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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "Kiel"

[07.Kalenderwoche] Letztes Wochenende habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Labskaus gegessen, und zwar mit Blick auf Kalifornien und Brasilien. Jetzt stimmt das natürlich nicht ganz, denn wirklich gesehen habe ich nur ...

...Brasilien, und Kalifornien musste ich mir dazu vorstellen; immerhin liegen die beiden Dörfer hinter Laboe, und damit müsstet Ihr als Stammdeutsche jetzt ungefähr wissen, wo ich war, nämlich in Kiel. Es handelt sich dabei um eine durchaus charmant nichtssagende Stadt, deren Hauptbahnhof mehr oder weniger nahtlos in einen Hafen übergeht mit immer noch ziemlich umfangreichen Wertanlagen, welche wohl auch der Hauptgrund dafür sind, dass es in Kiel keinerlei historischen Stadtkern oder überhaupt nur ein Gebäude gibt, das älter wäre als, rechnen wirs mal aus: rund 64 Jahre. Die Nazis bauten dort offenbar ihre Unterseeboote, und dementsprechend liegt eines auch am Strand von Laboe ausgestellt und frei zur Besichtigung, während sich hintendran ein wunderbares Ehrenmal für die ertrunkenen U-Boot-Besatzungen erhebt, das in seiner Schönheit keinem einzigen Stalin-Denkmal nachsteht. Heute aber liefern die Kieler Werften überall hin, wo es der Anstand nicht gerade verbietet; ich glaube, unter anderem gehen Kieler U-Boote an Israel. Für den Privatgebrauch sind sie offenbar noch nicht so in Mode, wie dies im Luftverkehr unterdessen der Fall ist mit den Business Jets; dass die Erste Klasse derart geschrumpft ist und auch die Business Class nur noch ein jämmerliches Echo verflogener Glanzzeiten, hängt vor allem damit zusammen, dass schon mittlere Unternehmen heute mit eigenen oder geleasten Jets in der Welt herum düsen. Aber mit Unterseebooten kann man natürlich nicht besonders viel Zeit gewinnen, außer es gäbe da plötzlich völlig neue Antriebstechniken oder Fortbewegungsmethoden im Meeerwasser.

Davon abgesehen aber ist Kiel eine wirklich angenehm normale Stadt mit einigen Grün- und Wasserflächen, erstaunlich vielen Hügeln rund herum und ausgedehnten Waldbeständen, in denen sich das spazierende Herz gern verlieren kann. Habe ich mir sagen lassen. Daneben wars vor allem eines: kalt. In den Alpen, das heißt hier bei uns in den Voralpen, ist es 10 Grad warm, in Kiel lag Schnee, und die Temperatur war ziemlich 0 Grad Celsius bei steifem Ostseewind, den die Einheimischen natürlich gar nicht bemerkten, versteht sich. Wir aber schon.

Und dann der Labskaus! Labskaus mit Spiegelei, einem Hering und Gurke und Randen, die Ihr beu Euch wohl Rote Beete nennt. – Aber davon vielleicht ein andermal, und vielleicht auch nicht. Nur soviel: Eine echte Konkurrenz zu den Thüringer Bratwürsten ist das nicht.

Jedenfalls ist Deutschland doch ein ulkigeres Land, als ich lange Zeit angenommen habe. Allein Schleswig Holstein verfügt über eine voll ausgewachsene Ost- und eine Westküste im Raum von, was weiß ich, vielleicht 150 km. Die Arbeitslosen können auf Staatskosten Dänisch lernen, weil in Dänemark die Wirtschaft floriert, und der Nordsee/Ostsee-Kanal soll die grösste Schleuse der Welt beinhalten, mindestens solange der Panama-Kanal nicht modernisiert ist.

Anschließend machten wir noch eine Stadtrundfahrt im nicht weniger kalten Hamburg, das uns vor allem durch die schier unermessliche Anzahl an Villen beeindruckte – Handel lohnt sich offensichtlich, und dementsprechend müsste man eigentlich der Welthandelsorganisation zum Vornherein applaudieren, weil wir doch auch alle so weiße Villen an der Alster haben wollen. Nä, das war wirklich eindrücklich, und dass der Hamburger Sportverein am Samstag auch noch den ersten Sieg seit 1000 Jahren erzielt hat, passte da gut ins Gesamtbild.

Naja, so wirklich viel gesehen haben wir an einem Wochenende natürlich nicht; aber es scheint sich doch um eine recht prosperierende Region zu handeln, die etwas weniger anfällig ist auf die jüngsten Krisen im Automobilbereich oder teilweise auch im IT-Sektor; bloß dass halt der Wind da immer so steif pfeift. Im Sommer, haben wir uns sagen lassen, spielt sich in und um Kiel das ganze Leben an den Stränden ab, wobei es sogar ausgeprägte Klassenunterschiede an diesen Stränden geben soll, Arbeiterstrände, Studentenstrände, der Strand für dieses Stadtviertel und der andere für jenes und so weiter. Aber noch bei diesem furchtbaren Nullgradwetter scheinen einige ganz hart gekochte Ureinwohner ans Meer und sogar ins Meer zu gehen, wenn nicht gerade Sturmflut herrscht.

