere des Weltalls geht, die jetzt offenbar doch nicht so leer ist, wie ich das lange angenommen habe, vielmehr ist sie offenbar prall gefüllt mit Wellen und eben diesen absurd kleinen Elementen, sodass sich hier doch schon mal ein Beitrag zur Anschauung eröffnet: Die Grenze der Erkenntnis wird eben doch durch die Grenze der Wahrnehmung bestimmt, und wenn wir hier immer feinere Wahrnehmungsinstrumente erzeugen, dann wird auch die Erkenntnis immer feiner. Anderseits versteht man auch immer besser, weshalb der Mensch mit einem derart beschränkten eigenen Wahrnehmungsvermögen ausgestattet ist. Wie wollte noch ein komplexes und wunderbares Hirn all die Informationen nur schon aus dem Weltall sortieren und verarbeiten? Man bräuchte für das Hirn so etwas wie ein zusätzliches Betriebssystem. Vielleicht gibt’s das ja noch bei Gelegenheit, aber vorderhand muss man sich einfach mit dem begnügen, was man hat.

Natürlich hat die theoretische Physik einen großen Einfluss darauf, wohin sich die praktische Physik entwickelt. Wenn die theoretische Physik nicht mehr weiterkommt, bleibt auch die praktische Physik irgendwann mal stecken. Anderseits erscheint die Fragestellung für die theoretische Physik für einen Laien wie mich relativ einfach: Die theoretische Physik muss doch ganz einfach immer kleinere Elemente bzw. immer größere Dimensionen erforschen und stößt dabei automatisch auf Ergebnisse, welche die notwendigen Rückschlüsse auf die anstehenden Fragen ermöglichen. Und wenn halt auch der Large Hadron Collider im CERN in Genf halb soviel Strom frisst wie die ganze Stadt Genf, dann ist gegen Spitzenforschung und Spitzenexperimente halt eben doch nichts einzuwenden. Mir gefällt auch jenes Experiment, bei dem von Genf aus irgend solche Kleinst-Mikroelemente durch die Erdschicht irgendwo in ein Kaff im Italienischen Appennin gepulst werden, was dann Rückschlüsse erlaubt auf, woher, bitte, soll ich das wissen? – Aber die Vorstellung, dass sich da eine unendlich kleine Rohrpost innerhalb von Milliardstelsekunden auf den Weg nach Siena oder Rieti macht und retour, diese Vorstellung finde ich nun mal einfach schön, unabhängig von der Klimaerwärmung oder von ausländerfeindlichen Bewegungen.

Immerhin ist auch die Vorstellung lustig, dass sich solche Kleinstelemente im Lauf der Geschichte zu immer höheren Ordnungssystemen zusammengefunden haben, welche am Schluss nicht nur Materie, sondern eben auch geordnete Materie und am Schluss sogar Sozialsysteme hervorbringen, welche ihrerseits ganze Menschenhorden zum völligen Verlust jenes anderen Ordnungssystems, das man Anstand nennt, und vor allem des Hauptordnungssystems mit dem Namen Intelligenz führen. Ich glaube, darin erkennt man unabhängig von physikalischen Grundsätzen ein ganz zentrales Element der Quantentheorie: In bestimmten Quantitäten verhalten sich die Dinger anders als in höheren oder kleineren Quantitäten, wodurch ich jetzt glücklich wieder beim zweiten Hauptsatz nicht der thermischen Physik, sondern der materialistischen Dialektik gelandet wäre, beim Umkippen von Quantität in Qualität; Ihr seht schon, in der Dialektik ist schon recht intelligent gedacht worden, und es empfiehlt sich, dieses System nicht etwa mit Rhetorik zu verwechseln oder mit einem einfachen Muster These – Antithese – Synthese; dieses Muster wird durchaus regelmäßig beobachtet, ist aber dennoch alles in allem eher zufällig als zwingend.

Aber Smolin spricht nicht davon, dass sich die theoretische Physik nicht ins Große bzw. ins Kleinste vorwage (was sie ja eben doch tut, bei allen Mühen und Nöten), sondern er spricht von der sogenannten String-Theorie. Zu dieser String-Theorie kann ich mich nun auch äußern, ohne sie zu kennen, weil sie laut Smolin jene Theorie der Physiker ist, welche alles umfasst. Gleichzeitig ist sie offenbar noch nicht mal in Umrissen bekannt, aber die überwiegende Mehrheit der gegenwärtig wirksamen theoretischen Physiker stützen sich auf ihre Existenz. Die String-Theorie erklärt alles und vereinigt die größten Widersprüche der klassischen und der Quantenphysik sowie alle noch zu erwartenden Abweichungen unter ihrem Hut. Aber wie gesagt: Man ahnt sie nur, man kennt sie nicht und macht seit 30 Jahren keinerlei Fortschritte in Richtung einer Bestätigung, Verifizierung oder wahrscheinlich auch nur konkreten Ausformulierung der String-Theorie.

