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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Die zwanziger Jahre

Eins vorweg: Die thailändischen Exporte sind im November um fast 8% gesunken gegenüber dem Vorjahr. Gleichzeitig brachen die Importe um 13.9% ein. Damit betrug der Handelsüberschuss gut 2 Milliarden Dollar, ungefähr gleich viel wie im Vormonat.



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> Download Der Privatkonsum fiel um ein halbes Prozent tiefer aus als im Oktober, der Leistungsbilanzüberschuss stand bei 3.5 Milliarden, und für das gesamte vierte Quartal 2019 wird mit einem Wirtschaftswachstum von 2.5% gegenüber dem Vorjahr gerechnet.

Nun aber zur Hauptfrage an diesem 31. Dezember 2019: Was bringt 2020, was bringt das nächste Jahrzehnt? Sollte sich die Einsicht durchsetzen, dass man ins Klima investieren sollte bezie­hungs­weise in den Umweltschutz, dann wären in Deutschland als erstes das Ministerinnen-Traumpaar Klöckner und Scheurer fällig, denn in ihren Ressorts sind Sofort­maß­nah­men angesagt, zum einen bei den Bauern und ihren Bäuerinnen, welche für eine umweltgerechte und eini­ger­maßen das Tierwohl beachtende Produktion ordentlich Knete erhalten müssen, während die Mas­sen-Mast­be­triebe und die Umweltvergifter lieber gestern als heute gesetzlich verboten und ge­schlos­sen gehö­ren, und in der Verkehrspolitik durch umfassende Investitionen in den öffentlichen Nah- und Fern­verkehr, einschließlich der Reaktivierung stillgelegter Eisenbahnlinien, Neubau gewisser Strecken und Kapazitätserhöhung dort, wo es angebracht ist, von der Verlagerung des Warentransportes von der Straße auf die Schiene gar nicht zu sprechen. Renovations- und Inno­va­tions­pro­gramme sorgen für die Halbierung oder Viertelung des Energieverbrauchs von Heizungen. Das Wirtschafts­minis­te­rium präsentiert einen Masterplan, wie der Ausstieg nicht aus der Kohle­energie, sondern aus der Automobilindustrie vonstatten zu gehen hat. Was tritt an die Stelle der fünf bis zehn Millionen Jobs, die in diesem Sektor in den nächsten Jahren flöten gehen, notabene mit oder ohne Umwelt­pro­gramm? Man hat die Wahl unter verschiedenen Branchen und muss je nach Entscheid die vor­ge­la­gerten Einrichtungen, namentlich die Universitäten und Fachhochschulen, neu ausrichten. Und selbstverständlich bleibt die Hausfrage jene nach der sozialen Organisation der Gesellschaft: welche Formen des Zusammenlebens sollen die zwanziger Jahre prägen? Familien? Haus­gemein­schaften? Partnerschaften auf Zeit? Und wie wird der vorhandene Reichtum verteilt? Wie bisher, noch krasser ungleich oder deutlich gerechter? Generell sollte die Entwicklung auf allen Ebenen in Richtung einer besser informierten, besser ausgebildeten und vor allem deutlich genussfähigeren Bevöl­ke­rung gehen – diesen Imperativ kennen wir nicht erst seit den Social-Media-Desastern, aber die Social Media haben den riesigen Bedarf an Erneuerung auf diesen Ebenen ganz klar an den Tag treten lassen.

Beim Ersatz für die verschwindenden Arbeitsplätze in der Automobilindustrie kann man überschlagsmässig damit rechnen, dass mittelfristig gut 2 Millionen Jobs entstehen können im Transportbereich für die erwähnten Renovations- und Ausbauarbeiten, namentlich bei der Bahn, dort immerhin auch in verschiedenen Annex-Industrien; ihr erinnert euch vielleicht an meinen Vorschlag, irgendwo in der Umgebung von Erfurt ein Werk für anständige Eisenbahn-Schlafwaggons auf die grüne Wiese zu stellen, das scheint mir tausendmal vernünftiger als die Vorschläge von Elon Musk für eine Tesla-Fabrik in Brandenburg. Ihr müsst euch das nur mal vorstellen: In Zukunft benutzen wir auf dem europäischen Kontinent und bis hinüber nach Wladiwostok für größere Distanzen nur noch Nachtzüge, welche ihre Strecken auf modernsten Fahrwerken still und leise herunterspulen und gleichzeitig einen wunderbaren Schlafkomfort bieten und erst noch in einem dicht getakteten Rhythmus hin und her gondeln. Was braucht es da noch diese sinnlosen Billigflugverbindungen zum Christkindlmarkt in Vancouver!

