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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Wellness"

[43.Kalenderwoche] In Zeiten aufkeimender Konjunktur geschieht in der Regel exakt das nicht, wozu die Konjunktur gut wäre, nämlich die Aktualisierung oder Modernisierung von Strukturen und Institutionen. Das heißt ...

... umgekehrt, dass allfällige Anpassungen eben in Zeiten mit schlechterer Konjunktur erfolgen. Krise als Chance, wie es so schön heißt. Ich weis nicht, ob das naturgegeben ist; eigentlich machen die Menschen auch dann Fortschritte, wenn ihnen nicht gerade irgendwer das Messer an den Hals setzt. Aber da sind wir wieder bei Themen wie Zyklen und Krisen, ganz abgesehen vom allgemeinen Menschenbild, das sich ja bei uns ungefähr im gleichen Masse ins Negative gekehrt hat, in dem sozialistische Ideale ihr Gewicht verloren haben. Wie bringt man den Menschen aus seiner natürlichen Faulheit und Trägheit heraus und verwandelt ihn in ein ideensprühendes kreatives Individuum? Was sich dann sofort in einer Explosion des Wirtschaftswachstums ausdrückt? Das scheint auf breiter Basis schlicht und einfach nicht zu gehen, und so heißts halt alle paar Jahrzehnte wieder: Die Welt ist reich, der Mensch ist schlecht, da hat er eben leider recht. Aber so ist´s ja auch wieder nicht. Wenn sich die Lage real und im ideologischen Bereich wieder etwas entspannt, kann man durchaus auch mal wieder über die langfristigen oder grundsätzlichen Möglichkeiten sprechen, welche für unsere reichen und postindustriellen Gesellschaften offen stehen. Grundsätzlich gilt, dass der Anteil der gesellschaftlich notwendigen oder auch Zwangsarbeit bei uns auf ein Minimum gesunken ist, was soll ich hier nennen: Vielleicht 10 Stunden pro Woche oder 5, was weiss ich. Die Frage stellt sich jetzt, wie man so was vernünftig organisiert unter Berücksichtigung der verschiedenen wirtschaftlichen und sozialen Zwänge, und es stellt sich im Weiteren die Frage, was die Menschen denn mit der verbleibenden Zeit anfangen sollen, wenn man mal unterstellt, dass sie nicht mit Bier und Korn aufgefüllt werden soll. Von der vernünftigen Organisation der Gesellschaft sind wir ziemlich weit weg, denn in den Betrieben wird generell gewaltig Druck gemacht auf längere Wochenarbeitszeiten, warum, weil die Leute so teuer sind, dass man sie möglichst lange ausnutzen will. Da hier unter anderem Zwänge aus dem internationalen Bereich bzw. aus den internationalen Absatzmärkten mitspielen, kann man sich dem nicht einfach mit frommen Wünschen entgegen setzen. Vielleicht gäbe es trotzdem Modelle, bei denen die teure Ware Arbeitskraft quasi doppelt hergestellt wird, sodass sich mindestens zwei Beschäftigte in einen Job teilen könnten; die entsprechenden Kosten gehen ja zunächst zulasten des Bildungssystems und nicht der betroffenen Unternehmung. Ob dann allerdings der Lohn noch reicht oder wie die Wertschöpfung insgesamt und überhaupt aussieht, sind dann Fragen, welche sich nur in der Dunkelkammer der ökonomischen Orakel beantworten lassen. Unmöglich ist zum Vornherein nichts, aber wenn alles möglich ist, wird ja erst recht nichts getan. Jedenfalls wäre eine Verteilung der Arbeit auf mehr Hände, wie sie die Gewerkschaften vor zwanzig Jahren noch munter gefordert haben, auch heute noch durchaus machbar, wenn man es nur wollte.