In Hamburg hat mir übrigens unter anderem der Hinweis besonders Eindruck gemacht, dass die Deutsche Bahn beim Hauptbahnhof einige Probleme gehabt hätte mit Junkies, bis sie auf die güldene Idee gekommen sei, den Bahnhofsvorplatz mit klassischer Musik zu beschallen, namentlich Johann Sebastian Bach und Wolfgang Amadeus Mozart. Seither wären die Junkies praktisch verschwunden. Vielleicht betrifft dies nicht nur Junkies, denn auf der anderen Seite des Bahnhofes spielte ein Leierkastenmann, und dort pisste ein nicht ganz gebackener Hamburger einfach in einen Papierkorb, nachmittags um halb drei. Immerhin könnte man jetzt Rückschlüsse ziehen auf die Drogenpolitik der Regierung. Soviel ich weiß, will man auf Bundesebene jetzt wieder die Versuche mit der kontrollierten Abgabe von sauberem Heroin wieder abbrechen, man kann nicht sagen, weshalb, nämlich ob wegen oder trotz dem Erfolg, den diese Maßnahme aufweist; in dieser Beziehung kann die Stadt Zürich nämlich eine halbe Oper singen. Aber wenn das in Hamburg Schule macht, dann wird die Bundesregierung in Zukunft einfach sämtlichen öffentlichen Räume mit vorwiegend deutschen Komponisten beschallen, und die Drogenfrage ist gelöst. Das ist wirklich prächtig. Offenbar hat sich die klassische Musik in den Köpfen einiger besonders vernagelter Drogenpolitiker ebenfalls zu einem Geschwür zusammengebraut, aber wahrscheinlich ist es nicht die klassische Musik, sondern es ist eben das Humpä-Humpä-Humpä-Täterää aus den Biergärten und Faschingsveranstaltungen, wo die Leute nachher eben in die Papierkörbe pieseln, weil sie die toilette nicht mehr finden; aber für die Ablehnung der Abgabe von Heroin an Schwerstsüchtige langts alleweil.

Daneben sprachen wir aber kaum über Politik, wenn man mal davon absieht, dass einer unserer Gastgeber von Helmut Schmidt sprach, der da irgendwo in der Nähe wohne, und zwar sozusagen als letztem Arbeiterpolitiker der SPD. Das hat mich dann wieder etwas erstaunt. Helmut Schmidt war vielmehr jener, der vom gestrauchelten Willy Brandt das Kreuz aufnahm und ganz und gar eine kapitalistische Politik zu betreiben begann, wie sie anschließend dieser längstens ungegangene Unglücksgerd Schröder noch zu Ende führte. Er war mit anderen Worten genau jene Figur, welche die Zusammenführung der Politik von SPD und CDU einleitete oder mindestens fortsetzte. Von diesem Kuddelmuddel haben nun offenbar auch die CDU-Mitglieder zunehmend genug. An der Führungsspitze treiben sies sowieso wild wie wild: Neben dem Bürgergeld-Vorschlag von Ministerpräsident Althaus, den ich hier erneut positiv hervorheben möchte, stellen sich vereinzelte CDU-Politiker jetzt offenbar auch hinter die Lohnforderungen der IG Metall. Und dabei hatten wir Norbert Blüm doch schonlängstens verloren gegeben! Aber die soziale Ader macht sich überall dort bemerkbar, wo sie gewisse neue Wählerschichten zu erschlie∂en verspricht. Ansonsten aber herrscht wirklich ein unsäglicher Einheitsbrei. Nun sollte man sich nicht vorstlelen, dass all jene Leute, die sich darüber aufhalten, auch eine gemeinsame neue Linie formulieren. Soweit ist das nun überhaupt nicht. Wenn es irgendwann mal eine wirklich neue Ausrichtung gibt, wird die nicht mehr entlang der ehemaligen Grenze zwischen SPD und CDU verlaufen, sondern sie wird jene trennen, die sich eine Zukunft vorstellen können, und jene, welche sich keine Zukunft vorstellen können. Dies gilt mindestens so lange, als es keine weiteren Unterschiede bei der Formulierung einer Zukunft gibt. Aber darauf haben ja die meisten Leute schon längstens verzichtet. Deswegen ist dieser Einheitsbrei auch überhaupt möglich geworden.

Nun will ich daraus weder Euch Deutschen einen Strick drehen noch allenfalls mit betroffenen anderen Ländern und Bevölkerungen, wie z.B. der Schweizi. Vielmehr gehe ich davon aus, dass wir uns halt eben in einem großen Wandel befinden, und dieser Wandel findet nicht statt, weil ihn eine Gruppe von Vordenkerinnen und Vordenkern gestaltet hätte, sondern er findet statt aus Opportunitätsgründen, das heißt, er war nicht nur möglich, sondern er hat sich auch durchgesetzt. Nun muss man das erst mal anerkennen und auch die verschiedenen Instrumente ausprobieren, die einem damit neu in die Hände gegeben sind. Eines ist sicher: Im Moment ist es absolut sinnlos, etwa über das System zu fluchen oder auch nur nachzudenken. Diese Kategorie bringt überhaupt nichts, solange die Realität nicht einigermaßen sicher in Begriffen dingfest gemacht ist. Anschließend mag man sich dann wieder über solche Sachen streiten.

Albert Jörimann
13.02.2007

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