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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Die antirussische Blendung

In Sachen Russland unterliegen ordentlich viele Menschen im Westen und vor allem praktisch alle Medien, also die allgemein bekannte Lügenpresse einer ordentlichen Blendung.



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> Download Sie beruht im Westen auf dem alten antisowjetischen Ressentiment und im Osten selbstverständlich ebenso, bloß anders, nämlich auf der fünfundvierzigjährigen Erfahrung der Besetzung durch die Freunde von C und A. Insofern ist dieses Verhau in den Köpfen erklärbar, aber bald dreißig Jahre nach dem Zu­sam­menbruch des Ostblocks nicht mehr besonders sexy. Die Blendung führt unter anderem dazu, dass hellsichtige, objektive und neutrale Beobachterinnen in Versuchung geraten könnten, aus purem Ärger eine Gegenposition einzunehmen und alles, was aus dem tiefen Osten kommt, für gut zu befinden. Allerdings umschiffen hellsichtige, objektive und neutrale Köpfe diese Klippe leicht, im Gegensatz zu anderen Figuren, welche auf solche Blendungen mit einer Gegen-Blendung reagieren. In einem historisch doppelt geknickten Pakt unterliegen die Damen und Herren des rechten Nationalismus und eben der Kritik an der Lügenpresse exakt diesem Irrtum. Salvini, Le Pen, Höcke, der niederländische blon­dierte Malaie und das ganze Balkan-Orchester vom geflüchteten mazedonischen Minister­präsi­den­ten bis zu seinem ungarischen Gastgeber bilden aktuell die Riege der Moskau-Fans, wobei ihnen Russland eigentlich komplett egal ist, ebenso wie so etwas wie Wahrheit oder gar historische Wahrheit; sie sind vielmehr Ingenieure aus Forschung und Entwicklung im Bereich Macht­poli­tik und mit einer Versuchsreihe beschäftigt, wie sich Macht erlangen und erhalten lässt mit jenem Treibstoff, den das kollektive Unterbewusstsein erzeugt, wenn es die Grundwerte der kollektiven Moral in den Scheißdreck tritt und dies zur Wahrung der eigenen Identität als Heldentat versteht. Wer kennt das nicht aus seiner eigenen Erfahrung, meinet­wegen von jenem historischen Ort, den die Wissenschaftler mit «hinter dem Bierzelt» bezeichnen: einmal so richtig und tüchtig neben die Kloschüssel pissen, sich dafür halb schämen und halb stolz sein auf den Mut, sein eigenes Über-Ich mal so richtig männlich überwunden zu haben und schließ­lich im Verbund mit anderen Besoffenen damit erst so richtig zu prahlen – das ist eine unver­meid­liche Stufe der Entwicklung vom Kind zum Mann, und die meisten Individuen schaffen dies ohne bleibende Schäden, nur ein paar Nationen und Rechtspopulisten sind in dieser Phase stecken geblie­ben, vielmehr und historisch gesehen: bleiben immer wieder in dieser Phase stecken, und insofern ist der rechte Populismus gar kein ideolo­gisches, sondern ein rein entwicklungsphysiologisches Phänomen und der identitäre Diskurs gleich hinterher. Der Stolz darauf, neben die Kloschüssel gepisst und geschissen zu haben.

Aber davon wollte ich eigentlich gar nicht sprechen, sondern über den völlig naiven Anti­sowje­tis­mus, welcher das Russland-Bild im sozialdemokratischen Medienkonsens nach wie vor prägt. Anhand des Doppel-Jubiläums der Befreiung von Auschwitz und des Endes der Belagerung von Leningrad kam er wieder einmal zum allerschönsten Ausdruck. Im Gegensatz zu den meisten andern Nachrichtenkanälen brachte es der österreichische Staats-Fernsehsender ORF nicht einmal übers Herz, das Verdienst der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz den Russen zuzu­ge­stehen. Der Nachrichtensprecher beziehungsweise der Redakteur hefteten diesen traurigen Orden geradewegs den US-Amerikanern an die Brust. Das ist schlicht halluzinogen. Bei Kanälen wie Russia Today weiß man zuverlässig, dass sie Propaganda verbreiten in einer wilden Mischung aus Lügen und Tatsachen, aber beim österreichischen Fernsehen ist nicht mal das nötig. Die sind so felsenfest überzeugt von immerwährend Guten und vom immerwährend Bösen, dass die Befreiung von Auschwitz einfach nicht durch die Russen erfolgt sein kann, unabhängig von Wahrheit und Geschichtsschreibung.

