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Aus neutraler Sicht von Albert Jörimann "China und Russland"

[21.Kalenderwoche] Die Weltwirtschaft ist ja für uns mehr oder weniger nur ein Gleichnis. Was wissen wir schon von den effektiven Prozessen in all den Ländern rund um den Globus – na garnichts, und das macht uns auch ...

... die Schwurbler und Schwafler so abgrundtief unsympathisch, welche sich selber Experten nennen und vor allem von den Medien als solche immer wieder beigezogen werden. Dennoch spricht man halt in Gleichnissen von der Welt, so wie man in Gleichnissen vom Klima spricht, von der einfachen Wetterprognose für die nächsten 24 Stunden bis zum Abschmelzen der Polareiskappen, und auch der Börsenbericht zu Beginn oder zum Ende der Tagesschau ist nix wie Gleichnis. Am Schluss kommts darauf heraus, dass alles, was wirklich wahr ist und sich vor unser aller Augen abspielt, der Fußball ist, wenn da nicht gerade Schiedsrichter bestochen worden sind oder einzelne Spieler. Aber wenn der VfB Stuttgart Deutscher Meister wird im Fußball, wüsste man nicht so genau, wer denn hier wen bestochen haben sollte. Ach, was auch immer –

Dieses große Gleichnis Weltwirtschaft weist neben einigen Unbekannten manchmal auch bekannte Größen auf. Letzte Woche hat China das Fluktuationsband für den chinesischen Yuan von 0.3% täglich auf 0.5% täglich erhöht, wenn ich das richtig verstanden habe; der Yuan kann also gegenüber dem US-Dollar schneller stärker werden. Der Hintergrund dafür liegt darin, dass die chinesische Regierung verhindern möchte, dass sich sämtliche Inlandersparnisse Chinas auf den Inlandmarkt ergießen, der ohnehin schon überhitzt ist. Deshalb hat man zusätzlich die Einschränkungen für Auslandinvestitionen gelockert. Mit anderen Worten: Der Chinese, der jetzt 15 Jahre lang ununterbrochen und zuverlässig sämtliche Waren in unseren Warenhäusern hergestellt und geliefert hat, und zwar zu derartigen Spottpreisen, dass die Hälfte der produktiven Sektoren und der damit verbundenen handwerklichen Infrastrukturen bei uns verschwunden ist, ebendieser Chinese wird uns jetzt plötzlich reich. Denn es handelt sich längstens nicht mehr um die Kaufkraft einer dünnen Elite, nein, da explodiert uns ein neuer Mittelstand heran, während es im Westen des Landes oder insgesamt in den ländlichen Gebieten nach wie vor eine erhebliche Mausearmut gibt. Aber insgesamt kommen wir um die Feststellung schlicht nicht herum, dass der Chinese reich geworden ist.

Das war doch eigentlich eines der Entwicklungsziele, wie sie sämtliche fortschrittlichen Kräfte des Universums formuliert haben. Zugegeben, dieser Reichtum hat Nebenwirkungen, neben der sozialen Ungleichheit einerseits auch die Umwelt anderseits. Aber wenn China weiterhin so stark wächst und wenn das Wachstum zunehmend zum Inlandwachstum wird, dann kann man sich darauf freuen, dass auch hier in absehbarer Zeit die Umweltindustrie zu einem ebenso starken Wachstumsmotor wird wie in anderen Ländern.

China ist in dieser Bewegung nicht das einzige Land, aber es dünkt mich das spannendste, weil gleichzeitig am einfachsten zu begreifende. In Indien beispielsweise brummt ja die Wirtschaft ebenfalls wie narrisch, aber dort sind die Auswirkungen auf einen sogenannten Mittelstand nicht so klar ersichtlich wie in China, vor allem auch wegen der langen Tradition einer reichen und mächtigen Oberschicht, welche sich den gesellschaftlichen Mehrwert aneignet. Wahrscheinlich bildet sich trotzdem auch in Indien ein Volksvermögen, aber wie gesagt, ich sehe das zu wenig deutlich. In China dagegen findet der Prozess vor aller Augen statt. Das Land unternimmt innert Rekordfrist die gleiche Entwicklung, für die die westlichen Staaten Jahrzehnte gebraucht haben. Und wenn es laut dem Ökonomen-Urvater Adam Smith die unsichtbare Hand des Marktes ist, welche dafür sorgt, dass das ökonomische Eigeninteresse bzw. die individuelle Gewinnsucht letztlich sich als Dienst an der Allgemeinheit auswirkt, indem die Prozesse und Erträge insgesamt verbessert werden, so kann man in China von einer sichtbaren Hand sprechen, nämlich die Staats- und Parteileitung, welche offenbar in einer ungeahnt hohen Sachkompetenz die Modernisierung des Landes seit den 70-er Jahren vorangetrieben hat. Ich würde an und für sich eine solche Entwicklung lieber den revolutionären Volksmassen in die Schuhe schieben, aber deren Führungsrolle sehe ich in diesem Zusammenhang nicht. Anderseits muss ich auch sagen, dass ohne den aktiven Einbezug der Volksmassen ein solcher Schritt nach vorn schon gar nicht möglich ist. Insofern ist die Kommunistische Partei wohl nicht viel anderes als der sichtbare Organisationsgrad in der chinesischen Massengesellschaft, und diese wiederum ist offenbar absolut tauglich für die Modernität. Ob sie denn auch wirklich modern ist, das wäre zu debattieren, denn da würde wohl unsere Vorstellung vom Individuum auf eine ziemlich grundlegend andere Vorstellung in China treffen; und es wäre bei dieser Auseinandersetzung noch nicht gesagt, wer zum Vornherein und wer zum Schluss Recht hat. Unsere Vorstellung von Individualität beinhaltet wohl ein ordentliches Stück an Selbstbetrug, denn im Gegensatz zu anders lautenden Äußerungen sind unsere ThüringerInnen, BayerInnen, SchweizerInnen und was sie sonst noch sein mögen doch ganz ordentlich konditioniert, vorbedingt durch die Auswirkungen der Massenmedien auf das allgemeine Bewusstsein. Dies gilt insbesondere heute, wo eigentlich keine radikale Opposition gegen die herrschenden Zustände mehr aktiv oder auch nur erkennbar ist. In gewissem Sinne ist unsere Gleichschaltung durchaus real; man braucht sich dafür bloß die Fernsehprogramme anzuschauen.