Daneben gibt es genug zu tun, zum Beispiel beim Ausbau der Internet-Verbindungen, wobei hier wieder mal die Bemerkung am Platz ist, dass man halt aufpassen muss bei der Privatisierung, und sei es nur der Deutschen Telecom, oder bei der Vorstellung, der Staat müsse aus seiner Beteiligung an diesem Unternehmen möglichst viel Geld in seine Haushaltskasse abzweigen, das dann dem Unternehmen fehlt, um die erforderlichen Investitionen vorzunehmen. Na dann, bitte, dann ist es jetzt halt am Staat, diese Investitionslücken zu füllen. Selber schuld. Respektive, selber schuld derjenige oder diejenige, welche das zu verantworten haben, und wer war das nochmals? Ich gehe mal davon aus, dass hier die Bestandteile der großen Koalition auch rückwirkend die Verant­wor­tung solidarisch tragen dürfen.

Und dann haben wir den Gesundheitssektor, wo es sich um den Wachstumssektor par excellence des nächsten Jahrhunderts handelt, man kann ihn auch Krankheitssektor nennen, denn zusammen mit der steigenden Lebenserwartung steigen auch die Aufwände, um die immer älter werdenden Leute einesteils tatsächlich älter werden zu lassen, andernteils dies auch zu anständigen Bedingungen und unter anderem also bei guter Gesundheit vonstatten gehen zu lassen. Hier veranschlage ich für das nächste Jahrzehnt einen Bedarf von grob geschätzt zwei Millionen neuen Stellen.