Einen durchschnittlichen Unternehmensmanager hätte sowas längstens die Stelle gekostet, aber die Wissenschaft geht gottseidank nicht nach dem Brot, sondern versucht sich im Gegenteil in Brot zu halten, auch wenn sie keine Ergebnisse produziert, und das kann man zunächst nur begrüßen. Wobei hier gleich anzufügen ist, dass der Großharst der Wissenschaft eben letztlich doch erheblich von den Geldgebern abhängt, wobei auch in Europa zunehmend private Sponsoren auf den Plan treten; aber auch sonst verlangen Hochschulen immer extremere Leistungsausweise. Aber dies beiseite. Jedenfalls erscheint mir nach der Lektüre des Vorwortes diese String-Theorie ein rechter Beschiss, und zwar, weil sie mir ein direktes Abbild zu sein scheint des Anspruchs einer marxistisch-leninistischen Theorie, welche auch relativ rasch die gesamte Welt in ihren Widersprüchen abbilden wollte und dabei in Rekordgeschwindigkeit zu einem unflexiblen dogmatischen Gebäude verkam, an dem noch heute einige besonders verwegene Geister herumbasteln. Dabei ist doch mindestens für die menschliche Gesellschaft ein solches Gerüst überhaupt nicht nötig. Schön ist eine Weltanschauung erst dann, wenn sie auf gewissen Gebieten einräumen kann, dass sie dazu entweder nichts zu sagen hat oder aber nur über ungesicherte Erkenntnisse verfügt. Zur heutigen Gesellschaftslage ist jede Analyse willkommen, bloß keine marxistische; dieser Mann ist seit 1883 tot, und ich habe keinerlei Lust darauf, meinen vor Jahren erfolgten Kirchenaustritt mit einer anderen religionsähnlichen Ideologie zu kompensieren. Ohne Karl Marx und die Kommunisten ist die moderne Gesellschaft undenkbar, aber man soll ihre Arbeiten bitte nicht als Instrument benutzen, die moderne Gesellschaft voranzutreiben. Ganz im Gegensatz zur von Marx angewandten Methode, eben der materialistischen Dialektik; die Lehre von der Einheit der Gegensätze eben mit ihren verschiedenen thermodynamischen Kernsätzen wie jenen von der Quantität, welche in Qualität umkippt oder kurz der elementare Grundsatz, wonach alles fließt und sich in ständiger Bewegung befindet, dagegen ist durchaus kein Kraut gewachsen, und sie hat denn auch in der Form von Netzwerken und Prozessorientierung ihren Eingang in die bürgerliche Wissenschaft gefunden.

Ob ich damit der theoretischen Physik wirklich weiter helfe, erscheint mir unsicher. Aber umgekehrt dünkt mich auch eigenartig, wie die PhysikerInnen offenbar wieder einen Gottesbeweis suchen, denn nicht anders kann ich diese schummrige String-Theorie verstehen. Es muss ein Großes, Einziges, Umfassendes, Alles Erklärendes geben, welches den Menschen im Weltall zusammenhält. Aber wieso denn auch? Die Physiker haben die Welt in den letzten 30 Jahren von Grund auf verändert; sie sollten darauf verzichten, sie jetzt auch noch erklären zu wollen. Soviel als siebzehnte Marx-Variation zu diesem Thema.

Wie ich höre, macht sich die SPD zähneknirschend daran, mindestens die übelsten Auswüchse der Hartz-IV-Arbeitsmarktreformen zu beseitigen, bevor sie auch diesbezüglich von der CDU abgelöst wird oder den ganzen linken Flügel an Die Linke verliert. Das ist einerseits schön; anderseits muss man angesichts der bisherigen Erfahrungswerte damit rechnen, dass aus diesen Anstrengungen ein noch verrückteres Reformprojekt hervorgeht, das den Sozialapparat nochmals aufblähen wird. Mit anderen Worten: Dass die SPD endlich mal die einzig vernünftige Schlussfolgerung zieht und sich für ein bedingungsloses und existenzsicherndes Grundeinkommen ausspricht, damit ist nicht zu rechnen. Am letzten Wochenende war ich an einem Grundeinkommens-Kongress in Basel, wo unter anderem das Solidarische Bürgergeld von Eurem Ministerpräsidenten Althaus ganz ordentlich was aufs Dach bekam. Es sei eine neoliberale Lösung, eine negative Einkommenssteuer, reiche zur Existenzsicherung hinten und vorne nicht aus und sei also insgesamt durchaus kein Grundeinkommensmodell. Da bin ich persönlich nun durchaus anderer Meinung. Das solidarische Bürgergeld gemäß dem Modell Althaus ist bedingungslos, es wird zwar durch Steuern finanziert, ist aber keine negative Einkommenssteuer, sondern eine klassische Sozialdividende, und was seine Höhe angeht, kann ich nur auf die Aussage von Dieter Althaus selber verweisen: Über die Höhe des solidarischen Bürgergelds entscheidet letztlich der politische Prozess. Wenn also die fortschrittlichen Kräfte im Land Deutschland stark genug sind, um der Überzeugung zum Durchbruch zu verhelfen, dass für eine Existenzsicherung, welche ihren Namen auch verdient, pro Monat 1200 EUR nötig sind und nicht 600 EUR, plus Krankenkassenprämien, womit wir bei den EUR 1500 pro Monat wären, wie sie Götz Werner vorschlägt, wenn man sich also darauf einigen kann, dann bietet das Solidarische Bürgergeld von Ministerpräsident Althaus dafür den geradezu idealen Einstieg. – Aber das geht dann wieder jenen Leuten nicht in den Kopf, die Marx unterdessen nicht mehr zur Bereicherung, sondern als Scheuklappen verwenden.



Albert Jörimann





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09.10.2007

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