Aber nur Mut!, ich will hier nicht in Zivilisationspessimismus machen, denn ich kann gar nicht selber beurteilen, wie weit die Vorstellungen des autonomen Individuums in der Massengesellschaft per Definition ein Irrtum bzw. eine Fiktion ist, und das braucht mich hier auch nicht besonders zu kümmern. Fest steht bloß, und dies ist nützlich, dass der Chinese innerhalb von kurzer Zeit reich geworden ist und jetzt bald einmal beginnt, seinerseits Gratiswaren zu importieren von Ländern, welche seine ehemalige Rolle übernehmen. Das finde ich schlicht und einfach ausgezeichnet. Die Welt bewegt sich durchaus nicht immer in Richtung Untergang, nein, mein Herr.

In einem veralteten Vokabular könnte man sagen, dass uns somit in China ein Konkurrent heranwächst. Das wäre allerdings ziemlich vernagelt. Es ist doch einfach eine Tatsache, dass die internationalen Migrationsströme nur dann einigermaßen im Rahmen gehalten werden können, wenn der Reichtum nicht weiterhin so ungleich verteilt bleibt wie in den letzten 50 Jahren. Die Entwickungsländer müssen nach Möglichkeit selber auf einen vergleichbaren Stand kommen wie die entwickelten Länder; erst dann wird das Spiel wirklich lustig und wird der Austausch wirklich zu einem Austausch unter Gleichen. Das ist die tiefere Bedeutung des Falles China, und wir würden in den entwickelten Ländern gut daran tun, unsere Wachstumsprobleme etwas hintan zu stellen und noch stärker dafür zu sorgen, dass nicht nur China und Indien, sondern alle anderen Länder der Welt so schnell wie möglich einen wirtschaftlichen und sozialen Zacken zulegen. Wenn es denen gut geht, geht’s auch uns gut, soviel steht fest.

Aber wir haben ja offenbar andere Sorgen. Der Amerikaner muss jetzt dringend ein Raketenabwehrsystem an den Grenzen Russlands aufbauen in Polen und in der Tschechei, angeblich um allfällige Angriffe des Irans frühzeitig abzufangen. Das ist ein derart blöder Blödsinn, dass sich nicht mal mehr jemand drüber aufregt. Dies zeigt eine echte Gefahr der letzten Zuckungen von George W. Bush in seinem Amt. Seine Popularität ist wohl wieder so tief wie vor den Anschlägen auf die Zwillingstürme in New York, sodass man sich fragt, ob dem jetzt nochmals so etwas beifällt, wo er die einzige Rolle spielen kann, die ihm behagt, nämlich der militärische Sandkasten. Gibt es noch dringend ein weiteres Land zu befreien, oder hats wenigstens irgendwo noch Erdöl?

Stattdessen rumpelt Eure Bundeskanzlerin und temporäre EU-Vorsitzende Angela Merkel beim alten Putin zuhause rum und veranstaltet ein Getöse in den Kulissen, als hätte der Wladimir soeben in einem Staatsstreich eine blühende Demokratie in eine bluttriefende Diktatur verwandelt. So habe ich das aber nicht in Erinnerung. Russland zählt ebensowenig wie China zu den Ländern, wo man die Theorie der unsichtbaren Hand als Sofortrezept anwenden sollte. Ich glaube durchaus nicht, dass sich die russische Seele nach dem Herrgott und der Knute sehnt, wie dies einige vorrevolutionäre Interpreten und viele aktuelle Nostalgiker sehen. Aber es braucht doch eine gewisse Zeit unter einer möglichst straffen Führung, bis sich neue Strukturen etabliert haben, im Rahmen derer zunehmend so etwas wie Freiheit sich entfalten kann. Ein zentraler Teil solcher Strukturen ist, wie in China, ein zunehmender Wohlstand bei breiten Schichten der Bevölkerung. Und, bei Gott, auch Russland weist ganz erhebliche Zunahmen des realen Einkommens aus, und zwar ebenfalls nicht nur bei den Spitzenverdienern, um die wir uns eigentlich noch nie besonders gekümmert haben, sondern wirklich bei der breiten Bevölkerung. Auch hier gilt, dass der Wohlstand oder Ansätze davon noch durchaus nicht sämtliche Bevölkerungsteile erreicht hat. Aber bei aller Kritik sollte man die objektive Entwicklung nicht außer Acht lassen. Und wenn halt Russland jetzt beginnt, seine Energieposition in eine politische Position umzumünzen, wer wollte es dem Land verdenken? Wenn ich mir vorstelle, was die Vereinigten Staaten von Amerika im Bereich Energiepolitik bzw. Außenpolitik in den letzten Jahren angestellt haben, ist dies wohl noch die läßlichste Sünde unter allen.

Albert Jörimann





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22.05.2007

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