Insgesamt ist bei halbwegs nüchterner Betrachtung bald einmal raus, was zu tun wäre, sodass nur die Frage bleibt: Weshalb tut man es denn nicht? Weshalb ist Julia Klöckner Land­wirt­schafts­minis­terin? Weshalb bleibt Andi Scheurer in seinem Amt? Solche Kasperlefiguren hat eigentlich keine Demokratie verdient – und in einer autoritären Regierung hätten sie schon gar keinen Platz. Oder auch: Was unternimmt Jens Spahn dafür, dass die erwähnten 2 Millionen neuen Arbeitsplätze im Gesundheitswesen geschaffen werden, respektive: Weshalb unternimmt Jens Spahn nichts dafür, dass die erwähnten 2 Millionen neuen Arbeitsplätze im Gesundheitswesen geschaffen werden? Na – er streitet mit den Krankenkassen über ihre Defizite und nennt sie unecht, weil sie aus dem Abbau von Reserven entstünden, was verstehen mag, wer will. 2 Millionen neue Arbeitsplätze kosten sicher mehr als die diesjährige Milliarde an Defizit der gesetzlichen Krankenkassen, nämlich, wenn man mal von 80'000 Euro Jahreslohnkosten pro Stück ausgeht, 160 Milliarden Euro im Jahr. Das nenne ich mal eine volkswirtschaftlich relevante Zahl! Das ist soviel, wie die Automobilindustrie in ganz Deutschland absetzt! – Man sieht schnell, dass solche Entwicklungen nicht einfach mit einem Regierungsbeschluss umzusetzen sind, auch wenn es sich um einen Superminister handeln würde und nicht um Jens Spahn. Trotzdem wäre es lebensfroh, wenn irgendjemand auch in der Regierung mal die Größe hätte, ein paar Zahlen zu den bevorstehenden Veränderungen in die Welt zu setzen.
Habe ich für die Arbeitsplätze im Gesundheitssektor eine zu hohe Lohnzahl eingesetzt? Bei 4000 Euro brutto kommt man doch auch bei euch auf gut 80'000 Euro im Jahr. Vielleicht sind einige Pflegeberufe billiger, dafür kosten die Ärztinnen mehr, vor allem, wenn man sie von der Abwan­derung in die Spitäler in der Schweiz abhalten will. Immerhin werden demnächst die polnischen Pflegekräfte nicht mehr nach England weiterreisen, sondern schon in Berlin zu arbeiten beginnen. – Aber schauen wir mal: Wenn ich die 80'000 Euro mit den 45 Millionen Werktätigen multipliziere, erhalte ich eine Summe von 3.6 Billionen, was wiederum so viel ist wie euer ganzes Brutto­inland­pro­dukt, da kann etwas nicht stimmen. Der Rheinische Merkur schreibt, dass eine Vollzeitstelle im Durchschnitt 3770 Euro pro Monat abwirft, das liegt im Rahmen meiner Schätzung; allerdings sinkt der Durchschnittslohn für alle Beschäftigten, also inklusive Teilzeiterinnen, auf 2860 Euro brutto im Monat, was wiederum für alle 45 Millionen Werktätigen eine Summe von etwas mehr als 1.5 Billionen ergibt und damit im gesamten Bruttoinlandprodukt noch ein wenig Raum lässt für allfällige Unternehmensgewinne und sonstigen Schnickschnack. So wird das sein, und deshalb braucht Jens Spahn vielleicht auch nicht 160 Milliarden an Mehreinnahmen zu erzeugen, sondern bloß, sagen wir mal 120 Milliarden Euro im Jahr.
Da es sich hier um den Gesundheitssektor handelt, spielen die Marktmechanismen etwas anders als im Rest der Welt. Zahlstellen sind die Krankenkassen und wohl auch in Deutschland der Staat. Die Auswirkungen auf die Realökonomie umgekehrt finden sich bei den Herstellerinnen von Medi­zi­nal­geräten, Pillen, Verbänden, Krankenhäusern, in der Kranken-Administration und so weiter, sie finden sich aber auch bei jenen 90 Prozent der Nettolohnsumme, welche in den Konsum fließen, abgesehen vom Tausender, den der Staat pro Monat vom Gehalt als Differenz zwischen brutto und netto abschöpft. Mit diesen Angaben und Elementen kann man jetzt eine volkswirtschaftliche Gesamt­rechnung aufmachen, welche belegt, in welcher Form der Umbau der Gesellschaft von einer Automobilgesellschaft zu einer Krankenpflege-Gesellschaft erstens machbar wird und zweitens seine eigene wirtschaftliche Rationalität, die sogenannte Ökonomie enthält. Und damit ist die Aufgabe auch bereits erledigt!
Soviel also zu den Wirtschaftsaussichten für das nächste Jahrzehnt – es besteht Grund zu Optimismus. Umwelt und steigende Lebenserwartung sind nicht Probleme, sondern die Themen und wirtschaftlichen Elemente, welche der Gesellschaft zu neuer Prosperität verhelfen. Es bleiben also nur und weiterhin Fragen der sozialen Gerechtigkeit, die einer Antwort bedürfen. Der Hinweis ist am Platz, dass die Betrachtungsweise nach Verteilung von Einkommen und Vermögen zwar notwendig, aber nicht ausreichend ist. In einer Gesellschaft im abschließenden Stadium der internationalen Vollautomation beziehungsweise des gegen null tendierenden Warenwertes kann es nicht darum gehen, Zugriffsrechte auf möglichst viele Waren mit einem gegen null tendierenden Wert zu disputieren. Es geht, und diese Zuspitzung wird in den zwanziger Jahren anhalten, immer stärker um die Frage, welchen Sinn die persönliche Existenz mitten in diesem Urwald an Waren haben soll, und dieser Sinn kann ohne jeden Zweifel nur in der gesellschaftlichen Dimension bestehen. Es wird zentral, dass die einzelnen Menschen als Person und Persönlichkeit anerkannt werden, dass sie in ihrem Tun, aber auch in ihrem Nichtstun respektiert werden. Dies setzt wiederum voraus, dass sie durch verschiedene Sozialisierungs- und Ausbildungsmaßnahmen überhaupt in die Lage versetzt werden, eine Individualität zu entwickeln und ein eigenes, persönliches Tun zu entfalten. Dass an diesen Komplex unzählige Fragen geknüpft sind, die im Lauf der Zeit und in der Praxis zu beantworten sind, versteht sich von selber.



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Albert Jörimann
31.12.2019

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