Daneben aber wächst das Reservoir an Menschen, welche entweder sinnlose Tätigkeiten ausüben oder überhaupt keine, auch in Zeiten hoher Konjunktur ständig. Wohin mit dieser Reservearmee? Ich gehe davon aus, dass man auch hier ganz einfache Lösungen finden könnte, wenn man sich bloß an den effektiven Neigungen der Menschen orientiert. Zum Beispiel ist schon länger eine neue Art von Vakuum entstanden allein durch die Tatsache, dass die Menschen unterdessen um 15 Jahre älter werden als vor 40 Jahren. Dies führt automatisch dazu, dass verschiedene Lebensziele massenweise außer Gebrauch gefallen sind. Vor allem im zwischenmenschlichen Bereich bestehen große Lücken. Im klassischen bürgerlichen Gesellschaftsmodell knüpft man seine Beziehungen zunächst in der Familie, dann in der Schule und schliesslich am Arbeitsplatz, darüber hinaus vielleicht noch in Vereinen oder ähnlichen Organisationen. Aber all dies nimmt an Bedeutung ab, bei den Vereinen nicht zuletzt deswegen, weil sich hartnäckig Ideologien und Strukturen aus dem letzten Jahrhundert halten. Somit bleibt ein zunehmender Teil von Menschen ohne ein Forum, in dem sie auch mit zunehmendem Alter noch neue Beziehungen knüpfen können. Dabei ist dies wahrscheinlich auch nicht so einfach, weil die meisten Menschen mit der Zeit in der Form so genannter Vorlieben unsinnige Verknöcherungen entwickeln und partout nichts mehr Neues sehen und lernen wollen; auch hier sind wir mit dem Kaczinsky-Phänomen konfrontiert, dass man im Lauf des Lebens zunehmend nur noch sich selber kennen will. Daran wäre schwergewichtig zu arbeiten, und ich begreife nicht, wieso nicht schon längstens mit Volldampf auf diesem Sektor gearbeitet wird. Stattdessen betrachtet man ihn nach wie vor als zweit- oder drittrangig, und die Aktivitäten, die hier ja sehr wohl bestehen, haben gesellschaftlich gesehen einen sehr geringen Stellenwert. Wieso denn auch? All die Wellnessbereiche könnten doch locker ausgedehnt werden mit zusätzlichen Dienstleistungen; und wenn man halt mal jemandem sogar 10 Euro dafür zahlen müsste, dass sie oder er mindestens aufmerksam zuhört, wäre nicht mal das ein so gar übles Übel, auch wenn sich alle kritischen antikapitalistischen Fasern natürlich gegen das weitere Vordringen der Warenwirtschaft in die Intimbereiche sträuben ÐÊes ist zu spät, vermute ich, und mindestens nach meinen Beobachtungen gibt es im Moment einfach nicht genügend Leute, welche so was freiwillig machen würden, eben nicht zuletzt deshalb, weil sie ohne Bezahlung immer nur sich selber suchen und als Masstab vorgeben. Insofern hat ja das Geld für solche Leistungen einen geradezu befreienden und emanzipatorischen Charakter.

Oder aber Freizeitbereiche. Ich würde mir ja gerne einmal eine ganze Region vorknöpfen und in dieser Region so etwas wie einen echten Freizeitpark herstellen. Damit meine ich nun nicht einfach einen Vergnügungspark, wobei ich Vergnügungen durchaus nicht ausschließen würde. Aber grundsätzlich müsste es doch möglich sein, in einer Region ein Angebot an vernünftigen Fressbeizen, Übernachtungsmöglichkeiten, Spielgelegenheiten und auch körperlichen und geistigen Tankstellen aufzubauen? In diese Bereiche könnte man ja hineinpacken, was man gerade will, sei es, dass man sich selber ein Kleid schneidert oder einen eigenen Schlager bastelt oder auch nur an einem politischen Grundsatzgespräch mit Vertretern verschiedener politischer Richtungen oder Projekte teilnimmt wenn man dazu noch ein paar anständige Übernachtungsmöglichkeiten anbietet, bringt man damit doch ein gewisses Mindestmaß an Leben in die Bude, und zwar nicht erst von der Inbetriebnahme an, sondern durchaus bereits bei der Konzeption und Umsetzung solcher Resultate.

Ich bin absolut überzeugt davon, dass die Menschen solche Ideen in Zukunft massenweise entwickeln und umsetzen werden, aber bis es soweit ist, dauert das für meine Begriffe manchmal doch etwas langsam, und daran sind weiss Gott nicht immer nur die Machtverhältnisse schuld. Das gilt übrigens nicht nur für Deutschland oder für die neuen Bundesländer, bei weitem nicht, aber immerhin.