Es ging dann weiter mit den russischen Feierlichkeiten zur Befreiung von Leningrad, welche nicht überall, aber doch gerne und häufig zum Anlass genommen wurden, nicht etwa auf das existenzielle Grauen dieser zweijährigen Belagerung einzugehen, sondern der russischen Regierung einen Strick daraus zu drehen, dass sie anlässlich der Gedenkfeiern eine Militärparade durchführte. Stattdessen hätte man offenbar Zwieback auf die Massengräber legen müssen. Vom Stoff solcher Meldungen kann man sich keine Halluzination mehr abschneiden, das ist nur noch absolute Leere. Immerhin waren diese Töne vor allem außerhalb Deutschlands zu hören, in der Schweiz zum Beispiel oder eben wieder im österreichischen Staatsfernsehen, das ich übrigens sonst durchaus schätze und manchmal sogar verehre wegen seines tapferen Widerstandes gegen die Blödmänner von der FPÖ. Aber hier fühlte ich mich an den Österreicher-Witz erinnert, wonach es die größte Leistung dieses Landes sei, Hitler als Deutschen und Mozart als Österreicher verkauft zu haben.

Was soll's. An der antirussischen Blendung wird sich so schnell nichts ändern, was uns nicht daran hindern soll, die postsowjetische Gesellschaft im Innern und im Äußeren weiterhin mit einem gewissen Verständnis und nach Möglichkeit objektiv zu betrachten. Das schließt eine weitgehende Verachtung der russischen Informations-Kriegführung ein, einschließlich der Angewohnheit, Journalistinnen und Politikerinnen, die der Regierung nicht ins Konzept passen, einfach umzubringen. Im Februar jährt sich die Ermordung von Boris Nemtsow zum vierten Mal, Anna Politkowskaja wurde im Oktober 2006 umgebracht, und sie waren bei Weitem nicht die einzigen, die im Kerbholz von Wladimir Putin eingeschnitten sind. Daneben vermissen wir weiterhin die ernsthaften Ansätze zu einer echten Demokratisierung und zur Befreiung der wirtschaftlichen und Machtstrukturen aus den Klauen jener Bande, die sich das ganze Land unter den Nagel gerissen hat nach der Auflösung des offiziell kommunistischen Staates, eine Bande, die wesentlich die früheren Organisationsstrukturen der KPdSU beziehungsweise der Geheimdienste repliziert. Solche Befreiungsansätze werden wir vermutlich so lange vermissen, als ebendiese Bande die Macht in den Händen hält, und das kann noch lange dauern. Die effizienteste Unterstützung erhält sie selbst­ver­ständ­lich von ihren direkten Gegenspielern im Westen, die im Übrigen jeweils ganz gerne Geschäfte machen mit Putin und seinen Kolleginnen. Manchmal muss man dafür an seinen Prinzipien etwas herumzerren und basteln, wie jetzt bei der Aufhebung der Sanktionen gegenüber dem russischen Aluminiumgiganten Rusal; einige Retuschen im Aufsichtsrat waren vonnöten, ein kleiner Aktientausch des Rohstoffgiganten Glencore von Rusal gegen En+, und schon tauchte der Aluminium-Weltmarktpreis, während der Rusal-Aktienkurs in die Höhe schoss. Alles ganz wunderbar. Und noch übrigenserer füge ich auch an dieser Stelle an, dass es ohne jeden Zweifel nicht besonders einfach ist, ein derart großes Land einigermaßen friedlich durch die Zeit zu steuern – insofern muss man die Bandenstrukturen sogar mit einer gewissen Milde, wo nicht überhaupt Respekt betrachten.

Und eben: kein Wort mehr über die Annexion der Krim und auch nicht über die Aufständischen in der Ostukraine beziehungsweise über die Ukraine insgesamt, deren politische Bandenstruktur mich eindeutig in größere Empörung versetzt als jene in Russland, wo man eben doch die Notwendigkeit der Einheit des Landes unterstellen muss. In der Ukraine ist dies durchaus nicht der Fall.

Kürzlich habe ich wieder mal ein Interview mit Hanswerner Sinn gelesen, eurem ehemaligen Münchner Chefökonomen, von dem ich keine übermäßig hohe Meinung habe, was nichts zur Sache tut, denn die hat er ja schon selber von sich. Das heißt nun nicht, dass der Mann in allen und insonderheit in allen volkswirtschaftlichen Dingen unrecht hat. Seine Kritik an der Einführung des Euro, welche er als verfrüht bezeichnet, kann man uneingeschränkt teilen. Die Währungsunion ohne gleichzeitige Vereinheitlichung der entsprechenden Instrumente der nationalen Wirtschafts- und Währungspolitik ist ein ziemlich frivoles Unternehmen. Dass Hanswerner Sinn allerdings nach wie vor behauptet, der deutsche Steuerzahler finanziere die Schuldenpolitik anderer Euro-Länder, zeigt die nationale Borniertheit des Volkswirts. Die deutschen Steuerzahlenden können so etwas und auch andere Sachen wie zum Beispiel ihr eigenes Bankensystem nur deshalb finanzieren, weil sie beziehungsweise weil die deutsche Volkswirtschaft mit der Einführung des Euro den Schnitt des Jahrhunderts gemacht hat. Die Details dazu können wir gegebenenfalls bei einem gemeinsamen Symposium besprechen, aber die eine Aussage, eben vom armen deutschen Steuerzahler, ohne die andere, vom Profiteur Deutschland beim ganzen Manöver, ist wie ein Backenbart ohne Schnauzer, und insofern ist Sinn ganz eindeutig unser Mann.

Im weiteren warnt er vor einem harten Brexit. Dem kann ich mich aus dem einfachen Grund nicht anschließen, weil ich keine Ahnung habe, wie ein solcher aussehen wird. Es ist kaum vorstellbar, dass von einem Tag auf den anderen alle Kommunikationskanäle zwischen England und dem Rest Europas inklusive Irland gekappt werden, anders gesagt: Man kann mit einiger Wahrscheinlichkeit vermuten, dass auch ein harter Brexit nicht so schnell so katastrophale Konsequenzen haben wird wie angenommen und wie zum Teil auch erhofft, nämlich erhofft von jenen Leuten, die sich wünschen täten, dass das britische Volk nun auch mal tatsächlich zu spüren erhielte, was die eigene Dummheit kostet. Aber das ist offensichtlich kurzfristig gedacht. Im Übrigen hat sich hier damals gezeigt, und es ist heute Zeit, das zu wiederholen, wie man sich die direkte Demokratie eben nicht vorzustellen hat. Man soll direktdemokratische Abstimmungen nicht dann abhalten, wenn es einem geistig mehr oder minder bemittelten Tory-Politiker beifällt, sondern gemäß klaren Spielregeln, dies dann aber regelmäßig. In der Regelmäßigkeit beziehungsweise im Prozedere selber steckt schon die Hälfte der direktdemokratischen Wirkung. Wenn die wichtigen gesellschaftlichen Kräfte im Land wissen, dass ihre Widersacher mehr oder weniger jederzeit über eine Volksinitiative oder über ein Referendum in den politischen Prozess eingreifen können, und zwar über Jahre, ja Jahrzehnte hinweg, dann prägt dies den politischen Prozess selber recht markant, sobald man mal die ersten Erfahrungen hinter sich gebracht hat. Daran denken wohl auch die rechten Populisten nicht, welche sich die direkte Demokratie eben tatsächlich à la Cameron vorstellen, wobei sie selber nach Belieben die Volksrechte an- und abknipsen können. So läuft das eben nicht.



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Albert Jörimann
29.01.2019

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