Oder nehmen wir den internationalen Austausch! Gibt es auf dem ganzen Gebiet der ehemaligen DDR zum Beispiel ein Zentrum, welches sich schwergewichtig an die EinwohnerInnen der ehemaligen Bruderstaaten richtet, sei es im kulturellen Bereich oder für Schulungszwecke oder was weiß ich? In der Schweiz ist die Lage relativ einfach, da kann man sich in den französischen Landesteil begeben und hat den Kulturwechsel ziemlich günstig, wenn man denn will; aber bei Euch liegt Frankreich etwas weiter entfernt, im Gegensatz zu Polen. Soviel ich beobachte, findet der Austausch durchaus statt, vor allem im wirtschaftlichen Bereich; aber dass sich davon etwas in der Öffentlichkeit oder eben in ein paar touristischen Angeboten niederschlagen würde, davon habe ich bisher noch nichts gesehen. Oder, falls Ihr immer noch auf die konventionelle Sorte des Wirtschaftswachstums setzt: Wieso baut Ihr denn nicht auf die Wachstumsgiganten China und Indien? Gibt es nennenswerte Länderrepräsentanzen in China, nur als Beispiel, welche die Vorzüge der ehemaligen DDR wohlhabenden potenziellen TouristInnen anpreisen? Gibt es eine marginale chinesischsprachige Infrastruktur oder mindestens eine englischsprachige Infrastruktur? Oder wie steht es mit den früheren Kontakten nach Russland und mit den verschütt gegangenen Russisch-Sprachkenntnissen?

Ich weiß, ich weiß, da stecken einige schlechte Erinnerungen dahinter. Aber jetzt, bald 20 Jahre nach dem Fall der Mauer, darf man sich doch auch an die aktive Bearbeitung dieser Erinnerungen machen. Es gilt auch für die Allerverstocktesten unter Euch: Die Sowjetunion existiert nicht mehr. Also kann man doch mal schauen, ob sich etwas mit Russland anfangen lässt.

Wie gesagt, es geht mir hier nicht um die sowieso bestehenden wirtschaftlichen Beziehungen, sondern um eine gewisse Öffnung in den Köpfen. Wir leben nun mal in einer globalisierten Welt, und wenn man diese Globalisierung richtig spielen kann, dann bringt sie doch auch zuhause nichts als Vorteile.

Wie auch immer. Ich kann noch melden, dass auch unsere Ferienregion in Italien, nämlich das berühmte Molise, von dem auch Jan Weiler in seinen unterdessen berühmten Büchern wie Maria ihm schmeckst nicht spricht, wieder einmal das Licht der Publizität erblickt hat. Nämlich meldete der Espresso vor zwei Wochen, dass der Präsident der Region Molise, der Forza-Italia-Mann Michele Iorio, zur Durchführung der Miss-Italia-Wahl 48'000 Euro aus einem Fonds beigesteuert hat, der eigentlich für die Opfer eines Erdbebens vor etwa vier Jahren eingerichtet worden war. Seine Begründung: Damit werde die Bekanntheit der Region erhöht und damit das Wirtschaftswachstum, was wiederum indirekt den Erdbebenopfern zugute käme. Da muten die 48'000 Euro geradezu bescheiden an. Was meint Ihr: das könntet Ihr doch auch machen! Oder gibt´s bei Euch keine Erdbeben? Ein paar Seiten weiter hinten heißt es in der gleichen Ausgabe des Espresso, dass der Präsident des Regionalparlaments von Molise 117 Personen in die Leitungsorgane verschiedener großenteils unnützer Organe ernannt habe, wovon rund 90 , also vier Fünftel, der Mitte-Rechts-Mehrheit angehören; sie erhalten so oder so Sitzungsgelder und zum Teil Funktionsentschädigungen von bis zu 9000 Euro pro Monat für die Präsidenten. Besonders lustig sind zwei Ernennungen in den Seniorenrat; die beiden Betroffenen sind noch keine 40 Jahre alt. Im Dezember sollen weitere Ernennungen folgen. Dazu kann ich nur anfügen: DA, wo wir jeweils hingehen, gibt es so ne Sachen nicht.



Albert Jörimann





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24.10.2007

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